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Ästhetischer Katalog der Vergangenheit – Zeug:innenschaft und Zeitgeschichte bei Henrike Naumann
Lena Götzinger & Benno Hauswaldt im Gespräch
mit Henrike Naumann

Henrike Naumann - Triangular Stories, © Stefan Haehnel 2012.jpg

 

Henrike Naumann, Triangular Stories © Stefan Haehnel, 2012

Henrike Naumann, Triangular Stories © Stefan Haehnel, 2012

 

Henrike Naumann, Triangular Stories © Stefan Haehnel, 2012

 Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg  © Monika Runge, 2021

Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg

© Monika Runge, 2021

​​  Henrike Naumann, Tag X aus der Ausstellung Innere Sicherheit im Bundestag.  © Sebastian Eggler, 2024

Henrike Naumann, Tag X aus der Ausstellung Innere Sicherheit im Bundestag.

© Sebastian Eggler, 2024

Ich habe mich immer für Zeitgeschichte interessiert, also für den Teil der Geschichte, zu dem man noch Zeitzeugen befragen kann. Indem ich mit verschiedenen Menschen spreche, ergibt sich nicht eine große Erzählung, sondern es entstehen viele unterschiedliche Bilder des gleichen Moments. Diese vielleicht auch wider-sprüchlichen Erzählungen einer gerade erst vergangenen Geschichte sind das, was mich interessiert, und das, wonach ich suche“, sagt Henrike Naumann über ihre künstlerische Auseinandersetzung mit historischen Inhalten. Die Künstlerin, die über das Theater zur Kunst gekommen ist, arbeitet mit gefundenen Objekten, Gegenständen, Interieur und Szenografie, um sich in dokumentarischen Formen mit Geschichte auseinanderzusetzen.

Sie selbst wuchs in Zwickau auf und stellte sich früh die Frage: „Was bedeutet es, aus einer Stadt zu kommen, wo Terroristen im Untergrund gelebt haben, während sie Morde begingen? Und was bedeutet es zukünftig, in diese Stadt zu fahren und zu wissen, dass die Unterstützer alle noch da sind? Diese Auseinander-setzung mit der jüngsten Vergangenheit war für mich wichtig, um die Gegenwart aushalten zu können, aber auch, um mir eine Zukunft wieder vorstellen zu können. So war es beispielsweise auch bei meiner Diplomarbeit zum NSU-Komplex. Ich habe an dem Tag, an dem Beate Zschäpe das Haus, in dem ihre Wohnung lag, anzündete, angefangen, an dem Projekt zu arbeiten“, berichtet Naumann. Für die Arbeit mit dem Titel Triangular Stories bildete sie Zschäpes Wohnzimmer nach und erinnert sich:

„Dafür wollte ich alles genau dokumentieren und so abbilden, wie es war. Im Prozess und als die Installation fertig war, habe ich aber gesehen, dass es trotzdem immer eine künstlerische Interpretation ist und dass das auch okay ist. Also dass ich die Realität nicht verkläre, sondern jede Geste eigentlich schon eine Interpretation ist und bleiben wird.“ Damals sei ihr klar geworden, dass fiktionale und dokumentarische Elemente zusammenhängen: Wenn sie gefundene Objekte, die eine Beziehung zum Dokumentarischen innehaben, verändert oder kombiniert, entsteht gleichzeitig etwas Eigenes – und dadurch wird auch Geschichte interpretiert. In Naumanns Augen bilden sich so neue Formen der kritischen Aufarbeitung von Vergangenheit und Erinnerung heraus.

 

„Es geht mir darum, eine Sprache zu entwickeln, die nicht verbal, sondern über Objekte funktioniert, mit denen ich Themen anders adressieren kann. Für jede Arbeit erstelle ich eine Art Formen-lexikon oder Alphabet bestimmter Farben, Oberflächen und Materialien, die für mich auf den spezifischen Kontext, beispielsweise Interior Design im Dritten Reich, verweisen. Ich habe dann einen ästhetischen Katalog, nach dem ich Objekte sammle und sie im Raum zu einer Arbeit zusammensetze. Alltagsobjekte und auch Möbel, die häufig einfach übrig waren und auf der Straße standen, waren für mich dabei von Anfang an wichtige Artefakte, anhand derer ich über unsere Gesellschaft sprechen kann. Ich habe sie immer schon als Objekte ernst genommen, die Träger von politischen Erinnerungen oder Botschaften sind. Durch diese Gegenstände lassen sich auch Themen näherbringen, die sonst nicht in unserem Alltag statt-finden, etwa Einblicke in die Reichsbürgerbewegung oder Prozesse der Radikalisierung“, schildert die Künstlerin. So werden Rezipierende einbezogen, die über den Umweg des Ästhetischen an politische Fragestellungen herangeführt und dazu aufgefordert werden, eigene Verantwortung zu hinterfragen.

Durch die Nahbarkeit der Alltagsgegenstände wird es für die Betrachtenden einerseits einfacher, eine Beziehung zum Objekt aufzubauen, und andererseits schwieriger, sich zu distanzieren und abzugrenzen. Die Installationen zielen nicht direkt darauf ab, ihnen etwas zu vermitteln oder zu erklären, sondern versuchen, sie von ihrer Rolle als passive, nicht involvierte Betrachtende wegzu-bewegen – hin zu einer Involviertheit, die erkennt, dass man Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, und die bestrebt ist, die Distanz zwischen Kunstwerk und Rezipient:in abzubauen.

 

Im Laufe ihrer Beschäftigung mit historischen Inhalten vergrößerte sich die zeitliche Distanz zu den von ihr gewählten Themen immer mehr. Um zu verstehen, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart wirkt, hat Henrike Naumann sich immer weiter in der Geschichte zurück-bewegt und die jeweilige Zeitebene als Portal in eine vorausgehende genutzt.

„Je weiter man zurückgeht, desto nebliger wird es, desto mehr Interpretation findet statt. Angefangen bei meiner Arbeit zum NSU, musste ich die Neunziger verstehen, um zu begreifen, wie wir im Jahr 2011 gelandet sind. Danach habe ich bemerkt, dass ich mich mit der DDR auseinandersetzen muss, um zu erkennen, worauf die Neunziger aufbauen. Daraus folgte die Beschäftigung mit der BRD und dem, was dort in der Nachkriegszeit parallel passierte, dann der Rückgriff auf die NS-Zeit, um zu verstehen, wie DDR und BRD als Nachfolgestaaten funktionierten.

Von da an ging es immer weiter zurück in Zeitebenen, von denen ich dachte, dass ich niemals etwas dazu machen könnte, weil ich niemanden dazu befragen kann. Aber dann wird es eigentlich erst spannend. In meiner Arbeit Ostalgie, die gerade in Harvard zu sehen ist, habe ich mich mit der Steinzeit beschäftigt, über den Blick auf die DDR und BRD in den Neunzigerjahren. Dafür habe ich mir angeschaut, wie das Schulmaterial in der DDR und die Serie Flintstones in den USA die Steinzeit unterschiedlich verhandeln.

Sie ist wahrscheinlich das extremste Beispiel für eine Zeitebene, zu der man niemanden mehr befragen kann. Das ist dann totale Interpretation. Und so zeigt sich auch, wie sehr Geschichte und Geschichtsschreibung konstruiert und politisch genutzt werden. So lässt sich beispielsweise aus der DDR-Vorstellung der Steinzeit die marxistisch-leninistische Gesellschaftsordnung erklären.

Wenn man sie aus einer Gender-Perspektive betrachtet, wird die Steinzeit dafür genutzt, um anhand von ihr Rollenverteilungen abzulesen, die uns zeigen, wie wir heute natürlicherweise leben sollten. Dadurch wird ersichtlich, wie sehr die frühe Geschichte Interpretationsmasse ist und welch große Rolle die Fiktion dabei spielt.“ 2021 realisierte Naumann eine Arbeit im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg über die Wehrsportgruppen in den Achtzigern. „Das Germanische Nationalmuseum ist ja so ein Monstermuseum, das von der Steinzeit bis heute alles abdecken will. Aber interessanterweise endet die Sammlung in den Achtziger-jahren, als es gebaut wurde. Das heißt, die Gegenwart endet hier in den Achtzigern. Ich fand es spannend zu schauen, was seitdem in Nürnberg passiert ist und wie ich die Sammlung erweitern könnte, mit speziellem Fokus auf die ganzen unerzählten Geschichten von Rechtsterrorismus in Franken und Bayern.“ Dafür beschäftigte sich Naumann mit dem Oktoberfest-Attentat vom 26. September 1980 und der Tatsache, dass Handfragmente als wichtige Beweismittel im Laufe der Ermittlungen verschwanden und bis heute ungeklärt ist, ob es sich wirklich um einen Einzeltäter gehandelt hat.

„Diese verlorene Hand habe ich dann mit Dürers Händen in Verbindung gebracht, die natürlich auch einen Nürnberg-Bezug haben. Über eBayKleinanzeigen sammelte ich viele Wandteppiche, Drucke, Reliefs und Skulpturen, die Dürers Hände abbilden.“

Ein Bild, das so fest im kollektiven Gedächtnis präsent ist, bekommt so eine neue politische Bedeutungsebene. „Ich nutze hier eigentlich etwas, das so alltäglich oder auch schon abgegriffen ist, dass man es gar nicht mehr richtig sieht, um etwas Neues zu erzählen oder eine ungewohnte Verbindung zu einer politischen Geschichte herzustellen. Das ist eigentlich das, was mich am meisten reizt.“ Hier tangiert die Künstlerin oft politische Themen, die „unattraktiv“ sind und häufig nicht auf Anhieb ernst genommen werden. So beschäftigte sich Naumann seit 2013 mit der Reichsbürgerbewegung – in einer Zeit, in der es schwierig war, dafür Interesse zu schaffen. „Wenn ich gesagt habe, ich will eine Arbeit dazu machen, war das immer irgendwie so nischig und randständig und auch irgendwie witzig.“ [Bild 4]Naumann ist überzeugt, dass trotz einer vermeintlichen Komik, die das Thema und die Ästhetik innehaben, die Reichsbürger ernst zu nehmen sind. Ebenso gefährlich sei es, eine Bewegung zu verharmlosen, nur weil sie an UFOs und andere absurde Mythologien glaubt.

„Wie kann ich als Künstlerin für eine Übersetzungsleistung sorgen, die vermittelt, wie ernst das ist, dass das real existiert und passiert und dass das auch uns alle betreffen wird?“ Während ein Ernst-nehmen für Henrike Naumann bei der Auswahl und der Behandlung ihrer Themen und Materialien wichtig ist, ist es ebenso relevant für sie, unterschiedliche Rezipierende abzuholen. Dass es eine Zugänglichkeit gibt, die unabhängig davon ist, inwieweit man kunstaffin ist, und die verschiedene Lesarten und Assoziationen zulässt.

Damit ist nicht gemeint, dass die Lesart grundlegend ambivalent ist, sondern dass die Arbeiten einladen mitzudiskutieren, auch ohne dass man weitreichendes Vorwissen mitbringen muss. „Also eigentlich war auch mein Weg zur Kunst über Theater und Film ein Suchen nach einem Ort, wo eine aktive Auseinandersetzung stattfinden kann. Indem man nicht in einem dunklen Zuschauer-raum sitzt und sich nur etwas ansieht, sondern indem man wirklich aktiv Teil von einem Raumgefüge ist, in dem es hell ist, in dem man mit drin ist, in dem man auch mit agiert und wo ein Ort geschaffen werden kann, an dem Gespräche möglich sind, die sonst gesellschaftlich nicht stattfinden würden.“

Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau (DDR) geboren und reflektiert gesellschaftspolitische Probleme auf der Ebene von Design und Interieur und erkundet das Reibungsverhältnis entgegengesetzter politischer Meinungen im Umgang mit Geschmack und persönlicher Alltagsästhetik.

Henrike Naumann ist Stipendiatin des Berliner Programm Künstlerische Forschung 2024/25.

https://henrikenaumann.com/

Lena Götzinger, geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.

Benno Hauswaldt, geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. 

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