Kunstvermittlung als künstlerische Praxis
Art mediation as an artistic practice
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- „… this has nothing to do with art …”
Araba Evelyn Johnston-Arthur Iss ue 4│ Machtverhalten 1 Anker 1 „… this has nothing to do with art …” Notizen zu counter-amnesischen Praktiken und der Kunst der Kritik (Refugee Protest Camp Vienna-Bewegung) Araba Evelyn Johnston-Arthur Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 „I am interested in the, performativity' of memory. I am thinking about the quotidian of trauma alongside of the restoration and Magic of water cycles. partnering with my meditation on healing, dance and media as a physical tap into embodying memory.” Nia Love, gl(host): underCURRENT[1 ] „‚Glücklich ist wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.‘ Man könnte dies als die heimliche Hymne des Österreichers bezeichnen. Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren: nur Bewusstes kann verändert werden. Unbewusstes natürlich nicht.” Erwin Ringel, 1995. Die österreichische Seele: Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion, S 13 „Was man in einer Gesellschaft nicht wissen darf, weil es die Ausübung von Macht stört, muss unbewusst gemacht werden. […] Diese Produktion von Unbewusstsein muss gesellschaftlich organisiert werden, und der Ort, wo sie stattfindet, ist nicht so sehr die Familie, als jene Institutionen, die das öffentliche Leben regulieren.“ Mario Erdheim, 1982. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, S 38 „[…] die zwanghafte ewige Wiederholung der ersten Begegnung mit dem Fremden, ist ein Prozess, den ich als ,Rassismusamnesie‘ bezeichnet habe, die anhaltende Dialektik von rassistischer moralischer Panik und der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen (vgl. El-Tayeb 2015). In diesem aktiven Prozess des Vergessens werden Ereignisse und Bewegungen bedeutungslos gemacht, indem sie als vereinzelte Phänomene klassifiziert werden – ohne Kontext, ohne Ursache und Wirkung, kurz: ohne Bezug und damit ohne Ort im kollektiven Gedächtnis.“ Fatima El-Tayeb, 2016. Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der post-migrantischen Gesellschaft, S 15 „Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ Michel Foucault, 1992, Was ist Kritik?, S 15 „,You are only focusing on just leave […] We are … I told you we are going to leave […] It doesn’t mean… we are the refugees we are garbage […] We are ready we are going to leave […] for the human rights we are disappointed […] we had a lot of expectations … maybe you give … one … statement to the minister of interior what’s wrong with these people why are they here, what is the problem. You just focusing: empty this building, empty church, empty Kloster, empty Austria … for fucking refugees, they are not deserv[ing] to live here in this country.’” Einer der hier bewusst anonym gehaltenen Aktivisten des Refugee Protest Camp Vienna bei der Konfrontation mit dem Ultimatum der Rektorin der Akademie der bildenden Künste. Meine Videotranskription aus: Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 „The animation of thought by those who have their humanity questioned presents an ontological scandal.” Tendayi Sithole, 2020. The Black Register, S 1 Während vom Gebäude der Akademie der bildenden Künste Wien am Schillerplatz deutlich zu lesen noch immer das Transparent: „Stop Deportations!“ hing, stellte die damalige Rektorin Eva Blimlinger den Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna in der Aula der Akademie ein Ultimatum. Nach der polizeilichen Räumung des zeltlichen Refugee Protest Camp im Sigmund- Freud-Park im Dezember 2012, einem Hungerstreik in der gegenüberliegenden Votivkirche, der Verlegung des Protestes in das Servitenkloster, Abschiebungen und Festnahmen wegen des Verdachts der Schlepperei, begleitet von einer Kriminalisierungskampagne, hatten die Aktivist:innen der Bewegung im Oktober 2013 schließlich ihre Hoffnung in die praktische Solidarität der Akademie der bildenden Künste gesetzt. Am 29. Oktober nahmen Refugeeaktivist:innen den Raum der Aula ein. Passenderweise im Anschluss an die in der Akademie veranstalteten Diskussionsveranstaltung „Art, Activism, Academy“. In seinem zur Zeit dieser Akademieeinnahme entstandenen kurzen Text „Wie wird die Akademie der bildenden Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen?“[2 ] kommentiert der Archivar des Archivs der Migration Ljubomir Bratić (2013) diesen kritischen historischen Moment in der (vielfach noch zu schreibenden) marginalisierten widerständigen Bewegungsgeschichte Österreichs folgendermaßen: „Ein neuer Raum ist eingenommen und dieser scheint auch gehalten zu werden. Die Einnahme erfolgte durch diejenigen, die als Gruppe per definitionem in unseren Gesellschaften kein Recht auf Raum (egal welchen!) haben. Darum haben sie den Raum, der ihnen aus ihrer Position agierend, zugänglich ist, eigensinnig betreten. Ist dann die Tatsache zufällig, dass sie zuerst eine Kirche und derzeit eine Akademie, zwei sakrale Institutionen – eine der vergangenen Zeiten und [sic!] zweite der moderne – einnahmen? […] Und nun gerade die Akademie der bildenden Künste. Warum die Akademie? [….] Weil dieser Ort als einer der Freiheit gilt. […] KUNST IST FREI!“ „Doch wie“, fragt sich Bratić hier weiter, „steht es mit der Freiheit von Individuen und zwar ganz bestimmten Individuen und Gruppen von Menschen, in unserem Fall von denjenigen, die gezwungenermaßen außerhalb des Kunstfeldes stehen? Das, scheint mir war nie ein breit diskutiertes Thema an dieser Akademie. Vor allem nie eines, das auch zur Konkretisierung der Taten geführt hätte. Mehr noch, es meldet sich derzeit ein starker Zweifel, ob Kunst nicht gerade auf die Rechnung von denjenigen, die eben nicht frei und vor allem nicht gleich sind, ihre Freiheit und Größe in der Öffentlichkeit proklamieren und zelebrieren darf. Wie wird die Akademie der Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen? Mit den Überzähligen, die aus einer in einem rassistischem [sic!] System unmöglichen Position ihre Teilhabe aufbegehren, oder gegen Sie [sic!], als Teil eines breiten polizeylichen Systems, in dem die Akademie die Entfernung der Begehrenden eigenverantwortlich einschaltet. Das ist jetzt der Scheideweg!“ (Bratić 2013) Mit dem Ultimatum, das auf den sofortigen Auszug der Refugeeaktivist:innen pochte, entschied sich die Akademie für Letzteres, das heißt: den Rausschmiss derjenigen, die die hegemoniale Ordnung der Dinge stören und aus einer in einem neokolonialen Migrationsregime unmöglich gemachten Position heraus notwendigerweise aufbegehren. Der November 2013 kann also in vielerlei Hinsicht als folgenschwer erachtet werden, auch für den konkreten Fortbestand der kollektiven, selbst organisierten Protestbewegung des Refugee Protest Camp Vienna. Der Forderung der Rektorin folgend, räumten die Refugeeaktivist:innen die Aula der Akademie der bildenden Künste und zogen nach etwa einer Woche aus. Ungefähr ein Jahr zuvor, am 24. November 2012, hatten sich Refugeeaktivist:innen aus der wohl größten Erstaufnahmestelle für „Asylweber:innen“ in Österreich, dem Flüchtlingslager Traiskirchen, zu einem über 20 Kilometer langen Protestfußmarsch nach Wien aufgemacht. Während das Refugee Protest Camp Vienna hier seinen Anfang fand, stellte der Rausschmiss aus der Akademie („You are focusing on just leave“) ein Ende der kollektiven Raumeinnahme dar. Diese war eine für die selbstbestimmte Sprache der Bewegung zentrale Protestgrammatik. Die Kämpfe jener, deren Existenzen illegalisiert und kriminalisiert werden, jener, die (in Karl Marx’ Sinne)[3 ] als un(selbst)repräsentierbar gelten, jener, die als politische Subjekte undenkbar gemacht werden, für das (in Hannah Arendts Sinne) grundlegende Recht, überhaupt Rechte zu haben, rütteln an Fundamenten des neokolonialen Migrationsregimes. Angela Davis (2015) brachte die fundamentale Bedeutung dieser fortlaufenden Kämpfe im Mai 2015 bei ihrem Solidaritätsbesuch der Refugeeaktivist:innen, die die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg besetzt hatten, folgendermaßen zum Ausdruck: „The refugee movement is the movement of the 21st century. It's the movement that is challenging the effects of global capitalism. It's the movement that is calling for civil rights for all human beings.” Für Sylvia Wynter (2003: 261) stellen jene „refugee/economic migrants stranded outside the gates of the rich countries” neben „the criminalized majority Black and dark-skinned Latino inner-city males now made to man the rapidly expanding prison-industrial complex, together with their female peers – the kicked-about Welfare Moms – with both being part of the ever-expanding global, transracial category of the homeless/the jobless, the semi-jobless, the criminalized drug-offending prison population” heute die post- bzw. neokoloniale Übersetzung von Frantz Fanons Kategorie der kolonisierten „Verdammten dieser Erde“[4 ] des 21. Jahrhunderts dar. Der Übertitel meiner Notizen: “… this has nothing to do with art …” ist ein aus dem Zusammenhang der eingangs beschriebenen Ultimatumszene mit den Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna gerissener Satzfetzen der Rektorin. Ihm stelle ich mit Michel Foucault – Kritik als Kunst der machtkritischen Praxis der Entunterwerfung betrachtend – die Frage entgegen: „What if this has everything to do with art?” Kann die in der Ultimatumszene zitierte Kritik eines Aktivisten des Refugee Protest Camp Vienna („You just focusing: empty this building…“) exemplarisch für eine radikale Kunst der Kritik gelesen werden, die letztlich den Rahmen institutioneller Kritik sprengt, weil sie keinen Raum haben darf? Stellt nicht mit Tendayi Sithole (2020: 1) sprechend „die Animation der Gedanken derjenigen, deren Menschsein in Frage gestellt wird einen ontologischen Skandal dar“? Einen das „hegemoniale script“ so sehr flippenden Skandal, dass es ihn (den Skandal) in Erwin Erdheims und Erwin Ringels Sinne zu verdrängen und unbewusst zu machen gilt: damit der institutionelle Status quo unveränderbar bleibt, mit sich selbst glücklich ist und bleibt. Wie werden hegemoniale Machtverhältnisse durch den Rausschmiss von radikalen Interventionen, Kritiken und Widerständen aus dem (in El-Tayebs Sinne) Ort des kollektiven Gedächtnisses reproduziert? Aspekten von Lisa Yoneyamas Konzept der „counter-amnes(t)ic practices” folgend, stellen meine Überlegungen hier einen Versuch einer counter-amnesischen Praxis dar. Einer Praxis des kritischen Erinnerns, die, wie Yoneyama (2003: 61) es beschreibt, „become[s] urgently relevant to present efforts that seek social and cultural transformations.” Die im Kontext der Gewalt des rassifizierten Kapitalismus systematisch zu problematisierten Anderen Krisenobjekten (Stichwort unter vielen: „Flüchtlingskrise“) Gemachten brechen aus, organisieren sich selbst, sprechen als politische Subjekte zurück, üben Kritik, protestieren, fordern nicht Hilfe, sondern jenseits von plakativen Deklarationen praktische Solidarität ein. Mit dem (in Bratić’ Sinne) eigensinnigen Akt der Einnahme des öffentlichen Raumes und der radikalen Verkörperung des Streiks durch Hungern fand die Refugee Protest Camp Vienna-Bewegung eine Protest- und Widerstandssprache, die eine Auseinandersetzung mit marginalisierter, systemischer Kritik erzwang. Diese Widerstandssprache ist die einer größeren Sans-Papiers-Bewegung, die sich lautstark innerhalb der Festung Europas Räume radikaler Kritik erkämpft hat and weiterhin erkämpft. In Wien waren und sind diese Räume etwa die Straßen, die vom Flüchtlingslager Traiskirchen zum Sigmund-Freud-Park führen (während des kollektiven Protestmarsches), der Sigmund-Freud-Park selbst (mit der Errichtung eines Protestzeltlagers), die Votivkirche, das Servitenkloster und die Aula der Akademie der bildenden Künste Wien (mit deren Einnahme).Trotz polizeilicher Räumung und Rauschmiss haben sich die Kritiken in die multiplen (verdrängten) historischen Gegenwarten dieser Orte eingeschrieben und diese Räume verändert: Hier macht der Sigmund-Freud Park der von Erwin Ringel (2005: 13) als Verdrängungsgesellschaft beschriebenen österreichischen Gesellschaft nicht zuletzt mit der dort 1985 von der Stadt Wien errichtete Parkbenennungstafel alle Ehre. Als „Erinnerungszeichen“ fungierend verdrängt die Tafel die Tatsache, dass Sigmund Freud und seine Familie während des Naziterrorregimes ins Exil gedrängt wurden, um der Naziverfolgung zu entgehen.[5 ] Zum Ende meiner Notizen springend erinnert Bratić‘ Sinn für Eigensinnigkeit mich auch an verdrängte Dimensionen des ontologischen Skandals der Eigensinnigkeit (im Sinne von Sense of Self angesichts der objektisierenden Gewalt des Othering) von Josephine Soliman. Nach dem Tod des Vaters von Josephine Soliman am 21. November 1796 wurde hän[6 ] hänen[7 ] Menschlichkeit beraubt, zu einem exotischen Objekt reduziert und hänen[8 ] präparierten Leichenbruchstücke (später) gemeinsam mit denen von drei anderen schwarzen Menschen – einem kleinen Mädchen, dessen Namen als unbekannt gilt, Pietro Michaele Angiola und Joseph Hammer – im k. k. Hof- und Naturalienkabinett öffentlich zur Schau gestellt. Josephine Soliman protestierte dagegen, kämpfte für die Rückgabe der Leichenbruchstücke hänen[9 ] Vaters und damit für das grundlegende Recht, hän[10 ] begraben zu können. In diesem Sinne eigen-sinnig, schließe ich mit Jin Haritaworns (2008: 9) Gedanken: „,Eigen-Sinn’. Literally translated as ,sense of self’, its composite means ,stubbornness’ or ,unruliness’. This evokes what is at stake in inventing ourselves from the ashes of multiple, and repeated, onslaughts of pathologisation.” Araba Evelyn Johnston-Arthur ist Mitbegründerin von Pamoja. Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora und der Recherchegruppe zu Schwarzer österreichischer Geschichte. Ihre transdisziplinäre Arbeit beschäftigt sich mit intersektional widerständigen diasporischen Politiken und the “decolonizing art of mattering (embodied) memories“. Sie unterrichtet derzeit an der Howard University in Washington DC. Literatur Baumgartinger, Persson Perry, 2007. queeropedia. Wien: Referat für Homobitrans-Angelegenheiten, Österreichische HochschülerInnenschaft an der Universität Wien Bratić, Ljubomir, 2013. Wird die Akademie der bildenden Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen? Aula der Akademie der bildenden Künste Wien zur Zeit der Einnahme der durch Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna: Aktivistische Wandpresse Davis, Angela, 2015. The Refugee Movement: News from Inside https://oplatz.net/oplatzbox-the-refugee-movement-is-the-movement-of-the-21st-century/ (Zugriff: 22.01.2023) El-Tayeb, Fatima, 2016. Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der post-migrantischen Gesellschaft. Münster: Unrast Erdheim, Mario, 1982. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Fanon, Frantz, 1974. Die Verdammten dieser Erde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Foucault, Michel, 1992. Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag Haritaworn, Jin, 2008. Shifting Positionalities: Empirical Reflections on a Queer/Trans of Colour Methodology. Goldsmiths College Sociological Research Online 13(1)1. http://www.socresonline.org.uk/13/1/13.html (Zugriff: 20.12.2022) Love, Nia. gl(host): underCURRENTS. https://www.nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 20.12.2022 Marx, Karl, 1907. The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte. Chicago: Charles H. Kerr& Company. Ringel, Erwin, 2005. Die österreichische Seele. Wien: Buchverlage Kremayr&Scheriau/Orac Sithole, Tendayi, 2020. The Black Register. Cambridge: Polity Press Wynter, Sylvia. Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation—An Argument. In: The New Centennial Review, Volume 3, Number 3, Fall 2003. S. 257–337 Yoneyama, Lisa, 2003. Traveling Memories, Contagious Justice. JAAS 6, no. 1. S. 57–93 Endnoten [1] https://www.nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 20.12.2022 [2] Bratić‘ Text wurde neben anderen Texten während der Einnahme der Aula der Akademie der bildenden Künste Wien durch den Refugee Protest Camp Vienna an die Wände der Akademie plakatiert. [3] Siehe Marx. (1907:71): “The can not represent one another, the must themselves be represented.” [4] Bezugnehmend auf Frantz Fanon’s einflussreiches im französischen Original 1961 erschienenes Buch: Die Verdammten dieser Erde. [5] vgl. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Parkbenennungstafel_Sigmund_Freud (Zugriff: 20.01.2023) [6] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das deutsche männlich zugeordnete „er“. Es stellt einen Teil des Versuchs dar, (für mich neue) Praktiken der Auseinandersetzung mit dem Verlernen eigener verinnerlichter, heteronormativer Logiken zu entwickeln. Das heißt, hier sprachlich die Geschlechtsidentitäten von Josephine und Angelo Soliman nicht zu fixieren und offen zu lassen. Um mit Persson Perry Baumgartinger (2007: 58) (unter vielen anderen Mitbegründer von Queeropedia und von diskursiv - Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge) zu sprechen, geht es darum: „Sprache aus der Zweigeschlechtlichkeit zu befreien. Es gibt sehr viele phantasievolle, oft sehr unterschiedliche Ideen, Realisierungen, Widerstände gegen eine Sprache, die nur Männer und Frauen kennt.“ Auf dahingehend schon erkämpfte und kreierte vielseitige Sprachpraktiken Bezug nehmend, habe ich mich aufgrund meiner Vertrautheit mit der finnischen Sprache für die Form hän entschieden. Im Finnischen ist „[…] hän allgemein das Pronomen für Personen […] (im Finnischen gibt es keine grammatischen Geschlechter).“ vgl. https://geschlechtsneutral.net/pronomen/ (Zugriff: 20.01.2023) [7] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „seiner“. [8] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „seine“. [9] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) weiblich zugeordnete binäre „ihres“. [10] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „ihn“. Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10
- appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst | Kunstvermittlung
appropriate! Kritische Vermittlung, Soziale Praxis und Theoriebildung Issue 6 ISSUE 6 | Antifaschismus | 2025 Download (coming soon) Editorial DE EN Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn ISSUE 6: ANTIFASCHISMUS IF YOU WANT TO FIGHT FASCISM YOU NEED TO STOP FINDING IT EVERYWHERE Gastbeitrag Dmitry Vilensky Gastbeitrag DE Elena Korowin VIRAL GEHEN UND VERGEHEN ÄSTHETISCHER KATALOG DER VERGANGENHEIT Interview mit Henrike Naumann DE Lena Götzinger & Benno Hauswaldt DAS MITEINANDER IN ZEITEN DER POLARISIERUNG Interview mit Saba-Nur Cheema DE Lena Götzinger PARTIZIPATION UND AGONISMUS Interview mit Markus Miessen DE Benno Hauswaldt SPRACHE IST MÄCHTIG. UND MACHT BEDEUTET VERANTWORTUNG Buchrezension DE Nastasia Schmidt DEFEKTE DEBATTEN & EIN PIEFKE IN WIEN Buchrezension DE Moriz Hertel MODULARE SKULPTUR FÜR DEMOKRATIE UND GEGEN FASCHISMUS Projekt DE Daphne Schüttkemper FOSSILIS – DURCH GRABEN GEWONNEN Projekt DE Linn Bergmann Issue 5 ISSUE 5 | Klimanotstand | 2024 Download (coming soon) DE DE ISSUE 5: KLIMANOTSTAND Editorial Lena Götzinger, Martin Krenn NATUR ALS VERSPRECHEN Gastbeitrag Ursula Ströbele GRÜNE INSTITUTION Interview mit Christoph Platz-Gallus DE Hye Hyun Kim, Paul-Can Atlama FAREWELL TO WETLAND Interview mit Rita Macedo EN Genady Arkhipau ÜBER KUNST UND KLIMAAKTIVISMUS Interview mit Oliver Ressler DE Lena Götzinger WAS HABEN ÄPFEL MIT KUNST UND DEM KLIMAWANDEL ZU TUN? Interview mit Antje Majewski DE Selin Aksu, Anika Ammermann, Jonna Baumann EIN PLÄDOYER FÜR FIKTION ROADSIDE PICNICS LITHUANIAN INSTALLATION SHEDS LIGHT ON ECOLOGICAL WARFARE IN UKRAINE Gastbeitrag DE Pinar Doğantekin Buchrezension DE Benno Hauswaldt KANN KUNST DEMOKRATISCHE RÄUME SCHAFFEN? Buchrezension DE Sarah Hegenbart EIN KUNSTPROJEKT UNTERSUCHT DEN AKTUELLEN ZUSTAND DER DEMOKRATIE Buchrezension DE Anna Maria Niemann VON "NATUR" UND "KULTUR" Projekt DE Sam Evans Issue 4 ISSUE 4 | Machtverhalten | 2022/23 Download (coming soon) ISSUE 4: MACHTVERHALTEN Editorial DE Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis DOCUMENTA FIFTEEN: AN ATTEMPT OF RESTRUCTURING POWER RELATIONS Interview mit Dan Perjovschi DE Lena Götzinger, Mahlet Wolde Georgis FREUNSCHAFT ODER DIENSTLEISTUNG? DIE SOBAT-SOBAT DER DOCUMENTA 15 Interview mit Nick Schamborski DE Anna Darmstädter, Julika Teubert KUNSTAWARDS IM MACHTGEFÜGE Gastbeitrag DE Johanna Franke, Katrin Hassler Gastbeitrag DE YOUR RELATIONS ARE OF POWER Gastbeitrag DE Lennart Koch, Esra von Kornatzki WISSEN DEKOLONISIEREN Isabel Raabe KUNSTVERMITTLUNG IN DER PRAXIS Buchrezension DE Maja Zipf EVER BEEN FRIENDZONED BY AN INSTITUTION? Buchrezension DE Julika Teubert GREIFBARKEITEN – GEDANKEN ZU RITUALEN IN KUNST & VERMITTLUNG Projekt DE Nicola Feuerhahn " THIS HAS NOTHING TO DO WITH ART " Gastbeitrag DE Araba Evelyn Johnston-Arthur Issue 3 ISSUE 3 | Vermittlung | 2022 Download (coming soon) ISSUE 3: VERMITTLUNG Editorial DE Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert ZWISCHEN POLITISCHER & KULTURELLER BILDUNG Interview mit Linda Kelch DE Daphne Schüttkemper und Julika Teubert ÜBER DIE SINNLICHKEIT GEBROCHENER WESEN Gastbeitrag DE Lynhan Balatbat-Helbock WIR WERDEN DICHTER:INNEN Gastbeitrag DE Quan Xiao, Ye Xu WIDERSPRÜCHE WIRKEN LASSEN Gastbeitrag DE Nora Sternfeld WURM & LANGEWEILE Gastbeitrag DE Karin Schneider THINKING OUTSIDE THE WHITE CUBE Projekt DE Dani-Lou Voigt NIGHT AUDITION Projekt DE Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann Issue 2 ISSUE 2 | Demokratisierung | 2021 Download (coming soon) ISSUE 2: DEMOKRATISIERUNG DE Editorial Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert IDENTITÄTSPOLITIKEN Interview mit Lea Susemichel & Jens Kastner DE Daphne Schüttkemper, Nano Bramkamp, Jonna Baumann QUEER ACTIVISM IN POLAND'S SPLIT SOCIETY Interview mit Bożna Wydrowska DE Pinar Dogantekin VIDEO, QUIZ UND TANZ... Gastbeitrag DE Nanna Lüth ARBEITSBEDINGUNGEN VERBESSERN? ABER WIE!... Gastbeitrag DE Mirl Redmann MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN Buchrezension DE Julika Teubert BRICKING THROUGH Projekt DE Cedric Gehrke, Constantin Heller, Sarai Meyron, Lily Pellaud and Essi Pellikka PLATZ_NEHMEN Projekt DE Andreas Baumgartner, Martin Krenn, Paula Andrea Knust Rosales Issue 1 ISSUE 1 | Zugänglichkeit | 2021 Download (coming soon) ISSUE 1: ZUGÄNGLICHKEIT Editorial DE Martin Krenn, Julika Teubert PLATZprojekt HANNOVER Interview mit Jeanne-Marie CC Varain DE Anna Darmstädter, Julika Teubert SPRENGEL MUSEUM HANNOVER Interview mit Gabriele Sand DE Anna Miethe, Jana Roprecht KUNSTVERMITTLUNG & KÜNSTLERISCHE PRAXIS Interview mit Sebastian Bartel DE Marius Raatz, Claas Busche ACCESS ALL AREAS ODER DIGITAL DIVIDE? Gastbeitrag DE Steffen Rudolph ACCESSIBILITY, ACCESS & AFFORDANCE Gastbeitrag von Suzana Milevska EN Suzana Milevska „… WARUM LIEGT DIE DENN DA? …“ Gastbeitrag DE Eva Sturm VERMITTLUNG VERMITTELN Buchrezension DE Martin Krenn KRITISCH IM NETZ Interview mit Gabriele Sand DE Nick Schamborski DISCOVER(ING) YOUR HYBRID-FORM Gastbeitrag DE Franziska Peschel
- Kunstawards im Machtgefüge – Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft | Issue 4 | appropriate!
Johanna Franke, Katrin Hassler Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstawards im Machtgefüge – Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft Johanna Franke, Katrin Hassler Geographische Herkunft der Preisträger:innen nach Region und Geschlecht (Quelle: Franke, Johanna, 2022, Abbildung 5) Herkunftsländer der Preisträger:innen seit 2006 (Quelle: Franke, Johanna, 2022, Abbildung 6) „Girls run the world. That’s arguably especially true in the art world“. [1 ] Dieses Zitat des Kunstkritikers Brian Boucher ist eine gewagte These. Denn die Aussage steht im Widerspruch zu zahlreichen Aktivismen, die auf die persistenten Geschlechterasymmetrien im Kunstfeld aufmerksam machen – „Art and Feminism“, „Feminist Art Coalition“ oder auch „Mehr Mütter für die Kunst“ [2 ], um nur einige zu nennen. Boucher beruft sich hier auf die große Anzahl mächtiger und einflussreicher Kunstberaterinnen, Spezialistinnen in Auktionshäusern und Galeristinnen, die im internationalen Feld agieren [3 ]; wenngleich die Betitelung professioneller Kunstakteurinnen mit „Mädchen“ von einem eher geringen gendertheoretischen Reflexionsvermögen zeugt. Diskussionen um geschlechtsabhängige Machtverhältnisse im Kunstfeld erlangten in den vergangenen Jahren regelmäßig Aufmerksamkeit, in den Wissenschaften wie in den populären Medien gleichermaßen. Im Art Basel Report ist die Analyse von Geschlechterdifferenzen auf dem Kunstmarkt seit mehreren Jahren fester Bestandteil. [4 ] Bereits in den 1970er-Jahren diskutierte Linda Nochlin Machtstrukturen im Kunstfeld anhand von Genderkonfigurationen und der Exklusion von Frauen aus der Kunstgeschichte. Autonome Tätigkeiten werden, so die Kunsthistorikerin, von Individuen beeinflusst – die Qualität des Kunstwerks hängt von sozialen Strukturen ab. Nochlin verweist dabei auf den Ausschluss von Künstlerinnen von Kunsthochschulen und verdeutlicht, inwiefern die Tätigkeit kunstschaffender Frauen per se als dilettantisch abgehandelt wurde. [5 ] Unstrittig ist: Auch nach 50 Jahren Aktivismus und kunsthistorischem Genderdiskurs bestehen Machtstrukturen fort, die einen genderspezifischen Ausschluss von Künstlerinnen begünstigen. Sie finden sich in diversen Ausprägungen, abhängig von Akteurskonstellationen, Reputation oder auch der historischen Genese des jeweiligen Bereiches des Kunstfelds. [6 ] Inwiefern genderspezifische Machtkonstellationen auch in einer intersektionalen Verschränkung die Verleihung von Kunstawards prägen, verdeutlicht die folgende Darlegung des National Museum of Women in the Arts: „Only 29% of the winners of the Turner Prize, one of the best-known visual art awards, have been women—though several women have won over the past decade. In 2017, Lubaina Himid became the first woman of color to win.” [7 ] Bislang in der Forschung wenig beachtet zeigen sich Kunstpreise als aufschlussreicher Untersuchungsgegenstand bei der Analyse von Geschlechterasymmetrien im Feld der Kunst. Denn nicht zuletzt können solche von Museen verliehenen Preise als wirkmächtige Konsekrationsinstrumente in der Formung von Künstler:innenkarrieren begriffen werden. So lassen sich im Folgenden mittels einer Gegenüberstellung von drei renommierten Kunstpreisen deutscher Museen [8 ] – Wolfgang-Hahn-Preis (1994–2022), Preis der Nationalgalerie (2000–2021) und Kurt-Schwitters-Preis (1996–2022) – strukturelle Exklusionen im Feld veranschaulichen. Die Verleihung der Preise von 1994 bis 2022 weist interessanterweise eine ähnliche Relation auf, wie sie auch beim Turner Prize beobachtet wurde: Von 45 prämierten Künstler:innen waren 14 weiblich, woraus sich ein Künstlerinnenanteil von 33% ergibt. [9 ] Als machtvolles, strukturierendes Merkmal bei der Verleihung der Preise erwies sich neben dem männlichen Geschlecht des Weiteren eine Herkunft aus Staaten des globalen Nordwestens, wie aus Tabelle 1 hervorgeht. Weniger als ein Fünftel aller Preisträger:innen stammt aus einer nicht nordwestlichen Region der Welt. [10 ] Durchschnittlich weisen 68% der Preisträger:innen beide Merkmale auf – sie sind männlich und stammen aus den genannten Regionen. Auch eine Differenzierung nach Geschlecht bei der Gegenüberstellung der Künstler:innen mit nicht nordwestlicher Herkunft verdeutlicht eine Genderasymmetrie der ausgezeichneten Künstler:innen: Während im Durchschnitt 34% der Künstlerinnen entweder aus dem Südwesten (19%), Nordosten (10%) oder Südosten (5%) stammen, weichen die Werte bei ihren männlichen Kollegen deutlich ab. Letztere weisen zu 9% eine nicht nordwestliche Herkunft auf, 6% stammen aus dem Südwesten sowie 3% aus dem Südosten. Im Vergleich dazu stammen je nach Fallbeispiel 80% bis 100% der Künstler aus einer nordwestlichen Region, während es bei Künstlerinnen zwischen 43% und 80% sind. Wie lässt sich dieses Phänomen – immerhin eine Differenz von knapp 40 Prozentpunkten zwischen Künstlerinnen und Künstlern – erklären? Als aufschlussreich erweist sich diesbezüglich eine Untersuchung der Reputation der einzelnen Preise. Vergleicht man diverse Indikatoren wie die Position der jeweiligen Museen im Kunstfeld, das mit der Auszeichnung verbundene Preisgeld oder auch zusätzliche Konditionen wie eine mit dem Award verbundene Einzelausstellung oder eine Publikation, ergibt sich ein durchaus interessantes Bild: Das Museum mit dem höchsten Wert an nicht nordwestlichen Künstlerinnen (Preis der Nationalgalerie) ist zugleich mit dem geringsten Kapital sowie der geringsten Reputation ausgestattet. Daraus lässt sich schließen, dass Künstlerinnen nicht nordwestlicher Herkunft – vor allem aber bei einem Zusammenkommen beider Strukturmerkmale – laut der Daten eher dann mit einem Award ausgezeichnet werden, wenn dieser mit einer geringeren Reputation verbunden ist. Demzufolge erzielen Frauen insbesondere dann Präsenz im Kunstfeld mittels einer Auszeichnung, wenn der Reputationsgewinn vergleichsweise gering ist. Diese Beobachtungen verdeutlichen, dass Künstlerinnen dann eine höhere Chance auf globalen Erfolg haben, wenn sie nicht aus an kunstfeldbezogenen Ressourcen reichen Ländern stammen. Hier erweist sich ein Blick in den Global Gender Gap Report als hilfreich, der den weltweiten Gender Gap der Geschlechter analysiert. [11 ] Tabelle 2 zeigt eine an den Report angelehnte Berechnung des Mittelwerts des Rangs bzw. des dazugehörigen Scores der Herkunftsländer der Künstler:innen in den jeweiligen Verleihungszeiträumen. Für die Künstlerinnen ergibt sich ein durchschnittlicher Rang von 52 und ein Score von 0,714, für die Künstler ein durchschnittlicher Rang von 27 sowie ein Score von 0,786. [12 ] Der im Gegensatz zu den Künstlern niedrige Rang der Herkunftsländer der Künstlerinnen wird besonders durch die als prekär eingestufte Lage in Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, Mexiko, Pakistan und der Republik Korea beeinflusst, während aufseiten der männlichen Künstler nur in China ein großer Gender Gap vorzufinden ist. Dagegen beeinflussen die oberen Ränge von Dänemark, Deutschland, Kanada und der Schweiz den relativ guten bis durchschnittlichen Rang. Aus der Ranganalyse des Global Gender Gap Report lässt sich schließen, dass Erfolg im Kunstfeld für Frauen eher dann möglich ist, wenn die Profession als Künstler:in in ihrem Heimatland mit verhältnismäßig wenig gesellschaftlicher Reputation verbunden ist sowie mit vergleichsweise weniger symbolischem Kapital behaftet. [13 ] Betrachtet man darüber hinaus die Aufenthaltsorte von Künstler:innen, fällt auf, dass diejenigen, die nicht aus dem globalen Nordwesten stammen, sich meist dennoch in westlichen Kunstzentren aufhalten, um in jenen Ländern Anerkennung und Reputation zu erhalten. Ein Brain-Drain-Muster zwischen der Abwanderung aus der Peripherie ins Zentrum eröffnet demnach ein weiteres Spannungsverhältnis im Kunstfeld. Künstler:innen sollten sich in nordwestlichen Regionen und Kunstmetropolen aufhalten, um am Kunstgeschehen teilnehmen zu können. [14 ] Zusammenfassend kann durch die Auswertung der empirischen Daten zwar bewiesen werden, dass Künstlerinnen im Laufe der Zeit häufiger ein Award gewidmet wurde als zu Beginn des Verleihungszeitraums. Diese zunächst positive Entwicklung muss gleichwohl aus einer intersektionalen Perspektive neu gefasst werden: Die Herkunft aus einem westlichen Kunstfeld ist nach wie vor zentral für die Erlangung von Reputation. Diese Vormachtstellung des Westens bildet zusammen mit dem nach wie vor wirksamen Konzept des männlichen Künstlergenies die zentrale Machtkonstellation des Feldes. Diese Mechanismen, die nur zu gern einer Verschleierung unterliegen, sollten sensibel und mit einem geschärften Blick analysiert und in den Fokus gerückt werden – so positiv die verstärkte Inklusion von Künstlerinnen in die Reputationsmechanismen des Feldes bei der Verleihung von Kunstawards auch ist. Literatur Boucher, Brian, 2015. 25 Women Curators Shaking Things Up. In: ArtnetNews, March 17, 2015. Buchholz, Larissa/Wuggenig, Ulf, 2005. Cultural globalization between myth and reality: The case of the contemporary visual arts. In: ART-e-Fact: Strategies of Resistance, an online magazine for contemporary art & culture: Omnimedia D.O.O. Zagreb. Nach: Galtung, Johan, 2000. Globale Migration. In: Butterwege, Christoph/Hentges, Gudrun (Hg.), 2000. Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Dressel, Kathrin/Wanger, Susanne, 2004. Erwerbsarbeit: Zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.), 2004. Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: Springer-Verlag. S. 489–498. Franke, Johanna, 2022. Gender(a)symmetrien in der Verleihung von Kunstpreisen - Die Relevanz von Gender bei Auszeichnungen an Künstlerinnen. Masterarbeit, Leuphana Universität Lüneburg. Galtung, Johan, 2000. Globale Migration. In: Butterwege, Christoph/Hentges, Gudrun (Hg.), 2000. Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Graw, Isabelle, 2003. Die bessere Hälfte, Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts. Köln: DuMont Verlag. Hassler, Katrin, 2017. Kunst und Gender. Zur Bedeutung von Geschlecht für die Einnahme von Spitzenpositionen im Kunstfeld. Bielefeld: transcript Verlag. Hausmann, Ricardo/Tyson, Laura D./Zahidi, Saadi, 2006. Global Gender Gap Report 2006. World Economic Forum. Genf. https://www3.wefo rum.org/docs/ (visited, April 19,2022). McAndrew, Clare (2022): The Art Market 2022. https://www.artbasel.com/about/initiatives/the-art-market (visited, December 21,2022). National Museum of Women in the Arts, 2022. Get the facts. https://nmwa.org/support/advocacy/get-facts/ (visited, December 11,2022). Nochlin, Linda, [1971] 2021. Why have there been no great women artists? 50th anniversary edition. London: Thames & Hudson. Scheidegger, Nicoline/Osterloh, Margit, 2004. One network fits all? Effekte von Netzwerkcharakteristika auf Karrieren. In: Pasero, Ursula/Priddat, Birger P. (Hg.), 2004. Organisationen und Netzwerke: Der Fall Gender. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 199–226. Wetterer, Angelika, 1999. Integration und Marginalisierung. Das Verhältnis von Profession und Geschlecht am Beispiel von Ärztinnen und Juristinnen. Vortragsmanuskript/27.04.1998. FernUniversität – Gesamthochschule in Hagen. [1] Boucher 2015. [2] Siehe dazu https://artandfeminism.org/ ; https://feministartcoalition.org/ ; http://mehrmütterfürdiekunst.net/ [21.12.2022]. [3] Vgl. Boucher 2015. [4] siehe dazu zum Beispiel McAndrew 2022; siehe dazu auch Hassler 2017: 226 ff. [5] vgl. Nochlin [1971] 2021. [6] siehe dazu Hassler 2017. Die Reduktion der Geschlechtervariable auf eine weibliche und eine männliche Genusgruppe beschreibt eine paradoxe Problematik, indem ein Denken in dichotomen Geschlechterkategorien erhalten wird, das im Grunde bekämpft werden soll (siehe dazu auch Graw 2003: 10). Dieses von poststrukturalistischen wie dekonstruktivistischen Ansätzen der Geschlechterforschung zu Recht kritisch hinterfragte Vorgehen bedarf einer Erklärung. Trotz des Wissens um die soziale Konstruktion von Geschlecht zeigt sich eine Geschlechterdichotomie im Kunstfeld nach wie vor als persistent. Ausgehend von diesem Faktum liegt der Fokus der Analyse auf der Sichtbarmachung dieser geschlechtsbedingten sozialen Ungleichheiten und dichotomen Strukturen, um sie zu hinterfragen und ihnen letztlich entgegenwirken zu können. In diesem Sinne dient die Untersuchung auch dazu, den Stimmen entgegenzuwirken, die sich auf den heute ausgeglichenen Zugang zum Bildungssystem und eine gleichwertige Inklusion in professionellen Feldern berufen. Neben den zweifelsohne erfolgten Veränderungen dürfen die nach wie vor tief in unseren gesellschaftlichen Strukturen und Denkschemata verankerten dichotomen geschlechtlichen Herrschaftsverhältnisse nicht außer Acht gelassen werden. Sie können dann aufgebrochen werden, wenn sie reflektiert, entschleiert und sichtbar gemacht werden – die Studie leistet hierzu einen Beitrag. Offen bleibt eine Sichtbarmachung queerer Positionen, die in Ermangelung nutzbarer Daten in diesem Rahmen nicht dargestellt werden konnten. Ein Dilemma, das in der Forschung dringend stärkere Beachtung finden muss (siehe hierzu auch Hassler 2017: 153 ff.). [7] National Museum of Women in the Arts 2022. [8] Die Bezugnahme auf diese Preise basiert auf einem Ranking von artfacts.net , das nach dem Prestige der dort ausgestellten Künstler:innen erstellt wurde. Da in der Analyse ausschließlich zeitgenössische Künstler:innen im Fokus standen und sich die Preise nicht auf ein bestimmtes Genre beziehen sollten, wurden die drei genannten Preise ausgewählt. Siehe dazu Grafik „Die erfolgreichsten Kunstmuseen Deutschlands, ermittelt durch die Punktezahl der Künstler:innen der Sammlung“ (Daten zur Verfügung gestellt von Artfacts.net, in persönlicher Korrespondenz mit Marek Classen, 28.09.2021). [9] Die Analyse zu Genderasymmetrien von Kunstawards wurde im Rahmen einer Masterarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg im Studiengang Kulturwissenschaften von Johanna Franke vorgelegt. Siehe dazu Franke 2022. [10] Die Einteilung Northwest, Southwest, Northeast und Southeast erfolgt nach Johan Galtung. Um die Position des Westens zu analysieren, erweist sich eine Einteilung nach Regionen als sinnvoll. Galtungs Einteilung der Welt in „the four corners of the world“ bietet hierfür eine Strukturierungsmöglichkeit. Somit kann nicht nur zwischen europäischen Kunstmetropolen sowie den USA und der restlichen Welt unterschieden werden, vielmehr zwischen vier Regionen: „The ‚Northwest‘ encompasses Anglo-Saxon North America and Western Europe (countries of the EU in the borders before 2004); the ‚Northeast‘ includes the former Soviet Union, Eastern Europe, Turkey, the former Soviet republics with a Muslim majority, Pakistan and Iran. The ‚Southwest‘ comprises Latin America, Mexico, the Caribbean, West Asia, the Arab world, Africa, South Asia and India; the ‚Southeast‘ East Asia, Southeast Asia, the Pacific Islands, China and Japan.“ (siehe dazu auch Buchholz/Wuggenig 2005. Nach: Galtung 2000. [11] Der Global Gender Gap Report wird jährlich vom World Economic Forum (WEF) in Kooperation mit der Harvard Universität und der University of Berkeley veröffentlicht. Erstellt werden Länderrankings auf der Grundlage nationaler Geschlechterungleichheiten nach ökonomischen, politischen, bildungs- und gesundheitsbasierten Kriterien. Vgl. Hausmann/Tyson/Zahidi 2006. [12] Der Global Gender Gap Report ermittelt eine Punktzahl (Score) zwischen 0 und 1 zur Verdeutlichung der Geschlechtsungleichheiten. Je höher der Wert, desto geringer ist der ermittelte Gender Gap. Hinsichtlich dieses Scores werden die Länder im Ranking platziert (Rang). [13] siehe dazu auch Hassler 2017: 196. [14] Ähnliche Ergebnisse finden sich auch in der Analyse des internationalen Feldes zur Einnahme von Spitzenpositionen. Hier konnte insbesondere für Europa und Afrika eine gegenläufige Tendenz der Geschlechterasymmetrie in der Besetzung von Positionen im Kunstfeld und der vom WEF definierten globalen Geschlechterungleichheit gezeigt werden. Afrika, ein Kontinent mit relativ starken Differenzen nach Geschlecht, wies in der Analyse einen vergleichsweise hohen Künstlerinnenanteil im Spitzenfeld der Kunst auf. In Europa, einem Kontinent mit relativ geringer Ungleichheit nach Geschlecht, bestand hingegen eine verhältnismäßig schwache Inklusion von Künstlerinnen. Im Anschluss an Konzepte der vertikalen Segregation ließ sich im Hinblick auf diese entgegengesetzte Ausrichtung der globalen und der kunstfeldbezogenen Geschlechterasymmetrie schlussfolgern, dass Künstlerinnen insbesondere dann Präsenz im Kunstfeld erhalten, wenn vergleichsweise geringe Chancen vorliegen, über diesen Beruf Reputation und Macht zu erlangen (siehe dazu Hassler 2017: 195 ff). Katrin Hassler (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt in der Kunstsoziologie und den Gender Studies, ist Mitarbeiterin im Projekt Geschlechteraspekte im Blick sowie Referentin für Karriereentwicklung von Wissenschaftlerinnen an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie lehrt an der Leuphana sowie an der NABA (Nuova Accademia die Belle Arti) in Mailand. Johanna Franke ist Kulturwissenschaftlerin und studierte in Hildesheim, Lüneburg und in Finnland mit den Schwerpunkten Kunst- und Medienwissenschaften. In ihrer Abschlussarbeit analysierte sie Genderasymmetrien im zeitgenössischen Kunstbetrieb und Machtgefüge von Kunstawards. Als Projektmanagerin in einer Kreativagentur beschäftigt sie sich mit digitalen Technologien wie Augmented Reality und Virtual Reality sowie immersivem Storytelling für Unternehmen und Kulturinstitutionen. 1 Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14
- Illumination des Landtages
ART PROJECT IN THE CONTEXT OF THE 75TH ANNIVERSARY AT THE LOWER SAXONY STATE PARLIAMENT Projection of video statements https://enlightening-the-parliament.de QUESTION POOL The questions are divided into two blocks "Threatened Democracy" and "Possible ways to save Democracy '', as well as many sub-points. The footnotes refer to studies and texts on which the questions are based on. YOUR STATEMENT: Choose three (or more) questions from the pool that you find important and prepare your statements on them. You are also very welcome to suggest new questions, which seem essential to you. THREATENED DEMOCRACY Equality Democracy, as the promise of equality [1] creates, as Hannah Arendt describes, Islands of certainty and predictability in an ocean of uncertainty [2]. Is this promise still being redeemed today or did it lose its credibility? What is the democracy of your country most threatened by? Which function does art fulfil towards democracy? What is its task? Does democracy need art and does art need democracy? Democracy ceases to exist, as soon as it becomes legitimate to violate human rights in its name. To what extent are Western democracies aware of this problem?[3] Many people share the opinion that the gap between the political elite and the citizens is too wide [4] Do you also hold this view and how do you think this gap could be closed? Right-wing populism and extremism Do you see a correlation between the growing influence of right-wing populism [5] and right-wing extremist violence [6]? Do you witness an increase of far-right/new right ideology fragments amongst the people in your surroundings? Decreasing voter turnout In many countries, the voter turnout decreased drastically within the last decades (in Germany it went from 91,1% in 1972 down to 76,6% in 2021 [7] [8]). What do you think are the reasons for this development? Dominance culture and discrimination The notion of “dominance culture” (Dominanzkultur) points out that racism is not only the problem of small neo-nazi groups in German’s Nazi history. The notion of the dominance culture emphasises [9] that “The powerful, as well as the powerless, are racist oriented if they have grown up in this society and have not learned to consciously distance themselves from it” [10]. What do you think about this statement? “I think that education, under our circumstances, is an existential necessity because democracy is the only form of government that has to be learned” [11]. What has to be done so that this continuing process of learning can be maintained? Gayatri Chakravorty Spivak advocates "unlearning one's privilege as one's loss". Meant by that is a critical praxis that thinks democratization and decolonization together. What does the majority of society have to unlearn to create space for more justice? [12] Lost middle class: anti-democratic positions in society In Germany, as well as in other western countries, a large part of the population is in favour of democracy as a form of government, but at the same time believes in the idea that some groups of the society are less equal than others. [13] Can this contradiction be observed in your own environment? Decreasing trust in the political system According to a study by the Friedrich Ebert Foundation (Germany 2020), 80 per cent of the survey respondents have little or no trust in political parties. 60 per cent have even lost confidence in the German federal government. What is the cause of this and how should it be addressed? Loss of power of parliaments About half of the German population thinks that politicians are just marionettes that are controlled by hidden powers (especially by the economy) [14] . How do you evaluate this claim? How does such a belief promote conspiracy theories? The supposed principle that the “free market” is a salvation for the just distribution of wealth still resonates. Others see it as an illusion and argue that “neoliberal illusions about the nature of markets, and their supposed benign operation to secure fair distributions of new wealth, have obscured some of the most blatant inequalities, or underplayed their significance because things will work out in the end.”[15] . What position should politics take in this context? Is there an imbalance in the democratic processes, which favours the government over the parliament? Globally operating corporations are continually gaining power and political influence. Relationships between corporations and the state, as well as states among themselves, are thus becoming more complicated and harder to see through. What does this mean for the welfare state? [16] “We will not win the battle against xenophobic populism without tackling the justified sense of neglect felt by many working- and middle-class people.” [17] Do you agree with this statement and how can the fight on these two fronts be fought? Missing representation Do political parties reflect the diversity of society in your country [18] [19]or is there a representational crisis of democracy? How does this show? Intransparent politics Where can non-transparent politics be witnessed and how much does it threaten democracy? According to a German study, forty-two per cent of the survey respondents think that “in the current political system it's not possible to freely voice one’s opinion” [20]. What consequences must be drawn from this? Do you share this opinion and how do you define freedom of speech in society? Fake news and missing trust in the media In a study of the Bosch-Foundation from 2021, fifty-three per cent of German survey respondents agreed to the statement: “The media is pursuing its own intentions instead of reporting the facts” [21]. Where do politics and the media have to start to diminish the (partly justified) alarming doubts in reporting/media coverage? Social media and digital communication technologies offer broad and quite easy access to information and “convey the impression that their views and actions matter” [22]. In “Web 2.0” however, an increase in hate messages can be witnessed as well. Do policymakers recognize the danger of radical polarization and depoliticization of society arising from this? Do they respond adequately? POSSIBLE WAYS TO SAFE DEMOCRACY Participation in representative structures In 2021, 14 per cent of adults in Germany were not allowed to vote on the federal level. [23] How can this imbalance in participation be counteracted? Should the right to vote be granted to non-EU citizens that are living in Germany/your country? Should the right to vote be granted, at least on the municipal level, to non-EU citizens (EU citizens are entitled to do so [24]), if so under what conditions? Radicalization of Democracy Political theorist Chantal Mouffe advocates the concept of agonistic pluralism as a form of a radical democracy, which emphasises the positive aspects of political conflict. Democracy is described as a field of struggle in which one must have the opportunity to act out the differences and different interests with the others. However, the others should be seen as opponents and not as enemies. To what extent does the model of Citizens' assemblies fulfil or contradict this idea of a radical democracy? [25] According to Chantal Mouffe, " Society is divided and crisscrossed by power relations and antagonisms, and representative institutions play a crucial role in allowing the institutionalization of this conflictual dimension." [26] How must institutions be changed to serve this function? Participatory forms of involvement (e.g. civil dialogue) What examples of civic involvement, which has contributed to politically sustainable solutions come to your mind? [27]? What steps must policymakers take to ensure that the public's desire for more participation [28] [29] [30] is met more effectively? How can barriers be reduced to participate in civic involvement, such as the initial "fear" that "one's abilities would not be sufficient for the complexity of the issues"?[31] Citizens' assemblies [32] What method of lottery procedure was chosen for the composition of your Citizens' assembly? Describe the most important experience you have had as a member of a Citizens' assembly? How did a Citizens' assembly come into being in your country/region? [33] What real political effects on society has the Citizens' assembly in which you took part? Should the Citizens' assembly model be institutionalized, and to what extent should parties be forced to take a position on the recommendations of the respective citizens' assembly? [34] In times of an "increasingly hateful" debate climate that is no longer oriented toward compromise, most members of a citizens' assembly report that they have experienced a very factually conducted debate. [36] Does this coincide with your experience? Members of a Citizens' assembly proposed measures that put the general interest above their personal benefit (e.g., reducing the tax rate, strong environmental laws).[37] Did the Citizens' assembly in which you participate make similar demands, and how did recommendations of this type come about? Social issues How can the fact that educationally disadvantaged and socially disadvantaged groups are less reached by civic participation[38] be addressed concretely? [39] Communication with all participants at eye level How should mediation and information in the Citizens' assembly be structured so that communication between all citizens involved can take place at eye level? Creating transparency What factors must be taken into account to ensure that civic participation is transparent? [41] Which methodological approach[42] should be taken by Citizens' assemblies to create transparency? What factors must be taken into account to ensure that the processes in parliaments and governments are more transparent? Is there still a need to catch up here? How did you experience the role of the mediator in your citizens' council? Feedback and reflection What forms of feedback and reflection should be institutionally embedded in a Citizens' assembly or other forms of citizens' participation? [43] What could a European network of citizens' assemblies look like and how could it reflect on global issues? Should there be a European Citizens' Council? Endnotes (German) [1] In der „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung 2018/19 waren zum Beispiel 36 Prozent der Befragten der Meinung, man könne im nationalen Interesse nicht allen Menschen die gleichen Rechte gewähren. https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69084 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [2] vgl. Arendt Hannah 1960: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart [3] Rainer Forst: „Wer etwa sagt, dass Menschen mit gleicher Würde geboren werden, wie es in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung steht, der weiß ja zugleich, dass dieser Satz empirisch ganz falsch ist, weil es nirgendwo so ist. Aber lässt das diesen Satz falsch werden? Die Philosophie muss aufklären, wie er zugleich falsch und unumstößlich richtig sein kann.“ https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/rainer-forst-politik-ohne-vernunft-fuehrt-ins-verderben-90822595.html (Zugriff: am 5. Jänner 2021) Rainer Forst: „Wenn Leute versuchen, den Begriff der Demokratie populistisch umzudeuten, muss man irgendwann sagen, das hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Aber nicht zu sagen, auch hier gibt es einen Widerspruch zwischen Menschrechte und Demokratie, in dem Moment ist man ihnen ein Stück weit auf den Leim gegangen, weil man ihnen den Begriff der Demokratie überlassen hat.“ https://youtu.be/wqLFMevtutk?t=3429 ) (Zugriff: am 5. Jänner 2021) Georg Lohmann: „Demokratie und Menschenrechte sind aufeinander verweisende politische Ideen. Historisch wurden in Amerika und Frankreich die Menschenrechte zugleich mit den Gründungsaktien der modernen Demokratien deklariert. Die revolutionären Gründungen der modernen Demokratien verstehen sich als Umsetzung, als Verwirklichung der jedem Menschen zustehenden Menschenrechte. Die neue Staatsform der Demokratie soll die Menschenrechte schützen und sichern.“ https://www.jstor.org/stable/43593865 (Zugriff: am 2. Februar 2022) https://www.jstor.org/stable/43593865 (Zugriff: am 10. Februar 2022) [4] Patrizia Nanz, Charles Taylor, Madeleine Beaubien Taylor, Das wird unsere Stadt, Edition Körber, Hamburg 2022 [5] „Die völkisch-rassistische Ideologie des klassischen Rechtsextremismus zeigt sich ganz ähnlich auch bei der »Neuen Rechten«, die enge Beziehungen in den rechtsextremen ‚Flügel‘ der AfD unterhält. Am bekanntesten ist hier die selbsternannte ‚Identitäre Bewegung‘“ https://www.deutschlandundeuropa.de/79_20/demokratie_krise.pdf#page=79 (Zugriff: am 11. Februar 2022) [6] In den „Attentaten von Halle und Hanau, die sich in eine ganze Reihe furchtbarer Anschläge von Utøya, El Paso bis Christchurch einreihen, zeigt sich die Verachtung von Würde und Gleichwertigkeit von Menschen in extremster Form.“ https://www.deutschlandundeuropa.de/79_20/demokratie_krise.pdf#page=79 (Zugriff: am 12. Februar 2022) [7] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2274/umfrage/entwicklung-der-wahlbeteiligung-bei-bundestagswahlen-seit-1949/ (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [8] „Mangelnde Beteiligung bei Wahlen ist häufig ein Indiz für Kritik am demokratischen System oder Politikverdrossenheit.“ https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69083 (Zugriff: am 11. Februar 2022) [9] Vgl.: Kastner, Jens, Susemichel Lea, Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken 2019 [10] Rommelspacher, Birgit, Rechtsextremismus und Dominanzkultur, vgl. Kastner, Jens, Susemichel Lea, Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, 2019 [11] Negt, Oskar, Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen, in: Positionen der politischen Bildung, Schwalbach 2004, S. 197 [12] Vgl.: http://www.migrazine.at/artikel/un-wissen-verlernen-als-komplexer-lernprozess (Zugriff: am 11. Februar 2022) [13] Die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Ein Großteil befürwortet Demokratie als Staatsform, zugleich hat jedoch ein Anteil derselben Befragten ein illiberales Verständnis von Demokratie und vertritt Vorstellungen der Ungleichwertigkeit diverser Bevölkerungsgruppen. https://www.deutschlandundeuropa.de/79_20/demokratie_krise.pdf#page=79 , S. 82 (Zugriff: am 2. Februar 2022) [14] https://youtu.be/OnfSq1uruMo?t=244 (Zugriff: am 11. Februar 2022) [15] Die Illusion der neoliberalen Ideologie, dass es das Wesen der freien Märkte sei, für eine auf Leistung basierende gerechte Verteilung des neuen Reichtums zu sorgen, verschleiert die katastrophalen Ungleichheiten und die nachhaltige Schädigung der Umwelt, die der Kapitalismus hervorbringt. Vgl. Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 2 [16] Populistische Parteien bieten Menschen, die sich deshalb von der Politik vergessen fühlen, politische Alternativen an. Insbesondere Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten kritisieren nicht nur die Eliten, sondern sprechen sich auch für eine nationale Abschottung und gegen Globalisierung aus. https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69083 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [17] Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 2 [18] In den letzten Jahrzehnten hat sich sowohl bei den Bürger:innen, als auch in demokratischen Institutionen ein individualisierter Freiheitsbegriff etabliert. In einer fragmentierten Gesellschaft fällt es politischen Parteien zunehmend schwerer ein Allgemeinwohl zu formulieren, welches mehr ist als ein Aufsummieren von Einzelinteressen https://www.derstandard.at/story/2000131822761/die-individualisierung-des-allgemeinwohls (Zugriff: am 10. Februar 2022) [19] In einer fragmentierten Gesellschaft können die älteren Parteien die zunehmend individueller werdenden Meinungen nicht mehr integrieren. Die Parteien spiegeln außerdem nicht die Vielfalt der Gesellschaft wider. https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69083 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [20] Vgl. Studie der Bosch-Stiftung „Beziehungskrise? Bürger und ihre Demokratie in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und den USA“, S. 22 [21] Vgl. Studie der Bosch-Stiftung „Beziehungskrise? Bürger und ihre Demokratie in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und den USA“, S. 23 [22] Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, S3, 2020 [23] https://politik.watson.de/deutschland/analyse/570366330-bundestagswahl-wer-in-deutschland-kein-wahlrecht-hat-und-wer-es-einfordert (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [24] Das Grundgesetz schließt die Teilnahme von Ausländerinnen und Ausländern an Wahlen sowohl auf der staatlichen als auch auf der kommunalen Ebene grundsätzlich aus (vgl. BVerfGE 83, 37, 59 ff.). Die Ausnahme bilden EU-Bürger:innen, die auf der kommunalen Ebene an Wahlen teilnehmen dürfen. https://www.bmi.bund.de/DE/themen/verfassung/wahlrecht/auslaenderwahlrecht/auslaenderwahlrecht-node.html (Zugriff: am 26. Jänner 2022) [25] Chantal Mouffe: „Das Ziel ist nicht, den Staat zu erobern, sondern, wie Gramsci es formuliert, ‚Staat zu werden‘.“ Mouffe, Chantal, Für einen linken Populismus. Suhrkamp Verlag, 2018 [26] Mouffe, Chantal, Für einen linken Populismus. Suhrkamp Verlag, 2018 [27] Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 72 [28] Eine repräsentative Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 zeigt, dass nur noch 47 Prozent der befragten Deutschen damit zufrieden sind, wie die Demokratie funktioniert. Vier von fünf Befragten befürworteten allerdings die Idee, dass Bürgerinnen und Bürger den Bundestag mittels Volksinitiativen auffordern können, sich mit bestimmten Themen zu befassen. Auch befürwortete mehr als die Hälfte die Idee, dass zufällig ausgewählte Gruppen verschiedene Themen diskutieren und dem Bundestag dazu Vorschläge machen sollten. [29] Die Menschen in Deutschland haben laut EU-Barometer 2020 ein vergleichsweise hohes Vertrauen in die EU sowie in die nationale Regierung und das nationale Parlament. Doch auch die Ergebnisse dieser Umfrage deuten auf die positive Wirkung von Bürgerbeteiligung hin: So stimmten 2020 75 Prozent der Eurobarometer-Aussage zu, dass eine stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die Entscheidungsprozesse ihre Motivation steigern würden, bei der nächsten EU-Wahl wählen zu gehen. https://www.lpb-bw.de/beteiligung#c62090 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [30] “More than ever, citizens want to engage in shaping the circumstances of their lives, whether with regard to urban districts, local communities, or regions, or to plans for the public sphere. They are searching for new modes of political participation and demand direct involvement—with increasing success.” Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 56 [31] https://www.heidelberg.de/site/Heidelberg_ROOT/get/documents_E-1993975137/heidelberg/Objektdatenbank/12/PDF/B%C3%BCBe/pdf_12_%20Intensivinterviews_Fritz%20Thyssen%20Projekt.pdf (Zugriff: am 28. Jänner 2022) [32] „Das Besondere an Bürgerräten ist, dass die Teilnehmenden zufällig aus der Bevölkerung ausgelost werden. Akademiker sitzen dort neben Handwerkerinnen, Rentnerinnen neben Jugendlichen, hier geborene Menschen neben Zugewanderten. Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam Lösungen für politische Probleme vorzuschlagen. Diese Empfehlungen werden dem jeweils zuständigen Parlament oder Gemeinderat zur Beratung vorgelegt.“ [33] Mit Hilfe der Atlantic Philanthropies Foundation organisierten die Politikwissenschaftler:innen David Farrell und Jane Suiter im Juni 2011 eine Bürgerversammlung unter dem Titel "We the Citizens". Einhundert irische Bürgerinnen und Bürger unter der Leitung eines Moderator:innenteams diskutierten Fragen zur Reform und Steuerpolitik in Irland. In der Folge wurden die Ergebnisse der ersten Versammlung an die Parlamentarier weitergegeben, einschließlich der Idee einer landesweit organisierten Bürgerversammlung. Die Irish Citizens’ Assembly war geboren.“ Vgl. Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020 [34] Die Irish Citizens’ Assembly veranlasste 2013 Irlands damaligen Premierminister ein Referendum gleichgeschlechtliche Ehe einzuleiten. Im April 2013 entschied die Irish Citizens’ Assembly in geheimer Abstimmung über umfangreiche Vorschläge für Verfassungsreformen und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Am 22. Mai 2015 stimmten 62 Prozent der Iren für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, was eine Verfassungsänderung nach sich zog. Vgl.: Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 65 [35] https://www.heidelberg.de/site/Heidelberg_ROOT/get/documents_E-1993975137/heidelberg/Objektdatenbank/12/PDF/B%C3%BCBe/pdf_12_%20Intensivinterviews_Fritz%20Thyssen%20Projekt.pdf , S.16 (Zugriff: am 15. Jänner 2022) [36] Diskurskrise S.131 https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2021-07/Studie_Beziehungskrise_B%C3%BCrger_und_ihre_Demokratie.pdf (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [37] “Surprisingly, citizens argued against tax reduction in their final report. Subsequently, the results of the first assembly were passed on to parliamentarians, including the idea of a nationally organized citizens’ assembly.” Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 64 [38] So zeigt sich, dass es sich trotz Losverfahren bei den Teilnehmenden an Bürger:innenräten um „überdurchschnittlich viele politisch interessierte und informierte“ handeln kann. https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergerrat_ueberblick_zusammenfassung.pdf (Zugriff: am 4. Februar 2022) [39] „Praktisch fühlen sich bildungsferne und sozial benachteiligte Gruppen von anderen Beteiligungsmöglichkeiten keineswegs gleich angesprochen wie beispielsweise von Wahlen. Mehr Beteiligung kann daher statt zu mehr Gerechtigkeit auch zu mehr Verzerrung führen, weil die Teilnahmebereitschaft an Beteiligungsverfahren umso höher und ausgeprägter ist, je höher der formale Bildungsgrad, das Einkommen, der berufliche Status und die persönliche Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist. Alter und Geschlecht spielen ebenfalls eine Rolle.” https://www.lpb-bw.de/beteiligung#c62090 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [40] „But one thing is certain: the desire for participation and the readiness of citizens for political engagement is there and will not dwindle in the foreseeable future.” Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 72 [41] „Das Ziel muss klar benannt worden sein. Die Rahmenbedingungen müssen klar sein: Welche Gestaltungsspielräume gibt es? Wo liegen die Grenzen der Mitwirkung? Wo liegt die Entscheidungshoheit letztendlich? Es muss Klarheit über die verschiedenen Interessen bestehen. Warum wurde gerade dieses Partizipationsverfahren bzw. diese Methode gewählt? Welche Eigenheiten hat es? Ist es für diesen Fall gut geeignet? Informationen müssen frei und umstandslos für alle Teilnehmenden sowie Außenstehende zugänglich sein.“ https://www.lpb-bw.de/beteiligung#c62090 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [42] Ein methodischer Ansatz wäre es, drei Evaluationskriterien einzuführen: Inklusive Beteiligung, Prozessqualität, Effekte und diese an eine Kombination von fünf Methoden zu koppeln: Vor-/Nachbefragungen der Teilnehmenden zu den Regionalkonferenzen und zum Bürgerrat, Teilnehmende Beobachtungen, Dokumentenanalyse, Interviews mit den Hauptakteuren, Medienanalyse. https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergerrat_ueberblick_zusammenfassung.pdf (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [43] „Im Nachhinein muss mindestens den Teilnehmenden rückgemeldet werden, welche ihrer Entscheidungen/Forderungen berücksichtigt wurden, welche nicht und warum.“ https://www.lpb-bw.de/beteiligung (Zugriff: am 25. Jänner 2022)
- Issue 3 Editorial | appropriate
Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Editorial, Issue 3 Appropriate Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Editorial Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Das Issue 3 des Journals appropriate! widmet sich dem Thema Vermittlung. Nach Alexander Henschel wird der Begriff im Zusammenhang mit Kunst „als Marker für kunstbezogene Bildungsarbeit in verschiedensten institutionellen Settings ebenso verwendet wie für Formen des Curatings, der Kunstkritik, des Galerieverkaufs oder des Kulturmanagements.“ (Henschel 2019: 19) Der Sammelbegriff der Kunstvermittlung wird somit unterschiedlich je nach Zweck und Auffassung ausgelegt. In der Kunstvermittlung prallen also teils gegensätzliche Interessen aufeinander. Wie der Begriff interpretiert wird, hängt von der Perspektive der Person ab, die ihn verwendet. In dieser Ausgabe wird die Bezeichnung deshalb im Sinne der kritischen Kunstvermittlung eingegrenzt. Vermittlung ist eine Handlungsform mit und für andere Menschen, um Wissenserwerb und Austausch zu ermöglichen. Über die Wissensaneignung in einem bestimmten Themenfeld hinausgehend soll jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Inhalt, eingebettet in den Kontext, angestoßen werden. In der kritischen Kunstvermittlung soll der Status quo nicht eins zu eins abgebildet, sondern anhand der Vermittlungssituation kritisch betrachtet und/oder dekonstruiert werden. Wir verstehen Kunstvermittlung als eine Praktik, die so unabhängig wie möglich von Marketinginteressen durchgeführt wird, da dies auf Kosten der Komplexität künstlerischer und unbequemer Vermittlung gehen kann. Die Qualität der Vermittlungsarbeit lässt sich nicht immer an der Zahl der Besucher:innen messen. Engagierte Vermittlung soll dort intervenieren, wo Kontext und Informationen fehlen, um sich mit den Kunstwerken oder Künstler:innen kritisch auseinanderzusetzen, oder auch mit dem Ausstellungs- und Vermittlungsort selbst. In insgesamt sieben Beiträgen wird in dieser Ausgabe des Webjournals auf verschiedene Aspekte von Vermittlungsarbeit eingegangen: Daphne Schüttkemper und Julika Teubert berichten über ihr Gespräch mit Linda Kelch, die an der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in der Projektgruppe Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung ‚Landshut‘ arbeitet. Dabei warfen sie zunächst einen kritischen Blick auf die Struktur der bpb, um mögliche Faktoren zu ermitteln, die die Vermittlungsarbeit der Institution einseitig beeinflussen könnten. Anschließend sprachen sie mit ihr über das Verhältnis von kultureller und politischer Bildung. Sie stellten die Fragen, ob sich diese beiden Felder noch klar voneinander trennen lassen und ob eine solche Trennung überhaupt notwendig ist. Im Praxisteil werden drei Projekte vorgestellt, die sehr unterschiedliche Kunst-Vermittlungsformate beschreiben. Was sie eint ist, dass sie Gedichte und andere literarischen Quellen einbinden. Dani-Lou Voigt schreibt über den Ansatz ihrer Vermittlungsarbeit, nach Verbindungen zwischen dem zu suchen, was sich im White Cube abspielt, und dem, was in der Stadt passiert. Diese Beobachtungen macht sie durch Interventionen im öffentlichen Raum sichtbar, sodass Passant:innen plötzlich im Alltag mit irritierenden künstlerischen Elementen konfrontiert werden. Es geht ihr weniger darum, ein konkretes künstlerisches Werk zu vermitteln, sondern vielmehr darum, das Gefühl, das eine künstlerische Arbeit auslösen kann, aus der Ausstellung in den Stadtraum zu tragen. Sie vermittelt folglich zwischen Kunstraum und Stadtraum, möchte beide Räume einander näherbringen, indem sie ihre Überschneidungspunkte zu Berührungspunkten macht. Annika Niemann, Manuel Bendig und Linus Jantzen berichten von ihrem experimentellen Vermittlungsworkshop „Night Audition“, den sie in Bezug auf die Ausstellung „Gods Moving in Places“ in der ifa-Galerie Berlin (2022) konzipiert haben. Referenz- und Bezugspunkt der Ausstellung – und so auch des Workshops – ist der auf Martinique geborene Schriftsteller, Theoretiker, Aktivist und Philosoph Édouard Glissant, der als Vordenker des Postkolonialismusdiskurses gilt. Im Rahmen des Workshops wird das Konzept der Opazität (das Undurchdringliche), ein signifikanter Aspekt von Glissants Weltanschauung, praktisch in Bezug auf die Kompatibilität mit Vermittlung geprüft. In dem von Xuan Qiao und Ye Xu beschriebenen Projekt geht es darum, mithilfe von Gedichten universelle Werte zu finden, die über die Grenzen von Nationen und Kulturen hinweg gelten. Dabei fällt ihnen auf, dass es oft ganz unterschiedliche Bedeutungsebenen ein und derselben Sache gibt, je nachdem wer sie aus welchem Blickwinkel betrachtet. Trotzdem spiegeln Gedichte früher wie heute die Entwicklung von Kulturen und Gemeinschaften wider und machen sich durch diesen Gegensatz interessant für den transformativen Ansatz des Workshops: In kollektiv entwickelten Gedichten finden verschiedene Blickwinkel und Bedeutungsebenen zusammen und führen so von Filterblasen weg – hin in Richtung interkulturelles Verständnis und Kommunikation. Drei Gästinnenbeiträge vervollständigen das Issue 3: Nora Sternfeld analysiert mittels einer autoethnografischen Methode die neoliberalen Einflüsse auf die Anfänge der progressiven kritischen Kunstvermittlung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und wie diese bis heute nachwirken. Sie und andere kritische Kunstvermittler:innen wollten die Museen neu erfinden und so stellten sie sich dem Anspruch, am „Kreuzungspunkt von Diskursen der Macht und der Befreiung“ (Carmen Mörsch) offen, experimentell und selbstreflexiv zu sein. Die Logik des allgegenwärtigen Neoliberalismus förderte dabei zwar den Eigensinn und die kritische Herangehensweise der Kunstvermittler:innen, verhinderte aber zugleich, dass sie im Museum fixe Anstellungen erhielten. Mit Bezug auf Antoni Gramsci versucht die Autorin schließlich, den Widerspruch zwischen Affirmation und Kritik, der jeder Form von kritischer Vermittlung und Pädagogik innewohnt, dialektisch aufzuheben: Sie fordert, Vermittlung parteiisch zu verstehen und sie als Zwischenraum, als Widerstand, als Konflikt wirken zu lassen. Karin Schneiders Beitrag schließt hier nahtlos an, indem sie, ausgehend von Gedächtnisprotokollen vergangener Vermittlungsprojekte, wichtige Schlussfolgerungen über ihre Arbeit zieht. Ihre Protokolle fügen sich zu einer Art „kunstvermittlerischem Archiv“ zusammen, das ihr als Grundlage einer kritischen Selbstreflexion dient, aber auch Handlungsansätze für zukünftige Projekte sammelt. Eine wichtige Beobachtung, die sie in ihren Gedächtnisprotokollen macht, sind sogenannte Transition Points. Damit meint sie den Moment, in dem sich die Dynamik der Gruppe, mit der sie arbeitet, plötzlich ändert, weil etwas Neues, Unbestimmtes passiert und sich angestaute Spannung in positiver und produktiver Aktivität entlädt. Sie geht dem Ursprung dieser Transition Points nach und fragt, ob und wenn ja wie sie sich stimulieren lassen. Antrieb ist dabei der Anspruch und die Notwendigkeit, die eigene Praxis stetig anzupassen und weiterzuentwickeln. Lynhan Balatbat-Helbock beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Problematik rassistischer und menschenunwürdiger Inhalte, die in diversen Objekten und Zeugnissen der Vergangenheit in Archiven enthalten sind. Wie soll mit diesem toxischen Archivmaterial, das Teil von staatlich organisiertem Völkermord und kollektiver Vernichtung war, umgegangen, wie Vermittlung geleistet werden? Balatbat-Helbock sucht nach Methoden, die die Kontinuitäten von Unterdrückungspolitiken, die in diesem Material enthalten sind, erfahrbar machen und die Verantwortung gegenüber den damit verbundenen Verbrechen verdeutlichen. Als Beispiel wird die SAVVY Contemporary angeführt, die sich als Parainstitution den konventionellen Vorgaben des Ausstellens entzieht und dadurch neue Handlungsspielräume freisetzt. Mit Bezug auf das Projekt Colonial Neighbours plädiert Balatbat-Helbock dafür, Expansionen, Besetzungen, Zwangsarbeit und Völkermorde nicht als abstrakte Themen in Archiven zu schubladisieren, sondern den Fokus auf die Nachwehen zu legen, die in der Gegenwart weiterwirken. Im Gegensatz zu starren Denkmälern, durch die Erinnerung scheinbar unveränderbar in Stein gemeißelt wird, fordert die Autorin dazu auf, vom eigenen Sein auszugehen und Erinnerung als Teil unseres gebrochenen Daseins zu verstehen. Denn für die einen mag es sich um vergangene Ereignisse der Ungleichheit handeln, die sie persönlich kaum berühren, für andere „sitzen die Wunden tief und die multiplen Traumata direkt unter der Haut“. Die Redaktion des Issue 3 | Vermittlung | setzt sich zusammen aus: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Literatur Henschel, Alexander, Dietmar, 2019. Was heißt hier Vermittlung? Kunstvermittlung und ihr umstrittener Begriff. Wien: Zaglossus e. U 1
- Issue 6 Editorial | appropriate!
Editorial von Lena Götzinger, Benno Hauswaldt Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Editorial Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn ISSUE 6: Antifaschismus Bei der Vorbereitung zu dieser Ausgabe stießen wir auf eine Faschismusanalyse, die dessen Kern als ein Glaubenssystem beschreibt, das sich in folgenden Überzeugungen niederschlägt: Die ethnischen Mehrheitsgruppen sind ‚Opfer‘ von Einwanderung und Multikulturalismus; die Errungenschaften des Feminismus sollten rückgängig gemacht werden; […] Wissenschaft, Universitäten und Medien sind nicht vertrauenswürdig; die Nationen haben die Orientierung verloren und müssen ihre frühere ‚Größe‘ wiedererlangen; ein nicht näher bestimmtes katastrophales Ereignis wird die Dinge wieder ins Lot bringen. Jeder Faschist glaubt all das und mehr; jeder rechtspopulistische Wähler glaubt mittlerweile einen Teil davon; der autoritäre rechte Politiker appelliert in verschlüsselter Form an einige dieser Überzeugungen, um Vorteil daraus zu schlagen. (Mason 2022: 12–13) Inwieweit Politiker:innen wirklich antifaschistisch gesinnt sind, kann man laut dem Autor daran erkennen, ob sie bereit sind, die oben genannten demokratiefeindlichen Glaubensinhalte in Wort und Tat zu bekämpfen. Wenn aber die Politik beginnt, ihr Bekenntnis zu Vielfalt, Menschenrechten und Toleranz, gegen Antisemitismus und Rassismus, sowie das Recht auf ein Leben in Freiheit ohne Angst vor Diskriminierung oder Gewalt zu relativieren, dann öffnet sie die Tore für einen modernen Faschismus, der sich autoritärer, populistischer und antidemokratischer Methoden bedient. Sein Ziel ist es, die Demokratie zu zerstören. Antifaschismus ist deshalb für die demokratische Gesellschaft unverzichtbar. Issue 6 von appropriate! beschäftigt sich mit der Rolle, die Kunst zur Stärkung des Kampfes gegen Faschismus spielen kann. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich durch dialogische, aktivistische und partizipatorische Initiativen der Kunst und Vermittlung den antidemokratischen Entwicklungen in der aktuellen Politik etwas entgegensetzen lässt. Der Künstler Dmitry Vilensky setzt sich in seinem Gastbeitrag mit der komplexen Frage nach den richtigen Strategien im Kampf gegen den Faschismus auseinander. Ein Problem identifiziert er darin, dass Faschismus einer permanenten Wandlung unterzogen ist. So bezieht er sich etwa auf die paradoxe Situation in Russland, wo faschistische Ideen zu einem historischen Zeitpunkt – drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Bevölkerung populär werden, obwohl diese sich selbst niemals als faschistisch begreifen würde. Er schreibt: „The entire meaning of the war in Soviet education was as an anti-fascist struggle, where the Russians are on the side of the good and the fascists are the enemy. So there’s this odd business, which I call in the book ‘schizo-fascism’, where people who are themselves unambiguously fascists refer to others as fascists.“ In ihrem Gastbeitrag „Viral gehen und vergehen“ untersucht die Kunstwissenschaftlerin Elena Korowin die dynamische und oft flüchtige Natur von Inhalten in den sozialen Medien im Kontext des Ukraine-Krieges. Dabei geht sie auf die Vergänglichkeit von Memes und die Darstellung von Kriegen sowie die vereinfachte Darstellung von Helden- und Feindbildern auf Instagram und TikTok ein, die verdeutlichen, dass komplexere und reflektierte Gedanken in der viralen Welt oft keinen Platz finden. Ein wichtiges Grundmerkmal des Faschismus ist der Revisionismus. Durch ihn wird die Geschichte des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs verfälscht und Geschichtswissenschaft diskreditiert. Um dem Revisionismus in Deutschland entgegenzuwirken und die Erinnerungskultur zu demokratisieren, widmen sich zahlreiche zivilgesellschaftliche und künstlerische Projekte der Aufarbeitung der NS-Zeit. Linn Bergmann war Teil eines solchen Projektes, das 2021 ins Leben gerufen wurde, um die Geschichte des NS-Zwangsarbeitslagers im Rehburger Forst wissenschaftlich und künstlerisch aufzuarbeiten und in Form einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In ihrem Text „Fossilis – durch Graben gewonnen“ berichtet sie über ihre Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum und reflektiert Fragen nach der persönlichen Verantwortung in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Daphne Schüttkemper stellt in ihrem Praxisbericht das Kunst-projekt The Arts of Resistance vor, an dem Studierende der Kunst-vermittlung der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig mitwirkten. Anhand von Erkennungskriterien des Ur-Faschismus von Umberto Eco, Spuren der NS-Zeit im Braunschweiger Stadtbild und Aktivitäten von Neonazi-Gruppen wurde im Rahmen des Projekts mit Braunschweiger Schulen eine kollektive Skulptur gegen Faschismus und für Demokratie entwickelt. Um Faschismus und Rechtsextremismus bekämpfen zu können, braucht es auch eine geeinte und solidarische politische Linke. Diese ist aktuell jedoch gespaltener denn je, besonders in Bezug auf den Nahostkonflikt und die damit verbundenen Terroranschläge und Kriege. Im Kunst- und Kulturbetrieb manifestiert sich die polarisierte Debatte seit dem 7. Oktober 2023 in Form von offenen Briefen an Institutionen, Veranstaltungsabsagen, Ausladungen und Anfeindungen. Im Zentrum des Interviews von Lena Götzinger mit der Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin Saba-Nur Cheema stehen die historischen Hintergründe dieser Entwicklungen, der muslimisch-jüdische Dialog, persönliche Boykott-Erfahrungen und die Wichtigkeit multiperspektivischer Diskussionsräume. Über seine aktuellen Projekte, beispielsweise im NS-Dokumentationszentrum in München oder den Esch Clinics in Luxemburg, spricht der aus der Architektur kommende Markus Miessen im Interview mit Benno Hauswaldt. Darüber hinaus werden Theorien und Methoden der Partizipation, des Eingeladenwerdens und des Handelns ohne Mandat thematisiert, insbesondere die Frage, inwieweit an eine Verbindung von Agonismus und Teilhabe gedacht werden muss, um andere Strukturen, Räume und Öffentlichkeiten zu schaffen. Lena Götzinger und Benno Hauswaldt führten auch ein Gespräch mit der Künstlerin Henrike Naumann. Sie setzt sich künstlerisch mit historischen Inhalten und Ästhetiken des Nationalsozialismus und deren Weiterführung durch rechte Terrorgruppen, wie etwa den NSU, auseinander. Indem sie gefundene Objekte und dokumentarische Bezüge verändert, kombiniert und rekontextualisiert, sollen Geschichte und Gegenwart neu interpretiert und sichtbar gemacht werden. Über diesen Ansatz verleiht sie Themen ein Forum, das Rezipierende als Teil der gesamtgesellschaftlichen Situation mit in die Verantwortung nimmt, etwa für die Bekämpfung und Aufklärung rechten Terrors. Moriz Hertel rezensiert das Buch Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen von Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel. Dabei spannt er einen Bogen von polarisierter Streitkultur und Kompromissbereitschaft bis hin zur Aktion „Ausländer raus“ des Performancekünstlers Christoph Schlingensief im Jahr 2000 in Wien. Nastasia Schmidt rezensiert Kübra Gümüşays Buch Sprache und Sein , in dem die Autorin darstellt, wie strukturelle Diskriminierungsformen, darunter Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Ableismus, sprachlich in unserer Gesellschaft verankert und unterstützt werden. Die Beiträge in diesem Issue zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven die vermittelnden und verbindenden Potenziale von Kunst, Kultur und Aktivismus auf, die dazu beitragen sollen, dass die Gesellschaft in einem breiteren Zusammenhalt als bisher für eine vielstimmige und resiliente Demokratie einsteht. Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn Redaktion des Issue 6: Antifaschismus Literatur Mason, Paul, 2022. Faschismus. Und wie man ihn stoppt. Berlin: Suhrkamp Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. Martin Krenn , PhD, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 01
- Issue 1 Rudolph | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Access All Areas oder Digital Divide? Ungleichheitsperspektiven auf Kunst und digitale Kunstvermittlung in Zeiten von Covid-19 Steffen Rudolph In vielen Bereichen offenbart die Covid-19-Pandemie wesentliche Versäumnisse der vergangenen Jahre, beispielsweise was die Digitalisierung von Schulen, Universitäten oder der öffentlichen Verwaltung betrifft, und wird als längst notwendiger Schub für entsprechende Initiativen betrachtet. Zugleich schlagen digitale Ungleichheiten umso deutlicher durch, da Zugang zu und Verwendung von digitalen Medien zur Conditio sine qua non bei der Bewältigung des Alltags werden. Ob Homeoffice, Homeschooling oder Buchung eines Impftermins – ohne ausreichend digitale Bandbreite und technische Ausstattung sowie Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Geräten und Plattformen ist die Exklusion von grundlegenden gesellschaftlichen Ressourcen vorgezeichnet. Mit dieser verschärften Problematik der digitalen Exklusion ist seit der weltweiten temporären Schließung von Museen und Ausstellungsräumen auch das Kunstfeld konfrontiert, wenn etwa Publika nur noch digital erreicht werden können und kulturelle Partizipation vornehmlich im Internet stattfindet. Das Publikum kultureller Einrichtungen Dass der Zugang zum künstlerischen Feld nicht nur für die Produzent:innen von Kunst, sondern auch für das Publikum ungleich strukturiert ist, stellt eine maßgebliche Herausforderung für jede Art von Kunstvermittlung dar. Insbesondere Pierre Bourdieu hat mit seinen Arbeiten Forschungen initiiert, die sich Inklusion und Exklusion im Kunstfeld widmen. Folgt man Bourdieu, so besitzt bildende Kunst als Bereich legitimer Kultur, gemeinsam mit klassischer Musik, die am stärksten klassifizierenden Effekte. Das heißt, gerade über den Besuch von Konzerten und Vernissagen findet die herrschende kulturelle Hierarchie Bestätigung und lassen sich Distinktionsgewinne erzielen. Bereits in „L’amour de l’art“ (1966) wendet sich Bourdieu gegen jegliche Ideologie eines vermeintlich angeborenen Kunstsinns und beharrt auf der Feststellung, dass ungleich verteiltes kulturelles Kapital einen entsprechend ungleichen Zugang zu künstlerischen Arbeiten erzeugt. Kurz, wer nicht mit Kunst und Kultur sozialisiert wurde – vor allem im Elternhaus, aber auch in Bildungsinstitutionen, die zugleich genau jene Primärsozialisation im familiären Kontext belohnen –, dem fällt der spätere Zugang ungleich schwerer. Zahlreiche Studien zur Rezeption von (Hoch-)Kultur, vorwiegend in den sogenannten westlichen Gesellschaften (vgl. zum Beispiel Kirchberg 1996, DiMaggio/Mukhtar 2004, Reuband 2007, Rössel 2009), zeigen auf empirischer Ebene, dass auch heute noch Besucher:innen mit hohem Bildungskapital in Museen und Institutionen bildender Kunst oder auch klassischen Konzerten und Opernhäusern deutlich überrepräsentiert sind, Personen mit eher niedrigem Schulabschluss oder Arbeiter:innen als Berufsgruppe hingegen kaum den Weg in den Konzertsaal oder die Ausstellung finden.[1 ] Entgegen einer erhofften Inklusion breiter Bevölkerungsgruppen deutet die zeitliche Betrachtung eher in Richtung einer wachsenden Exklusivität der Kulturrezeption, insbesondere im Bereich der (zeitgenössischen) bildenden Kunst (vgl. Munder/Wuggenig 2012), und damit in Richtung einer Perpetuierung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Zusätzlich ist im Kontext von Kunst und hochkulturellen Aktivitäten eine altersspezifische Komponente hinsichtlich der Rezipierenden relevant. Sieht man vom relativ betrachtet eher jungen Publikum ab, das sich um Kunstvereine, Offspaces und Kunsthochschulen bewegt, so ist der Altersdurchschnitt von Besucher:innen künstlerischer Ausstellungsräume eher höher als der Bevölkerungsdurchschnitt, was als Resultat zweier Bewegungen interpretiert werden kann: der Zunahme kultureller Partizipation bei älteren Menschen, die durch den demografischen Wandel zusätzlich Verstärkung erfährt, bei gleichzeitigem Nachlassen der Partizipation an Hochkultur bei jungen Menschen (vgl. Reuband 2016). Neben dem maßgeblichen Einfluss von kulturellem Kapital bzw. sozialer Position und Alter auf die kulturelle Teilhabe zeigen sich auch Ungleichheiten mit Blick auf die migrantische Bevölkerung: Noch immer ist in klassischen Kultureinrichtungen ein migrantisches Publikum deutlich unterrepräsentiert (vgl. Mandel 2013, Allmanritter 2017). Hoffnungen auf mehr Partizipation durch digitale Medien Geht man von dieser Situation ungleicher kultureller Teilhabe aus, dann könnte eine Hoffnung auf mehr Zugänglichkeit und Offenheit für soziale Gruppen im Bereich bildender Kunst auch in der Digitalisierung von Kunst liegen. Digitale Medien wurden aus optimistischer Perspektive von vielen Seiten als große Ausweitung von Partizipationschancen und Teilhabemöglichkeiten begrüßt. Im Fokus standen hierbei in erster Linie Formen politischer und sozialer Partizipation, etwa im Kontext politischer Meinungs- und Willensbildung, der Stärkung zivilgesellschaftlicher Akteure und hinsichtlich der Transformation des Verhältnisses von Bürger:innen und staatlichen Institutionen sowie politischen Organisationen. Insbesondere die mit dem Web 2.0 und Social Media assoziierten digitalen Medien haben zusätzlich zu einem Schub an Hoffnungen auf mehr Partizipation, Kommunikation und Interaktion geführt. Ob Vernetzungspotenziale, neue Formen der Partizipation an Öffentlichkeiten wie „Participatory Journalism“ (vgl. Singer et al. 2011) oder die gemeinschaftliche Herstellung von Commons wie der Wikipedia, der „Participative Turn“ (Bruns 2016: 2107) durch die digitalen Plattformen scheint nach Ansicht zahlreicher Autor:innen Teilhabechancen prinzipiell deutlich erweitert zu haben. Auch im kulturellen Bereich werden mit digitalen Technologien große Hoffnungen auf eine Demokratisierung verbunden, vor allem hinsichtlich einer umfassenden Zugänglichkeit und erweiterten Partizipation an Kultur (vgl. Council of Europe 2018). Nach Ansicht von G. Wayne Clough (2013: 2), damaliger Secretary der Smithsonian Institution, würden Museen durch die Digitalisierung und den Onlinezugang zu ihren Sammlungen und Ausstellungen, zu Bildern, Objekten etc. den Zugang zu Wissen demokratisieren und besonders all jenen eine Teilhabe ermöglichen, denen ein Besuch nicht möglich sei. Nicht erst seit der Corona-Pandemie haben zahlreiche Kunstinstitutionen Teile ihres Ausstellungsprogramms digital zugänglich gemacht, wobei gerade das Budget und die Kooperation mit Technologieunternehmen wie Google (Tate Gallery, Metropolitan Museum of Art, Eremitage etc.) besonders den großen Häusern einen technischen Vorsprung bei der Digitalisierung verschafft haben. Digitale Ungleichheiten Dass allerdings auch hinsichtlich des Zugangs zum Internet sowie der notwendigen Kompetenzen und Praktiken im Umgang mit digitalen Medien strukturierende Effekte wirken, der vermeintlich objektive Möglichkeitsraum im Digitalen durch die jeweilige Verfügbarkeit von Ressourcen geprägt ist, wird aus der Forschung zur Digital Divide durch vielfältige Studien bekräftigt (vgl. DiMaggio et al. 2004, Zillien 2006, van Deursen/van Dijk 2014, Rudolph 2019). Differenziert wird hierbei in erster Linie zwischen einer First(-Level) Digital Divide, die Ungleichheiten im Zugang thematisiert, und einer Second(-Level) Digital Divide, mit der die ungleiche Verwendung des Internets mit den daraus folgenden Einflüssen auf Teilhabechancen adressiert wird. Digitale Ungleichheiten ergeben sich demnach auf verschiedenen Ebenen. Zuerst einmal sind grundsätzlich auf der Ebene des reinen Zugangs die basale Frage nach dem eigentlichen Internetzugang und die vornehmlich technische Ausstattung von Relevanz. Vor allem jüngere Kohorten besitzen diesbezüglich mittlerweile Vorteile – nahezu durchweg ist ein Zugang zum Internet vorhanden. Dennoch hängt etwa die Internet- und Geräteausstattung von der sozialen Position und den verfügbaren Ressourcen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Homeschooling-Situation im Rahmen der Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass die Teilnahme am schulischen Unterricht deutlich durch ungleiche Bedingungen auch auf dieser Ebene geprägt ist (vgl. Iivari et al. 2020). So ist längst nicht überall eine ausreichende Breitbandverbindung, beispielweise für Videokonferenzen oder Veranstaltungen mit Softwarelösungen wie Zoom etc., vorhanden oder dort ein limitierender Faktor, wo Internetzugang lediglich über Mobilfunk realisiert wird. Tendenziell sind sozial schwache Gruppen eher mit schlechterer Hardware angebunden oder verfügen für den Zugang nur über ein Smartphone. Zudem sind mit Blick auf die Breitbandversorgung auch regionale Disparitäten wesentlich. Kunst(-vermittlung) im Digitalen Bezogen auf diese First Digital Divide sind digitale Kunstausstellungen und -vermittlung in der Situation, eine Abwägung ihrer Formate hinsichtlich mobiler Darstellung und notwendiger Datenmengen für die Rezipierenden vornehmen zu müssen, um nicht jene Gruppen und Personen auszuschließen, die lediglich über Smartphone-Displays und mobile Verbindungen mit in der Regel kontingentiertem Datenvolumen und/oder niedrige Bandbreiten verfügen. Dies betrifft zum Beispiel die Realisierung umfangreicher 3-D-Visualisierungen von Sammlungsräumen und Ausstellungsobjekten, Artist Talks, künstlerische Performances oder auch die Usability der digitalen Angebote auf mobilen Geräten.[2 ] Eine entsprechende Anpassung bzw. alternative, ergänzende Bereitstellung von Inhalten für mobile Geräte bietet sich besonders mit Blick auf jüngere Gruppen an. Für ältere Personen hingegen stellt sich stärker die grundsätzliche Frage eines Zugangs zum Internet. Gerade für die ältesten Kohorten ist daher eine Einbettung digitaler Angebote in ein umfassenderes Setting an insbesondere technischen Unterstützungsangeboten umso wichtiger. Über die Ebene des Zugangs hinaus ergeben sich digitale Ungleichheiten aus den unterschiedlichen Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien sowie aus der letztlich ungleichen Verwendung des Internets. Generell sind hier vor allem auf der Ebene der „Skills“ ältere Personen benachteiligt, wobei auch bei den sogenannten Digital Natives die Sozialisation mit dem Internet kein Garant für eine umfassende „Digital Literacy“ ist (vgl. Gui/Argentin 2011). Dennoch bietet hier die aktuelle Lage Chancen, weil zahlreiche Bevölkerungsgruppen bereits zu einer Digitalisierung ihrer medialen Praxis durch die Umstände der Covid-19-Pandemie gezwungen wurden – und so etwa durch schulische Bereiche, Arbeitskontext oder persönliche Kommunikation Erfahrungen mit niedrigschwelligen Angeboten wie Zoom, WhatsApp usw. gemacht haben. Digitale Kompetenzen sind in dieser Hinsicht vermutlich höher als je zuvor, wenn auch keineswegs überall selbstverständlich. Digitale Kunstvermittlung müsste daher über den Einbezug eher technischer Unterstützungsangebote hinaus idealerweise im Rahmen einer umfassenderen Vermittlung von Kompetenzen im Digitalen integriert sein. Betrachtet man die unterschiedliche Verwendung des Internets, vorausgesetzt Zugang und Kompetenzen sind vorhanden, so findet sich hier bei den digitalen Praktiken in großen Bereichen eine Abhängigkeit von sozialem Status und Alter. Letztlich verlängert sich die bereits angesprochene Abhängigkeit von sozialer Position und Praktiken ins Digitale. Das heißt, auch bei der Verwendung digitaler Medien zeigt sich strukturell eine Homologie von sozialem Status und Lebensstilen, vor allem statushöhere Personen nutzen das Internet eher für Praktiken, die langfristig über die zusätzliche Akkumulation von kulturellem oder sozialem Kapital Lebenschancen verbessern. Insbesondere für den Bereich der kulturellen Partizipation kommen Mihelj et al. (2019: 1) zu dem Schluss, dass, obwohl „digital media provide an important means of engaging new audiences, they also show that the engagement with museums and galleries both online and offline remains deeply unequal.“ Besonders problematisch ist hierbei der Umstand, dass Ungleichheiten im Bereich der kulturellen Partizipation im Digitalen nochmals größer sind als offline und dass digitale Medien „create opportunities for new forms of cultural segregation and exclusion, and therefore exacerbate rather than ameliorate existing inequalities“ (ebd.: 17). Dieser Befund gilt dabei nicht nur mit Blick auf den sozialen Status (stärkere Partizipation bei sozial höher positionierten Gruppen), sondern in besonderem Maße auch für Alter (mit tendenziellem Ausschluss älterer Personen) und Ethnizität (geringere Partizipation von People of Color). Hinsichtlich der Frage nach Auswirkungen der umfassenden Forcierung digitaler Kunstausstellungen und entsprechender Vermittlungsarbeit, wie sie seit der Corona-Pandemie an vielen Stellen üblich geworden ist, lassen sich Effekte, vor allem auf die verschiedenen sozialen Gruppen, bisher nur äußerst grob abschätzen. Zu erwarten ist aber, nimmt man die bisherigen Erkenntnisse zu digitalen Ungleichheiten und Exklusivität im Kunstfeld ernst, dass eher die bereits skizzierte Verschärfung der Zugänglichkeitsproblematik stattfinden wird. Zusätzlich trifft aktuell der ökonomische und soziale Druck mit großer Wahrscheinlichkeit diejenigen Gruppen härter, die im Vergleich über eine geringere Ressourcenausstattung verfügen und auch bisher kaum einen Teil des Publikums künstlerischer Veranstaltungen und Ausstellungen bildeten. Ansatzpunkte für eine inklusivere Kunstvermittlung Um Kulturvermittlung digital durchführen zu können, braucht es meines Erachtens eine kritische Reflexion einerseits der technischen Zugangsbedingungen und andererseits der Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien sowie flankierend eine Art Einbettung in alltägliche Kontexte, etwa auch über Unterstützung und Einführung, die durchaus als Verkopplung von Medienbildung und Kunstvermittlung verstanden werden können. Zentrale Erkenntnisse der Digital-Divide-Forschung können hierfür hilfreich sein, um Ungleichheiten im Digitalen für spezifische soziale Gruppen zu identifizieren und entsprechend unterschiedliche Publikumssegmente bzw. aktuelle Nicht-Besucher:innen angemessen zu adressieren. Aufgrund der Vielfalt an digitalen Ungleichheiten gibt es für eine möglichst inklusive und angemessene digitale Kunstvermittlung keine Blaupause nach dem Muster eines One-size-fits-all. Letztlich scheint mir eine Orientierung an den digitalen Praktiken der Rezipient:innen respektive eine Anknüpfung an deren jeweilige Medienpraxis als zielführende Strategie. Kurz: Wo und womit sind die Zielgruppen unterwegs und wie lässt sich daran anknüpfen? Vor allem für ein jüngeres Publikum scheinen die Orientierung an mobilen Geräten als Zentrum von Informations- sowie Kommunikationspraktiken und das Aufgreifen medialer Formate populärer Plattformen sinnvoll, um über den Rückgriff auf unterhaltende Elemente und Momente der Gamification Interaktion und Partizipation zu initiieren. Wesentlich schwieriger erscheint mir allerdings die Situation hinsichtlich des Einbezugs sozial schwächerer Gruppen mit eingeschränktem Zugang sowie älterer Menschen mit geringer Affinität zu populären Formen und Formaten. Dies nicht zuletzt auch, weil sich im Digitalen nochmals andere Fragen der Ansprache bzw. der Vermittlungsstrategie stellen. Während analoge Räume Momente des Zufälligen enthalten und sich darüber Kontaktpunkte zu möglichen Publika herstellen lassen, tendieren digitale Räume im Sinne multipler öffentlicher Sphären zur Fragmentierung. Solche Filter Bubbles und Echokammern, wenn auch häufig hinsichtlich ihrer Geschlossenheit überschätzt, bieten wenig Offenheit. Webseiten von Museen und Galerien, Social-Media-Profile von Kunstinstitutionen und Galerien auf Instagram oder Facebook – sie alle unterliegen bereits einer Vorauswahl, kaum eine:r besucht sie so zufällig, wie es bei einer Adressierung im analogen Raum grundsätzlich möglich wäre. Selbst innovative Formate verpuffen dabei vor der Hermetik zeitgenössischer Kunst und der Vorauswahl ihres digitalen Publikums. Letztlich ergibt sich aus kultursoziologischer Perspektive meiner Einschätzung nach folgendes Bild: Ein Großteil des Ausstellungs- und Vermittlungsprogramms vor allem zeitgenössischer Kunst findet aktuell etwa über Performances, Artist Talks etc. digital statt und trifft dort strukturell auf mehr oder weniger genau dasjenige Publikum, das auch sonst vornehmlich zu den Besucher:innen zeitgenössischer Kunstinstitutionen gehört und entsprechend über ein relativ hohes kulturelles Kapital insgesamt sowie feldspezifische Vertrautheit verfügt. Eine Verlagerung in den Bereich des Digitalen stellt für diese überdurchschnittlich gebildete und mobile soziale Gruppe – seien es Protagonist:innen des künstlerischen Feldes, Student:innen künstlerischer oder kunst- und kulturwissenschaftlicher Studiengänge oder das interessierte, zumeist städtische und akademische Publikum um solche Institutionen herum – in der Regel aus einer Digital-Divide-Perspektive kein Hindernis dar und bedarf wenig zusätzlicher Vermittlung. Das heißt zugleich nicht, dass sich die häufig intensiven, affektiv besetzten sozialen Beziehungen der Kunstwelt um physische Veranstaltungen ohne Bruch digital übersetzen ließen. Wie deutlich etwa die Akteur:innen des Kunstmarktes – Künstler:innen, Sammler:innen, Galerist:innen etc. – von der Digitalisierung ihrer kommunikativen Beziehungen (untereinander und mit Kunstobjekten) betroffen sind, zeigen Buchholz et al. (2020). Dennoch: Ist man ernsthaft daran interessiert, Publikumsbereiche außerhalb wechselseitiger Anerkennungsschulen zu erreichen, so ist meines Erachtens eine breite digitale Strategie gemeinsam mit einem partizipatorischen Vermittlungsansatz, der sich auf die digitalen Praktiken des Publikums einlässt und offen für ein gegenseitiges Involvement ist, notwendig. Beispielhaft sei auf den Umstand verwiesen, dass in der aktuellen Corona-Situation zahlreiche Vermittlungsprogramme weniger auf das Einüben kultureller Codes und die Vermittlung kunstbezogenen Wissens setzen, sondern vielmehr eine aktive Rolle in der Förderung sozialer Partizipation, im Community-Building und bei der Unterstützung familiärer Betreuungssituationen einnehmen (vgl. Cobley et al. 2020, McNaughton 2020, Wright 2020). Zugleich gehen mit der umfassenden Digitalisierung der Vermittlung wie überhaupt weiter Teile von Bildung und sozialer Beziehungen die Symptome einer „Digital fatique“ einher, die das Ungenügen der viel beschworenen Digitalisierung entlarvt. Die Sehnsucht nach einem Jenseits des Digitalen und digitaler Technologien wird mit wachsender Dauer des Social Distancing größer. Die jüngsten Serverzusammenbrüche im Museum Ludwig und in der Kunsthalle Karlsruhe angesichts des Ansturms auf Tickets sprechen hiervon Bände. Nicht nur der Vermittlungsarbeit bleibt im Sinne derer, an die sie sich richtet, zu wünschen, dass die ausschließliche Fokussierung auf das Digitale eine Episode bleibt. Dieser Text ist open access unter Lizenz cc.by Dr. Steffen Rudolph ist Kulturwissenschaftler und nach beruflichen Stationen an der Leuphana Universität Lüneburg und der Eberhard Karls Universität Tübingen seit 2019 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg tätig. Dort ist er aktuell für den Aufbau eines Open-Access-Labs am Department Information zuständig. Steffen Rudolph hat Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana studiert und dort mit einem EU-geförderten Stipendium promoviert. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in digitalen Medienkulturen, mit Kunst- und Kultursoziologie sowie mit Fragen nach der medialen Verhandlung der Shoah und rechter Gewalt. Literatur Allmanritter, Vera, 2017. Audience Development in der Migrationsgesellschaft. Neue Strategien für Kulturinstitutionen. Bielefeld: transcript Bourdieu, Pierre, Darbel, Alain und Schnapper, Dominique, 1966. L’amour de l’art. Les muséees d’art européens et leur public. Paris: Minuit Bruns, Axel, 2016. User-generated Content. In: Jensen, Klaus Bruhn und Craig, Robert T. (Hrsg.): The International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy. Volume Four. 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Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Für wen ist unser Web-Journal zugänglich? Foto: Julika Teubert Endnoten [1] Für die deutliche Distinktion spricht auch, dass die Struktur der Besucher:innen von Ausstellungen und Museen ohne künstlerischem Schwerpunkt der Sammlung, wie Naturkundemuseen oder technische Museen, wesentlich mehr der durchschnittlichen Bevölkerung entspricht (vgl. Rössel 2009). [Zurück zur Textstelle ] [2] Beispielhaft sei nur auf den Gegensatz zwischen den digitalen Angeboten hinsichtlich der Sammlungen und Ausstellungen von Louvre und Rijksmuseum hingewiesen. Beide Institutionen verfügen über große finanzielle Möglichkeiten für technische Innovationen und deren Umsetzungen; dabei setzt das Rijksmuseum mit „Rijksstudio“ explizit auf eine Mobile-First-Strategie, wohingegen lediglich „Louvre Kids“ eine Anpassung der Inhalte für Smartphone-Displays bietet. Entsprechend niedrigschwelliger und einfacher zugänglich sind Inhalte, Bilder und Texte in „Rijksstudio“, während der Louvre den Zugang für Smartphone-Benutzer:inner deutlich schwieriger gestaltet bzw. diese lediglich als „Kinder“ anspricht. [Zurück zur Textstelle ] Anker 2 Anker 4 Anker 5 Anker 3
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Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Arbeitsbedingungen verbessern? Aber wie! Ein Vorschlag für mehr Inklusion und Diversität von Kulturarbeiter:innen als Bedingung demokratischer Strukturen im Kulturbetrieb Mirl Redmann Die Autorin mit einer Tasche, die während der documenta 14 als Vermittlungstool entwickelt wurde. Sie wurde von einigen Kunstvermittler*innen bei der Arbeit getragen und ebenso u.a. beim Aufsichtspersonal in Athen verteilt. Sie steht für die kritische Arbeitsgruppe von Kunstvermittler*innen, die doc14_workers. https://doc14workers.wordpress.com Im Rahmen der Coronakrise wurde plötzlich weithin sichtbar, was viele bereits wussten: Die Arbeitsbedingungen von Kulturarbeiter:innen sind zu großen Teilen prekär. Insbesondere die selbstständig Erwerbstätigen in der Kultur sind arbeitspolitisch und finanziell oft so schlecht abgesichert, dass sie bereits in „normalen“ Zeiten ein Leben am Existenzminimum führen und überhaupt nicht in der Lage sind, Rücklagen zu bilden, wie es für Selbstständige vorausgesetzt wird.[1 ] Aber auch die Arbeitsbedingungen vieler Angestellter, die im Kultursektor maximal flexibel, mit Zeitverträgen, untertariflicher Bezahlung und maximalisierten Aufgabenfeldern tätig sind, verunmöglichen sowohl die Lebensplanung als auch eine arbeitspolitische Selbstorganisation. Das ist nicht nur in Deutschland so – und nicht erst seit gestern.[2 ] Ein Paradox scheint auf: Zwar steht Kultur synonym für die kritische Herausforderung, Reflexion und Vermittlung von Demokratie (vgl. Deutscher Kulturrat 2020) – doch angesichts der starken Hierarchisierung und prekärer Arbeitsbedingungen ist der Grad der Etablierung demokratischer Prinzipien innerhalb von Kunstinstitutionen eher gering.[3 ] Und so geht es Initiativen zur Thematisierung und Verbesserung von Arbeitsbedingungen in der Kultur auffallend oft um eine doppelte Ausrichtung: erstens um die Definition von finanziellen und sozialen Mindeststandards der Arbeitsbedingungen und zweitens um Wege der demokratischen Teilhabe der Kulturarbeiter:innen an den Institutionen, die sie repräsentieren. Die Frage „Was tun?“ drängt sich heute erneut auf. Sie strukturierte bereits die Arbeit der Vermittlungsabteilung der documenta 12 im Jahr 2007. Damals warf der Chefredakteur der Kunstzeitschrift springerin Christian Höller gemeinsam mit dem französischen Philosophen Jacques Rancière einen Blick auf die besorgniserregende Demokratieskepsis innerhalb des Kultursektors (2007: 13–29). Mit diesem Artikel möchte ich ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen als freie Kunstvermittlerin erstens dazu beitragen, dass die arbeitspolitischen Initiativen unterschiedlicher Interessengruppen mehr Sichtbarkeit erlangen, und zweitens einen konkreten Vorschlag in Diskussionen um die arbeitspolitischen Bedürfnisse nach fairer Bezahlung sowie Teilhabe an Meinungsbildungsprozessen einbringen. Dieser Vorschlag bezieht sich auf die Aufgabenverteilung innerhalb von Institutionen und Projekten und ist meines Erachtens essenziell, damit Kulturarbeiter:innen ihrem eigenen Anspruch gerecht werden können, Agent:innen demokratischer Prozesse zu sein. Vermittlung als Schnittstellenaufgabe erfordert Teilhabe heterogener Entscheidungsträger:innen Es ist gar nicht so leicht zu erfassen wie die Arbeitsbedingungen von Vermittler:innen sich eigentlich gestalten, da Vermittlung ein weites Feld mit vielen beteiligten Akteur:innen ist: vom Management über Kommunikation, Outreach und d die Arbeit kuratorischer Abteilungen bis hin zu spezifischen Angeboten der personalen Vermittlung (Kunstvermittlung mit Publikum) und verschiedenen Besucher:innen-Services (vgl. Seegers 2017: 9). Das Bewusstsein für Vermittlung als kulturelle Schnittstellenaufgabe wächst und in den letzten Jahren ist im Feld der Kulturvermittlung somit einiges in Bewegung geraten: Austausch und Kooperationen zwischen verschiedenen Verbänden im Bereich der Kunstvermittlung werden nach wie vor intensiviert und Kolleg:innen im deutschsprachigen Raum vernetzen sich zunehmend, wie beispielsweise die „Salzburger Erklärung: Österreich, Deutschland, Schweiz – Gemeinsam für Qualität in der Kulturvermittlung im Museum“ belegt (vgl. Maelz, Kollar, Spicker 2019).[4 ] Auch auf institutioneller und politischer Ebene wurde die Position der Vermittlung in den vergangenen Jahren massiv gestärkt: Die Einrichtung des Haus Bastian – Zentrum für kulturelle Bildung (seit 2019) der Sammlung Preußischer Kulturbesitz wie auch die von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Modellprojekte „lab.Bode: Initiative zur Stärkung der Vermittlungsarbeit in Museen“ (2017–2021) und „360°– Fonds für Kulturen der Neuen Stadtgesellschaft“ (2018–2023) haben zur verstärkten Ausschreibung von Volontariaten und Stellen für Vermittlung und Outreach an Museen und Kultureinrichtungen geführt. Vermittlung, Inklusion und Outreach werden also sowohl auf personaler als auch auf medialer Ebene neu gedacht. Die Bemühungen um eine Intensivierung der Theoriebildung und Professionalisierung von Kulturvermittler:innen im Sinne des „Educational Turn“ tragen also Früchte (vgl. Jaschke, Sternfeld et al. 2012). Dabei rücken zunehmend auch die Arbeitsbedingungen ins Blickfeld, da diese sich auf die Qualität der Angebote von Kulturinstitutionen im Bereich Vermittlung auswirken. Die Vermittlung bildet einen von fünf durch den Internationalen Museumsrat ICOM definierten Grundpfeilern der Tätigkeit von Museen (neben den Bereichen Sammeln, Bewahren, Forschen und Ausstellen). In angrenzenden Feldern nimmt der Diskurs um Arbeitsbedingungen als Faktor der gesamtwirtschaftlichen Innovationsfähigkeit an Fahrt auf (vgl. BMWi Monitoringbericht zu Kultur und Kreativwirtschaft 2020: 71). Wenn es um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen geht, steht die Schaffung von Festanstellungen oftmals im Vordergrund – die Einbettung in tarifliche Strukturen soll die Lebensumstände von Kulturvermittler:innen verbessern und Inklusion und Diversität ermöglichen.[5 ] Doch es gibt eine Notwendigkeit seitens der Vermittlungsinstitutionen wie auch der Vermittler:innen selbst, entscheiden zu können, ob sie eine Anstellung oder ein freies Arbeitsverhältnis bevorzugen. Die gemeinsame Erklärung verschiedener Berufsverbände zur freiberuflichen und selbstständigen Tätigkeit für Museen, die Zusammenschlüsse freier Vermittler:innen in Hamburg, Berlin und Kassel sowie der Fokus der Fachgruppe Kunst von ver.di auf die Situation von Soloselbstständigen im Kulturbereich zeigen dies eindrücklich.[6 ] Die Gründe, sich für freie Vermittlungsarbeit zu entscheiden, können vielfältig sein – denn in der Kunstvermittlung arbeiten nicht nur Menschen mit sehr unterschiedlichen Fachhintergründen und Spezialisierungen (die oftmals auch parallele Karrieren in der Kultur oder Wissenschaft verfolgen), sondern sie stehen auch an verschiedenen Punkten ihres Lebens: Neben den klassischen Zielgruppen von Inklusionsmaßnahmen (Menschen, die körperliche oder geistige Schwierigkeiten haben, an gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen in ihrer aktuellen Form teilzuhaben) gibt es beispielsweise Sprachlernende, Pendler:innen, Studierende, Rentner:innen, Eltern oder auch einfach Menschen, die gerne arbeiten ohne Weisungsgebunden zu sein. Letztlich ändern sich unser aller Bedürfnisse im Laufe unseres Lebens und damit die Bedürfnisse, die wir an einen Job herantragen können und müssen – ohne deshalb auf Teilhabe am Arbeitsmarkt verzichten zu wollen (oder zu können).[7 ] Inklusion und Diversität fangen auf der Ebene des Personals an: ein praktischer Vorschlag zur Verteilung von Macht, als Basis der Demokratisierung von Institutionen Demokratie bedeutet Teilhabe, dies scheint aber gerade in der Kultur – vor dem Hintergrund der heterogenen Beschäftigungsverhältnisse und der vielen freien Mitarbeitenden – schwierig zu realisieren. Viele Institutionen im Kulturbereich sind so klein, dass sie von gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen zur Flexibilisierung von Arbeit in festen Anstellungsverhältnissen ausgenommen sind; so sind sie kaum in der Lage und auch nicht verpflichtet, auf die Bedürfnisse sich verändernder Lebensumstände einzugehen.[8 ] Aber selbst dort, wo die Größe von Institutionen rein rechtlich die Selbstorganisation der Arbeitnehmer:innen in Betriebs- und Personalräten erlaubt (einhergehend mit gesetzlich vorgeschriebenen Zeitbudgets und der Beteiligung an Gremien), kann eine Interessenvertretung der Angestellten nicht das Problem der mangelnden Teilhabe an Meinungsbildungsprozessen lösen – in Institutionen, die aus unterschiedlichen Gründen viel mit freien Mitarbeiter:innen und externen Dienstleister:innen kooperieren. Es hilft nicht, allein Leitungsebenen diverser zu besetzen, ohne Machtstrukturen, Hierarchien und Kompetenzzuschreibungen zu verändern. Denn dadurch wird den Interessen derjenigen Akteur:innen nicht Genüge getan, deren Lebensumstände es nicht erlauben, eine Vollzeitstelle mit tradiertem Kompetenz-/Leistungsspektrum auszufüllen. Wenn wir Inklusion und Diversität als Bedingung demokratischer Strukturen im Kulturbetrieb denken wollen, dann muss es auch darum gehen, wie die weniger machtvollen und sozial begehrenswerten Positionen in Ausstellungshäusern wahrgenommen, wertgeschätzt und produktiv gemacht werden können. Dies ist auch ein Weg, um Zugänge zu beruflicher Entwicklung in Kulturinstitutionen zu schaffen für Menschen, die in ihren (scheinbaren) Peripherien tätig sind, wie zum Beispiel die Aufsichten, das Sicherheitspersonal oder Mitarbeiter:innen im Kartenverkauf. Die Teilhabe derjenigen, die in diesen Arbeitsbereichen tätig sind, wird heute oftmals durch Klassismus beschränkt,[9 ] obwohl sie insbesondere in den Bereichen Inklusion und Besucher:innen-Forschung einiges an Einsichten beizutragen haben (vgl. Gottschalk 2017). Im aktuellen Management-Diskurs und in der Diskussion um die Strukturierung von Institutionen als gesellschaftliche Allgemeingüter – auch Commons [10 ] genannt – bildet die Frage, wie Hierarchien abgebaut werden können und Macht verteilt werden kann, einen wesentlichen Baustein (vgl. Helfrich 2012 sowie Borsch und Borsch 2019). Wenn alle an institutionellen Prozessen Beteiligten als Teil des Teams angesehen werden und sie die Aufgaben themenorientiert untereinander verteilen (anstatt weitgehend alleingelassen jeweils ihr eigenes Rollenverständnis definieren zu müssen), dann entsteht eine verteilte Machtstruktur oder auch Heterarchie (vgl. Moser 2017).[11 ] Heterarchien werden dort gefördert, wo Teams eigenverantwortlich und projektbezogen arbeiten können. Die projektbezogene Teilung von Aufgaben und die gleichberechtigte Einbindung angestellter und freier Mitarbeiter:innen ermöglichent auch Menschen mit begrenzten Kapazitäten oder Kompetenzen, Aufgaben verantwortungsvoll zu übernehmen. Eine heterarchische Organisationsstruktur garantiert somit Zugänge zu mehr Inklusivität und Diversität innerhalb von Institutionen. Ein einfacher Weg, Machtstrukturen zu verteilen und so die Entstehung von Heterarchien zu ermöglichen, ist die Bezahlung von Sitzungsgeldern für diejenigen, die nicht angestellt sind (oder deren Jobs an Institutionen keine konzeptuelle Arbeit umfassen).[12 ] Eine solche Struktur, in der externe Dienstleister:innen, freie Mitarbeitende und Angestellte miteinander aufgabenbezogen arbeiten, ermöglicht es Institutionen, in einem direkten Informationsaustausch mit allen Teilhabenden zu stehen. Eine solche Struktur hilft auch denjenigen, die als Freie (nicht weisungsgebunden, aber auch nicht eingebunden) sonst oftmals außerhalb der Struktur stehend ihre Rollen individuell und in ihrer Freizeit verhandeln müssen. Nicht nur im Rahmen der rechtlich ungeklärten Situation bezüglich Scheinselbstständigkeit wäre es sinnvoll, auch mit freien Mitarbeiter:innen Arbeitsverträge zu schließen und in diesem Rahmen Sozialversicherungsbeiträge zu übernehmen, wie es laut einer Umfrage des Schweizerischen Verbands für Personen und Institutionen, die in der Kulturvermittlung im Museum und verwandten Feldern aktiv sind (mediamus), bei der Mehrzahl der Schweizer Kolleg:innen bereits der Fall ist (vgl. Kulturevaluation Wegner 2020). Für die Arbeit in solchen Gremien mit verteilten (heterarchischen) Machtstrukturen bietet sich die Etablierung einer Konsent-Kultur an: Ein Konsent geht vom kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gruppe aus. Ein Konsent bedeutet: Es muss weder zu allen Fragen ein Konsens gefunden werden, noch werden Mehrheitsentscheidungen getroffen, noch entscheidet die höchste Hierarchieebene final. In Konsent-Entscheidungen dürfen alle gleichberechtigt sprechen. Wer einen begründeten Vorbehalt hat, kann diesen anmelden – und es wird so lange nachgebessert, bis alle an einer Entscheidung Beteiligten diese mittragen können, wenngleich sie vielleicht keine Fans davon sind oder (noch) keine qualifizierte Meinung zum Thema haben. Auch wenn es unserer hierarchisch geprägten Organisationskultur paradox erscheinen mag, sind solche in Gruppenprozessen gefundenen Entscheidungen, in denen alle Beteiligten gehört werden und (Teil-)Verantwortung übernehmen können, schneller und effektiver als die teils schwierige und auf große Widerständen stoßende Top-Down-Vermittlung von Entscheidungen in hierarchisch strukturierten Organisationen (vgl. Rosenberg 2016). Die Einrichtung solcher institutionellen Räume der Selbst- und Mitbestimmung verlangt ein intensives Nachdenken darüber, wer eigentlich von einer Entscheidung betroffen ist, somit gehört werden und mitentscheiden muss und dementsprechend auch für diese Arbeit zu bezahlen ist (Dreher 2013: 26). Die Einbindung in Prozesse erleichtert freien Akteur:innen die Teilhabe an Meinungsbildungsprozessen und damit auch die Selbstorganisation und Qualitätssicherung, da sie so das Zuhören, die Vertretung ihrer Perspektiven und das Netzwerken mit angestellten Vertreter:innen der Institutionen nicht mehr – wie aktuell meist üblich – in die Ehrenamtlichkeit verlagern müssen. Die vorgeschlagene Re-Organisation von Institutionen und Projektprozessen in Heterarchien birgt mittelfristig das Potenzial einer Stärkung demokratischer Strukturen aus dem Inneren der Kulturinstitutionen heraus. Als eigenständige Akteur:innen mit der Gewissheit, dass ihre Stimmen zählen, können so auch die Freien auf andere und neue Arten und Weisen Programme denken und durchführen, die das bestehende Selbstverständnis kultureller Akteur:innen auch mit den Besucher:innen gestalten (Mantel 2017). Mirl Redmann ist Essayistin und Wissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkten in internationaler Vernetzung und Kulturen des Gastgebens. Seit 2017 arbeitet sie als freie Kunstvermittlerin in Kassel, unter anderem für die Kunsthochschule, das Inter-Art Programm der Universität, die Kunsthalle Museum Fridericianum und documenta gGmbH sowie als Mediatorin für die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber in Hessen. Literatur 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft, 2018–2023. https://www.360-fonds.de/. (Zugriff: am 25. Oktober 2021). Anonymous, 2019. „Arts + All Museums Salary Transparency 2019.“ Google-doc. 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Kulturevaluation Wegner, 2020. „Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf die Arbeitsbedingungen von Kulturvermittler*innen an Schweizer Museen: Kurzversion der Hauptergebnisse.“ Mediamus -– Schweizerischer Verband für Personen und Institutionen, die in der Kulturvermittlung im Museum und verwandten Feldern aktiv sind. https://mcusercontent.com/cb04098626b7b14f072ec69e1/files/06dae0dc-ab6b-4934-a576-a7dc28d5d567/Umfrageergebnisse_mediamus.pdf. (Stand: 3. Juli 2020). (Zugriff: am 25. Oktober 2021). Künstlersozialkasse, 2020. „KSK in Zahlen.“ https://www.kuenstlersozialkasse.de/service/ksk-in-zahlen.html. (Zugriff: am 25. Oktober 2021). lab.Bode — Initiative zur Stärkung der Vermittlungsarbeit in Museen, 2017-–2021. https://www.lab-bode.de/. (Zugriff: am 25. Oktober 2021.) Liersch, Anja; Evers, Friederike und Weißmann, Sarah, 2021. „Bildung und Kultur: Spartenbericht Bildende Kunst.“ https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Kultur/Publikationen/Downloads-Kultur/spartenbericht-bildende-kunst-5216102219004.pdf;jsessionid=6900A7718058EA3411432FA0853C9376.live721?__blob=publicationFile. (Zugriff: am 25. Oktober 2021). Malez, Sandra; Kollar, Elke und Spicker, Caroline, 2019. „Salzburger Erklärung: Österreich, Deutschland, Schweiz.“ Pressemitteilung. 9. Oktober 2019. https://www.museumspaedagogik.org/fileadmin/Data/Dokumente/Salzburger_Erkla__rung_2019.pdf. (Zugriff: am 25. Oktober 2021). Mantel, Katharina, 2017. „Eine Kunstvermittlung der radikalen Akzeptanz.“ In: Preuß, Kristine und Hofmann, Fabian (Hg.): Kunstvermittlung im Museum: Ein Erfahrungsraum, hg. v. Kristine Preuß und Fabian Hofmann. Münster, New York: Waxmann Verlag GmbH. S. 55–59. Mörsch, Carmen, 2012. „Sich selbst widersprechen: Kunstvermittlung als kritische Praxis innerhalb des educational turn in curating.“ In: Jaschke, Beatrice und Sternfeld, Nora (Hg.): Educational turn: Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung, hg. v. Beatrice Jaschke und Nora Sternfeld, 55–77. Ausstellungstheorie & Praxis 5. Wien: Turia + Kant. S. 55–77. Moser, Michaela, 2017. Hierarchielos führen: Anforderungen an eine moderne Unternehmens- und Mitarbeiterführung. Wiesbaden: Springer Gabler. Priller, Eckhard, 2020. „Von der Kunst zu leben: Die wirtschaftliche und soziale Situation Bildender Künstlerinnen und Künstler 2020.“ Expertise zur 7. Umfrage des Bundesverbandes Bildender Künstlerinnen und Künstler. Berlin: Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler. Rancière, Jacques und Höller, Christian. 2007. „Entsorgung der Demokratie.“ In: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Documenta Magazine N°3: Education, hg. v. Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH, 13–29. Köln: Taschen. S. 13–29. Rosenberg, Marshall B, 2016 [2003]. Eine Sprache des Lebens. Kommunikation Band 1. Paderborn: Junfermann. Ross, Andrew, Hg. 2015. The Gulf: High Culture, Hard Labor. New York: OR Books. Schulz, Gabriele und Zimmermann, Olaf, 2020. „Frauen und Männer im Kulturmarkt: Bericht zur wirtschaftlichen und sozialen Lage.“ Berlin: Deutscher Kulturrat e. V. https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2020/10/Frauen-und-Maenner-im-Kulturmarkt.pdf. (Zugriff: am 25. Oktober 2021). Endnoten [1] Siehe beispielsweise den Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft (BMWi 2020), den Spartenbericht Bildende Kunst des Statistischen Bundesamts (Destatis 2021), den Bericht zur wirtschaftlichen und sozialen Situation Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK 2020). Die Schlussfolgerungen des Deutschen Kulturrats (2021) bieten einen guten Einstieg in die Lektüre, zentral steht auch das vom Kulturrat herausgegebene Buch „Frauen und Männer im Kulturmarkt“ (Schulz und Zimmermann 2020). Bereits zuvor hatten sich einige Initiativen spontan gebildet: Die Hamburger Initiative Muspaeds fordert seit 2019 in einer Bundestagspetition die Aufnahme Kunstvermittelnder in die Künstlersozialkasse, gleichzeitig ging die Berliner Initiative „Geschichte wird gemacht“ in direkte Verhandlungen mit der Kulturverwaltung des Landes Berlin über die Arbeitsbedingungen freier Mitarbeitender an Museen und Gedenkstätten. Seit Oktober 2021 gibt es ein erstes systematisches Forschungsprojekt zu Arbeitsbedingungen im Bereich der darstellenden Künste (Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. 2021). [Zurück] [2] Beispiele für nationale und internationale Initiativen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen Kulturarbeitender umfassen unter anderem: Das anonyme Google-Dokument zur Einkommenstransparenz von Museumsangestellten (2019); US-amerikanische Museumsarbeiter:innen, die sich seit der Corona-Krise auf betrieblicher Ebene zu Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, wie das am Brooklyn Museum oder das am MoMA, die May Day Initiative von Kulturarbeiter:innen auf der documenta 12 , auf die Carmen Mörsch (2012: 59) verweist, sowie den Personalstreik auf der Venedig Biennale in Venedig 2009. Im Rahmen der documenta 14 kam es zum Konflikt um die Bezahlung der Aufsichten in Athen (Kriki 2017) und zur Formulierung arbeitspolitischer Forderungen durch das Kollektiv der doc_14 Workers (2020). Die Gulf Labor Artist Coalition setzt sich seit 2012 auf internationaler Ebene für die Rechte der Arbeiter:innen im Arabischen Golf ein (Ross 2015). Aktuell beschäftigt sich die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Kultur Politik des Bundesverbands Bildender Künstlerinnen und Künstler mit dem Thema „Künstlerisches Einkommen – Blick in andere Länder“ (BBK 2021). Diese Aufzählung ließe sich noch systematisieren und erweitern. [Zurück] [ 3] Was beispielsweise anhand der zunächst eher zögerlich in Deutschland adaptierten Diskussion um Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt unter dem Hashtag #metoo deutlich wurde. [Zurück] [4] Insbesondere der Deutsche Museumsbund und der Bundesverband Museumspädagogik arbeiten eng zusammen, zum Beispiel in der gemeinsam verfassten „Bildungsvision 2020“. Bezogen auf die Integration freier Akteur:innen in der Vermittlung ist insbesondere die „Gemeinsame Erklärung zur freiberuflichen und selbstständigen Tätigkeit für Museen“ wegweisend, verfasst von: Bundesverband freiberuflicher Ethnolog_innen e. V. / Bundesverband freiberuflicher Kulturwissenschaftler e. V. (BfK) / Bundesverband Museumspädagogik e. V. / Deutscher Museumsbund e. V. / VerA – Verband der Ausstellungsgestalter in Deutschland e. V. / Verband Deutscher Kunsthistoriker e. V. (2020). In der „Salzburger Erklärung: Österreich, Deutschland, Schweiz - Gemeinsam für Qualität in der Kulturvermittlung im Museum“ (2019) schlossen sich der Österreichische Verband der KulturvermittlerInnen im Museums- und Ausstellungswesen, der Bundesverband Museumspädagogik (Deutschland) sowie mediamus – Schweizerischer Verband der Fachleute für Bildung und Vermittlung im Museum zusammen. [Zurück] [5] Vgl. die Perspektiven, die im Rahmen der Initiative Fair Pay für Kultur (IG Kultur 2020) und des Fairness-Symposiums des Österreichischen Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (30. September 2021) vorgelegt wurden, sowie die von mediamus beauftragte Studie über die „Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf die Arbeitsbedingungen von Kulturvermittler*innen an Schweizer Museen“ (Kulturevaluation Wegner 2020), ebenso den Leitfaden „Professionell arbeiten im Museum“ (Deutscher Museumsbund e. V. 2019) [Zurück] [6] Neben der bereits zitierten „Gemeinsamen Erklärung zur freiberuflichen und selbstständigen Tätigkeit für Museen“ sind hier insbesondere erwähnenswert der Hamburger Zusammenschluss freier Vermittler:innen am Museum (Muspaeds), das Bündnis „Geschichte wird gemacht“ sowie die doc_14 Workers. Auch der Beschluss „Kultur für Alle“ des 5. ver.di-Bundeskongresses, 22.-28. September 2019 in Leipzig, legt einen starken Fokus auf Selbstständige im Kulturbereich, obwohl Gewerkschaften heute Selbstständige gar nicht vertreten können/dürfen. Und der Deutsche Kulturrat (2021) erhebt die wichtige Forderung an die Bundesregierung, sich für die Initiative der EU-Generaldirektion Wettbewerb einzusetzen, die kollektive Verhandlungen Soloselbstständiger ermöglichen soll, um eine Verbindlichkeit von Vergütungs- und Honorarregelungen zuzulassen. Empfehlungen für Honoraransätze für Kunstvermittler:innen im deutschsprachigen Raum sprechen der Schweizerische Verband mediamus (Empfehlungen_an_Kulturvermittler_innen_KVS), der Österreichische Verband der KulturvermittlerInnen im Museums- und Ausstellungswesen (https://kulturrat.at/fair-pay-reader Zugriff am 25. Oktober 2021)), das Onlinemagazin Museum, Erinnerung, Medien, Kultur (mus.er.me.ku) (https://musermeku.org/honorar-im-kulturbereich/ Zugriff 25. Oktober 2021) aus sowie der Verband der deutschen Kunsthistoriker e.V. (https://kunsthistoriker.org/existenzgruendung/#Ref_Honorarempfehlungen Zugriff 25. Oktober 2020). [Zurück] [7] Das „Nürnberg-Paper: Interkultur -– Globalität -– Diversity: Leitlinien und Handlungsempfehlungen zur Kunstpädagogik / Kunstvermittlung remixed“ (verfasst vom Bundeskongress der Kunstpädagogik 2010–-2012) verweist bereits in der zweiten seiner fünf inhaltlichen Leitlinien auf die „Formung und Wandelbarkeit des Publikums durch viele Faktoren“. Dasselbe muss selbstverständlich auch für das Personal von Institutionen angenommen werden. [Zurück] [8] Die betreffenden Regelungen werden im Betriebsverfassungsgesetz geregelt und sind online über das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz abrufbar. Interpretiert und nutzbar gemacht werden diese von verschiedenen Websites, wie beispielsweise (https://www.mittelstand-und-familie.de/flexibles-arbeiten/gesetze-und-regelungen Zugriff: 25. Oktober 2021). [Zurück] [9] Der Kubinaut – ein online Kooperationsprojekt der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung und der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Berlin e. V. -– plant aktuell ein Themendossier zum bisher kaum beachteten Thema „Klassismus im Kulturbetrieb“ (https://www.kubinaut.de/de/themen/8-diversity-matters/kunst-kommt-von-konnen-beitrage-zum-thema-klassismus-und-soziale/ Zugriff: 25. Oktober 2021). [Zurück] [10] Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinen Kolleg:innen der documenta14 bedanken, die mich in vielfältigen Formaten der Selbstorganisation an die gelebte Praxis gesellschaftlicher Commons herangeführt haben, sowie bei Silke Helfrich, Vera Hoffmann und Johannes Euler vom Commons-Institut in Bonn, deren Anwendung ihrer Überlegungen zu Mustersprachen des Commoning in der Beratung der Neuen Auftraggeber mich überzeugt haben, mich intensiver mit Commonsgemäßem Management zu beschäftigen. [Zurück] [11] Die in didaktischen Zusammenhängen und im Rahmen selbst-selektierender, homogener Gruppen (wie – leider weitestgehend – der Leitungsebene von Museen) nach wie vor als hinderlich angesehene Heterogenität von Gruppen/Gesellschaft, wird in anderen sozialen und auch wirtschaftlichen Zusammenhängen zunehmend als wert- und effektivitätssteigernd betrachtet. [Zurück] [12] Sitzungsgelder sind beispielsweise in der politischen Selbstorganisation von Kommunen üblich, auch wenn sich aus den darüber entstandenen Diskussionen deutlich abzeichnet, dass sie keineswegs ein Allheilmittel sind, sondern strikt auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden müssen. Insbesondere die von mediamus stark gemachte Forderung, alle Honorare und Vergütungen für Freiberufler:innen immer mit dem Faktor 1,5 zu berechnen, um Vor- und Nachbereitungszeiten adäquat mitzudenken. [Zurück] 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Ank 1 Ank 2 Ank 3 Ank 4 Ank 6 Ank 5 Ank 7 Ank 8 Ank 9 Ank 10 Ank 11 Anker 12
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Wurm & Langeweile - Kritische Geschichtsvermittlung in Museen als Praxis der Selbstforschung, Karin Schneider Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Wurm & Langeweile Kritische Geschichtsvermittlung in Museen als Praxis der Selbstforschung Karin Schneider Forschungstag "Was macht das hier?" mit Schüler:innen im Weltkulturen Museum Frankfurt. Foto: Nora Landkammer, Karin Schneider (c) 2017 Der Wurm „[…] Viele aber sagen nichts oder haben die Frage nicht verstanden. Jemand sagt: ‚Was bedeutet Nationalsozialismus?’ Darauf sagt jemand anderer: ‚Das waren Nazis?’ Jemand sagt: ‚Da ist ein Wurm.’ Der Lehrer rettet den Wurm“[ 1] Diese kurze Stelle stammt aus einem Gedächtnisprotokoll, das ich nach einer „Forschungswerkstatt Zeitgeschichte“ in der Ausstellung „Der junge Hitler“ angefertigt habe. Diese Ausstellung war vom 16. April bis zum 31. Oktober 2021 im Nordico Stadtmuseum Linz zu sehen, in dem ich die Vermittlung leite. „Forschungswerkstatt Zeitgeschichte“ ist eines der Schulprogramme, die wir in diesem Museum anbieten. Die Idee ist, dass wir, wenn auch nur punktuell und für einen kurzen Zeitrahmen, mit den Schüler:innen eine forschende Haltung einnehmen – gegenüber der Ausstellung, dem Museum oder in Bezug auf bestimmte von der Ausstellung selbst aufgeworfene Fragestellungen. Im Fall der Ausstellung „Der junge Hitler“ ging es uns auch darum, die in dieser Ausstellung nahegelegte Fokussierung auf die Figur „Hitler“ zu befragen und zu dekonstruieren. Mit dem Vermittlungsprogramm „Forschungswerkstatt“ beziehen wir uns auf das Konzept „The Right to Research“ von Arjun Appadurai, in dem er argumentiert „[…] that research be recognised as a right of a special kind – that it be regarded as a more universal and elementary ability” (Appadurai 2006: 161). Appadurai beschreibt „Forschung“ eine allen Menschen innewohnende „Fähigkeit, die Disziplin aufzubringen, jene Dinge genauer zu untersuchen, die wir noch nicht wissen, aber wissen müssen“: research is a specialised name for a generalised capacity, the capacity to make disciplined inquiries into those things we need to know, but do not know yet. All human beings are, in this sense, researchers, since all human beings make decisions that require them to make systematic forays beyond their current knowledge horizons. (ebd.). In diesem Fall eben in Bezug auf die tiefe Verknotung der Linzer Gesellschaft in die Geschichte von Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus. Wenn ich Protokolle von Workshops verfasse und diese dann mit unterschiedlichen Kolleg:innen[ 2] genauer lese und zu verstehen versuche, dann behaupte ich dieses Recht auch für die Position der Vermittlung selbst. „Wir wissen nicht und müssen wissen“ (vergl. Zitat oben, Appadurai 2006: 161), was unsere Methoden erzeugen, was im Ausstellungsraum zwischen Objekten, Gruppe und Vermittlung passiert. Kritische Vermittlung bedeutet daher, ein immer präziseres Verständnis ihrer verwirrenden, unerwarteten und widersprüchlichen Momente zu gewinnen. Dafür bedarf es einer Haltung des Erstaunens gegenüber der eigenen Praxis, die ebenso mit viel Sorgfalt und Disziplin gelernt und entwickelt werden muss. Ich habe die obige Protokollstelle aus ihrem Zusammenhang genommen und ausgewählt, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn ein eigenartiges Unerwartetes eine Situation unterbricht – eine plötzlich auftauchende Kraft der Welt draußen, der Wurm. Unterbrechungen dieser Art verweisen zunächst darauf, dass die von dem /der Vermittler:in vorgeschlagenen Aktivitäten nicht immer für alle wichtig sind, jedenfalls nicht so wichtig wie die Dinge der materiellen Welt. Manchmal ist es in dem Raum, in dem wir uns befinden, einfach zu heiß oder zu stickig; manchmal lullt die Stimme der Vermittlerin / des Vermittlers ein oder ist überengagiert, voll der aufgeregten Erwartung und bringt als abwehrende Reaktion darauf vielleicht Schlaftrunkenheit oder Ablenkung hervor. Der zitierten Sequenz geht offensichtlich eine Frage der Vermittlerin an die Gruppe voraus, die von vielen der Anwesenden nicht verstanden wird, zumindest wird das Schweigen der Schüler:innen von der Vermittlerin vor allem auch in diese Richtung interpretiert. In dieses Schweigen laden die Teilnehmer:innen die Banalität der realen Welt ein, indem sie dem Wurm Aufmerksamkeit schenken. Diese Szene verweist für mich auch darauf, dass hier ein Thema verhandelt werden soll, das mit Momenten von Wissensdruck und moralischen Erwartungen aufgeladen ist: In solch eine Ausstellung kommen die Schüler:innen vielleicht von der/dem Lehrer:in vorbereitet und sollen (aus der Sicht der Lehrer:innen) zeigen, was sie wissen. Sie vermuten wahrscheinlich, dass man hier viel „falsch machen“ kann, sie können spüren oder wissen ohnehin, dass Nationalsozialismus kein Thema ist, zu dem man einfach losplaudert. Freie Assoziationen, wie wir sie aus der Kunstvermittlung als produktive Methode kennen, scheinen hier fehl am Platz. Dennoch möchte ich die Frage des einen Schülers „Was bedeutet Nationalsozialismus?“ nicht nur als reine Verständnisfrage sehen, sondern auch als Angebot an die Vermittlungssituation, hier genauer in die Tiefe zu bohren: Was bedeutet es eigentlich?[ 3] Das Auftauchen des Wurms verhindert, dass wir den gestellten Fragen weiter auf den Grund gehen. Er steht daher auch für die Schwierigkeit einer solchen Vermittlungssituation, damit umzugehen, was Sharon Macdonald unser „difficult Heritage“ (problematisches, schwieriges Erbe) nennt (vgl. Macdonald 2008). Gleichzeitig ermöglicht diese Unterbrechung eine Neukonfiguration des Sprechangebots. Tatsächlich halte ich selbst kurz inne und sortiere mich neu. Im Protokoll geht es dann unmittelbar so weiter: „Daraufhin ist mir klar, dass ich nun improvisieren muss. Ich bitte sie, das Blatt umzudrehen und für eine Minute alles aufzuschreiben, was ihnen zu Nazi einfällt. ‚Auch das, das ist keine Geschichteübung, es geht nur darum, was ihr denkt, schreibt auf, was ist typisch Nazi, was ihr denkt.’“ An dieser Stelle greife ich einen von ihnen vorgeschlagenen Begriff auf und versuche, an ein von mir vermutetes alltagskulturelles Wissen anzuschließen, und sie herauszufordern, dieses preiszugeben. Was denken sie, wenn sie das Wort „Nazi“ verwenden? Ist es ein Schimpfwort? Hat dies mit ihren Alltagserfahrungen zu tun? Immerhin gehören sie größtenteils nicht der Mehrheitsgesellschaft an, alle Kinder haben einen merkbaren Akzent, wenn sie Deutsch sprechen, viele sind im sprachlichen Ausdruck und der Wortwahl unsicher. Die Sequenz mit dem Wurm steht für mich für das unerwartete Momentum in der Vermittlungsaktion, für das zugleich Triviale und Außergewöhnliche und damit auch für eine Schwelle, eine Krise, eine Veränderung im Ablauf. Dadurch kann in diesem Fall ein Lernprozess aufseiten der hier agierenden Vermittlerin evoziert werden – ich musste improvisieren und ernst nehmen, mit wem ich hier den Lernraum herstellte. Erst durch viele Analysen dieser Stelle wurden für mich meine eigenen Erwartungshaltungen und Ansprüche sichtbar. Es bedurfte des Einbruches des konkreten Realen, damit auch ich Platz machen konnte für das, was ist. Erst im Reflexionsprozess verstand ich, dass die Schüler:innen hier Fragen aufgeworfen hatten, die es wert gewesen wären, stärker ernst genommen zu werden, als es mir im Moment des Agierens möglich war. Performing Langeweile „Das Handout, das Julia diesmal über Kolonialismus gemacht hat, wirkt immer noch abstrakt und schulisch, und die Zeit, in der wir das Handout durchgehen, zieht sich. Mir fällt vor allem ein Junge auf, von dem ich das Gefühl habe, er ist besonders unmotiviert. […]“ Diese Stelle stammt aus einem Gedächtnisprotokoll, das ich nach einem der von mir durchgeführten Workshops „Was macht das hier?“ verfasst habe. Dieses von Julia Albrecht, Nora Landkammer und mir im Rahmen unserer Aktionsforschung im Weltkulturen Museum Frankfurt entwickelte Workshopformat hatte zum Ziel, Schüler:innen in eine Auseinandersetzung zur Herkunft von Objekten, deren kolonialer Geschichte und die damit verbundenen Debatten um Restitution und Repatriierung zu verwicken.[4] Auch in diesem Fall wird eine Anfangssequenz beschrieben, in der das Thema nicht so richtig ins Rollen kommen will, und auch hier wollen wir mit Schüler:innen über unsere schwierige Geschichte sprechen: die des Kolonialismus. Meine Analysen der von mir durchgeführten Workshops zeigen, dass sich die in mehreren Protokollen beschriebene Langeweile der Anfangssequenz zu einem späteren Zeitpunkt in Richtung engagierter, hitziger, kontroverser Diskussionen verschieben kann. In diesen wird dann von den Schüler:innen selbst auf Hinweise zurückgegriffen, die zuvor jene zähen Situationen prägten. Ich beginne, mich für diese Transition Points in der Vermittlung zu interessieren, und frage mich, wie es zu verstehen ist, dass scheinbar gelangweilte Schüler:innen plötzlich so in kontroversen, engagierten Diskussionen aufgehen, dass sie kaum zu bremsen sind (vgl. Schneider, 2021: 406). In solchen Momenten zeigt sich in meinen Beispielen auch ein Augenblick dessen, was Nora Landkammer und ich als „Conflict Learning“ bezeichnet haben (vgl. Landkammer, Schneider 2021: 215-235). Transition Points sind weder plan- noch vorhersehbar, und doch manifestieren sie sich nicht vollkommen willkürlich. Sie sind ein gemeinsames Erzeugnis der Gruppe, der Vermittler:innen, der Objekte bzw. der Kunstwerke. Sie entstehen, wenn in dieses Zusammenspiel Realitäten einbrechen, etwas, das aus dem Gleichgewicht bringt und das es notwendig machen kann, Momente aus anderen Sequenzen des Workshops zu aktivieren und sich selbst zu positionieren. Die allen Vermittler:innen bekannten Sequenzen der performten Langeweile führen immer auch Aspekte des Widerstands mit – zum Beispiel gegen die Zumutungen eines Lernsettings, das eigene Bedürfnisse der Lernenden nicht mit einbezieht. An den Transition Points verschieben sich diese Widerstandsaspekte zu Positionierungen, auch im Sinne der Erprobung von Kritik. In meinen analysierten Beispielen wurde dies unter anderem dadurch ausgelöst, dass die Behauptung des pädagogischen Settings („Wir bringen euch etwas bei, das ihr unbedingt wissen müsst.“) von einer Situation abgelöst wurde, die diese nicht mehr aufrechterhalten konnte oder wollte – zum Beispiel dem Gang in das Depot der Sammlung „Afrika“ und einem Interview mit deren Kustodin, in dem diese eigenes Nichtwissen zur Herkunftsgeschichte einzelner Objekte ehrlich und offen mit den Schüler:innen teilte. Dabei handelte es sich um Objekte aus dem Zusammenhang der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika. Die Schüler:innen konnten in diesen Momenten spüren, dass wir hier einen gemeinsamen Raum einer Geschichte von Genozid, Ausbeutung und Raub teilten. „Nicht wissen wollen“ hat in diesem neu konfigurierten Lernraum seine pubertäre Unschuld, sein „Cool“ verloren; vielmehr steht es für Ignoranz und kulturelle Enteignung, die in die Forschungs- und Museumsgeschichte eingeschrieben sind (Schneider 2021: 407). Die Schüler:innen fühlten sich in diese Geschichte verwoben, vor allem insofern sie selbst Langeweile und Wissensignoranz performten. Dass sie dies wahrnehmen konnten, identifizierte ich als jenen Moment im Workshop, der ihren Wunsch zur Positionierung auslöste. Dies zumindest ist meine These, die gleichzeitig auch von meinen Projektionen auf die Schüler:innen getragen ist und daher ebenfalls genauer zu befragen wäre (ebd.407-418). Mikropraxen und Selbstforschung Kritische Vermittler:innen, und ich schließe mich deutlich mit ein, tendieren dazu, ihren Konzepten, Programmen und Formaten eine größere Bedeutung beizumessen als Mikropraxen konkreter Situationen, wie ich sie oben skizziert habe. Nur in diesen jedoch entstehen und zeigen sich die relevanten Prozesse des Lernens und Verlernens. Auf sie müssen wir uns fokussieren, wenn wir in der Entwicklung von Methoden weiterkommen und so eine Relevanz unserer Arbeit behaupten wollen. Dafür jedoch bräuchte es ein Selbstverständnis der Notwendigkeit von Selbstforschung und Selbstreflexion nicht als Ergänzung, sondern als notwendige Grundvoraussetzung. Dies betrifft sowohl die in den Institutionen zur Verfügung gestellten Budgetmittel als auch die Tätigkeiten von freien Vermittler:innen, Initiativen und Projekten. Karin Schneider, Kunstvermittlerin und Zeithistorikerin. Sie leitet die Vermittlung des Lentos Kunstmuseum und des Nordico Stadtmuseum, Linz sowie als Co-Koordinatorin das Projekt MemAct! 2007–2019 Forschungsprojekte, unter anderem MemScreen und conserved memories, Akademie der bildenden Künste Wien, sowie TRACES, Institute for Art Education, ZHdK. 2001–2007 Stabstelle Kunstvermittlung, mumok, Wien. Literatur Appadurai, Arjun, 2006.The right to research. In: Globalisation, Societies and Education 4/2. S. 167–177 Landkammer, Nora und Schneider, Karin, 2021. Conflict learning. Concepts for understanding interactions around contentious heritages. In: Hamm, Marion und Schönberger, Klaus (Hg.). Contentious Cultural Heritages and Arts: A Critical Companion. Klagenfurt/Celovec: Wieser Verlag. S. 213–239 Macdonald, Sharon, 2008. Difficult Heritage. Negotiating the Nazi Past in Nuremberg and Beyond. London: Routledge. Schneider, Karin, 2021. Transition Points der Vermittlung. Forschungs- und Politisierungsmomente in Lernsituationen über Geschichte. In: Endter, Stefanie, Landkammer, Nora, Schneider, Karin, 2021 (Hg.). Das Museum verlernen? Kolonialität und Vermittlung in ethnologischen Museen. Band 2: Praxen und Reflexionen kritischer Bildung und Wissensproduktion. Wien: zaglossus. S. 391–419 Endnoten [1] Auszug aus einem Gedächtnisprotokoll, Ausstellung „der junge Hitler“ im Nordico Stadtmuseum, Linz, Oktober 2021 [2] Ich danke dem Team von MemAct!, insbesonders Wolfgang Schmutz, Irene Zauner-Leitner, Bartosz Duszyńsk, Paul Salmons und Johannes Glack, sowie dem Team der Kunstvermittlung des Nordico Stadtmuseums, insbesonders Cecile Belmont, Korinna Kohout und Gabi Kainberger, für die gemeinsamen Analysen und wertvollen Hinweise. [3] Es ist interessant und etwas beunruhigend, dass ich als Vermittlerin diesen Gedanken erst beim neuerlichen Lesen dieser Stelle habe und nicht in der Vermittlungsaktivität selbst. [4] Diese Aktionsforschung wurde als Projekt der Vermittlung im Weltkulturen Museum Frankfurt im Rahmen des Projekts TRACES (gefördert vom Horizon 2020 Programm der EU 2016–2019) durchgeführt. Aufgesetzt und inhaltlich getragen wurde diese Forschung von der Kustodin für Vermittlung Stefanie Endter sowie von Nora Landkammer, Leiterin des Workpackage education bei TRACES am Institute for Art Education der ZHdK, und Karin Schneider. Ich danke allen Kolleg:innen der Vermittlung am Weltkulturen Museum Frankfurt für die gemeinsame Analyse. Die Gedanken hier und in all meinen diesbezügichen Publikationen verdanken sich ausdrücklich den Reflexionen und Konzeptarbeiten mit Julia Albrecht und Nora Landkammer. http://www.traces.polimi.it (Zugriff: 24.05.2022). 1
- Issue 6 | appropriate!
Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 Bild 5 Bild 6 Ähnlich wie der Begriff der Nachhaltigkeit scheint auch der Begriff der Partizipation immer mehr politisch verwässert und zum Selbstzweck zu werden. Der Architekt Markus Miessen plädiert in seinem Buch The Nightmare of Participation für eine Form der Partizipation, die mit einer politischen und ästhetischen Theorie verbunden ist – eine Koniktpartizipation, eine Verbindung von Partizipation und Agonismus* , in der er ein Potenzial sieht: Es geht darum, Konikte als Chance für Diskussion und Veränderung zu verstehen, anstatt sie zu vermeiden oder zu unterdrücken. Im Interview erklärt er: „Konikt ist für mich jetzt in dem Fall nicht irgendwie negativ belegt, wie etwa ein bewaffneter oder ein physischer Konikt, sondern er ist eine Diskursantwort auf eine Konsenspolitik, die jahrelang gefahren wurde und die in England unter New Labour ihren Höhepunkt hatte und sich dort besonders absurd gezeigt hat.“ In Miessens Erfahrung nutzen Architekturprojekte wie Projekte der Raum- und Stadtplanung Partizipation oft nicht, um Macht demokratisch zu verteilen, sondern um Verantwortung abzugeben und im Nachhinein sagen zu können: Wir haben ja alle gefragt. Dabei bleibt die Frage nach wirklicher Zugänglichkeit, nach einer Abgabe von Autor:innenschaft und Hierarchie oft vernachlässigt. „Wenn zum Beispiel für eine Stadt ein großes neues Projekt geplant ist, in dem sich die Bevölkerung der Stadt mit einbringen kann, werden meistens an Samstagen WorkshopFormate angeboten, wo keiner hinkommen kann. Und dann gibt es diese Runden. Dieses Roundtable-Prinzip fand ich immer ein bisschen schwierig – oder zumindest als einziges Tool schwierig –, weil das für mich auch signalisiert, dass man sich immer noch in diesem Diskurs bendet, dieser ‚Ticking Box Politics‘. Dass versucht wird, Partizipation relativ schnell abzuhandeln als eine Art temporären Möglichkeitsraum, in dem Leute zwar dazukommen, aber es ist im Grunde genommen eine Abendveranstaltung oder eine Gesprächsrunde, nach der sich wieder alle in ihre Realität verabschieden.“ Abseits von einem romantischen Partizipationsbegriff sucht Miessen Ansätze, in denen Kritik produktiv sein kann, in denen Handlungsoptionen und eine interesselose (also nicht auf Eigeninteresse abzielende) gegenseitige Involvierung gefunden werden können. Miessen spricht von einer adisziplinären Praxis, für die er den Begriff des Crossbenching nutzt. Diese ist ein Aufruf dazu, sich nicht herauszuhalten, sondern sich aktiv einzumischen: eine Methode der Zusammenarbeit, in der es unerheblich wird, aus welchen Disziplinen die einzelnen Beteiligten kommen. Einige Ansätze aus dem gleichnamigen Buch sind etwa die Aufnahme von Künstler:innen in Verwaltungsstrukturen, das Sichtbarmachen von Kämpfen in den Bereichen Migration und Antirassismus, das Hinterfragen der weltweiten Verbreitung von Bildern, das Überdenken der Städtebaupolitik, die Erneuerung von bezahlbarem Wohnraum und vieles mehr (Miessen 2016: 70). Miessen besteht dabei darauf, dass auch diese Aufzählung verbessert, umgewandelt, gekapert und in Frage gestellt werden sollte und dass, „wenn man wirklich politisch involviert werden will, die politische Rolle, die man spielen kann, die des einzelnen Individuums ist: man selbst“ (Miessen 2016: 72). Dieses Individuum, das sich politisch einmischt und einbringt, ohne mandatiert zu sein, beschreibt der Autor als einen „uninvited outsider“. „Diese Rolle von dem Außenseiter ist jetzt nicht unbedingt zu verstehen als jemand, der sich explizit und bewusst als Außenseiter platziert, sondern in der Frage, ist man eingeladen oder ist man nicht eingeladen? Ist man mandatiert oder nicht mandatiert? Oder was bedeutet überhaupt, in einer Rolle als Designer ohne Mandat zu agieren? Da geht es auch darum, dass die Projekte darauf aus sind, Verantwortung zu übernehmen.“ In einem ästhetischen Kontext – zu dem auch ästhetische Theorie sowie alle Rollenbeschreibungen wie die von Künstler:innen, Kurator:innen oder Architekt:innen zählen – ist eine Beteiligung an Projekten, und damit auch eine Eigenverantwortlichkeit, nahezu immer gegeben. In einem Umfeld, in dem zunehmend Räume von rechter Seite eingenommen, geschaffen und genutzt werden, stellt sich die Frage, was ästhetische Disziplinen und Praktiken an Gegenentwürfen und Perspektiven herstellen können. Welche Werkzeuge können entwickelt werden, die sich mit Konsens oder Dissens im Sinne einer produktiven Methode zur Entscheidungsndung auseinandersetzen? Miessen interessiert sich hier für den passenden Begriff der Einmischung (Miessen 2020: 73). Dabei geht es ihm um Einmischung an sich, aber ebenso darum, Einmischung von anderen zu ermöglichen. „Für mich war der Begriff der Einmischung deshalb von Interesse, weil er einen Möglichkeitsraum schafft. Man kann endlos lange versuchen, in Raumdiskurse reinzugehen, die bereits existieren, die von Rechten aufgemacht wurden, oder man versucht durch eine Art Gegengewicht andere Räume zu schaffen, die das entweder widerlegen oder die versuchen, andere Möglichkeiten aufzumachen. Da sieht man auch ganz gut, wie begrenzt die Architektur in ihrer Möglichkeit ist, direkt zu agieren oder auch schnell zu agieren. Architektur ist grundsätzlich ein sehr langsames Metier. Wenn man von wirklich gebauter Umwelt spricht, also Architektur als begrenzte, gebaute Umwelt, dann sind das oft Zeitspannen von drei bis fünf Jahren, in denen ein Projekt umgesetzt wird.“ So kann klassische Architektur einer Konjunktur rechter Räume nur wenig oder nur sehr langsam etwas entgegensetzen, während eine kritische Raumpraxis, die auf eine schnell umsetzbare Einmischung und die Einrichtung einer Horizontalität aus ist, effektiver darin ist, Diskursräume und neue Möglichkeiten der Zusammenkunft zu schaffen. Oder eben auch bestehende Strukturen zu kritisieren und zurückzubauen: „Das ist ein Thema im Diskurs über rechte Räume, das sehr wichtig ist, glaube ich, dass man es schafft, diese Thresholds und diese Punkte abzubauen, wo du das Gefühl hast, dass du als Außenstehender erst mal einen bestimmten Punkt überwinden musst, um dich irgendwie einbringen zu können. Und eigentlich ist diese Schwelle normalerweise auch nicht existent oder zumindest nicht hoch. Das sind ja oft psychische Barrieren.“ So bedeutet Einmischung in einem aktuellen Projekt im NS-Dokumentationszentrum München, an dem das Studio Miessen beteiligt ist, dass es nicht nur einen Nachdenk- und Kommunikationsprozess gibt, sondern dass gemeinsam mit der derzeitigen Direktorin Mirjam Zadoff überlegt wird, was es für Möglichkeiten gibt, die Institution neu zu denken. Beispielsweise widerspricht das Design des Eingangsbereichs laut Miessen dem, wofür dieses Haus stehen soll. „Also es soll ja ein Ort der Vermittlung, des Austausches und natürlich auch der Übermittlung von historischem Wissen und historischen Fakten sein, aber so wie das in der Vergangenheit da stattgefunden hat, war das extrem statisch und kam daher belehrend rüber, aber ohne dass irgendein Austausch stattgefunden hat. Das Projekt hatte irgendwann den Working Title Open Doors. Da ging es dann zum Beispiel auch darum, was ich eigentlich für einen ersten Eindruck bei den Besuchenden produziere. Wenn ich eine Institution betrete, in der ich erst mal einzeln durch eine gesicherte Drehtür durchgehen muss, nur um dann in einem Foyer anzukommen, in dem ein total abweisender Rezeptionstresen steht, der mich an eine Ästhetik von Banklialen in den späten Achtzigern erinnert, an dem man mit einer Person hinter Panzerglas durch ein Mikro spricht, ist das nicht gerade niedrigschwellig oder einladend. Und dann ging ein sehr langsamer Prozess los, von zwei Jahren, wo wir im Austausch mit den Architekten, die dieses Haus gebaut haben, immer wieder versucht haben herauszunden, wie man teilweise die Sachen rückbauen kann, wie können die auch ihre Autorenschaft aufgeben, damit wir da interagieren können.“ Das Ausstellungsprojekt eröffnet zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2025 in München. Neben einer diskursiven Möbelarchitektur entstehen eine Vermittlungsetage und verschiedene Formate, die Besucher:innen einbeziehen sollen. In einem weiteren aktuellen Projekt Miessens, den Esch Clinics in Luxemburg, arbeitet das Studio Miessen an konkreten Fragestellungen zur Demokratie und der Zukunft der Stadt. Im Zentrum steht, wie politische Entscheidungsstrukturen konkret verändert werden können und wie eine Zusammenarbeit mit dem politischen Mittelbau funktionieren kann, die über eine Legislaturperiode hinausgeht. Hier liegt ein Fokus auf städtischer Administration, also auf Strukturen, die unmittelbar Entscheidungen umsetzen können. „Da geht es im Grunde genommen darum, über die nächsten drei Jahre Fragen zu Demokratie und Urban Commons zu stellen. Wir haben als Teil des Projekts ein Residency-Programm gegründet, in dem wir über den gesamten Zeitraum mit 65 Akteurinnen und Akteuren aus diversen Feldern und Disziplinen zusammenarbeiten, die wir nach Esch einladen, um mit uns in Gesprächsformaten an konkreten Fragestellungen und Unterprojekten zu arbeiten. Das eigentliche Projekt, an dem wir mit den Esch Clinics arbeiten, ist ein Set of Policy Recommendations, das im Winter 2027 der Politik auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene übergeben wird. Und um zu verhindern, dass die Recommendations einfach in der Schublade verschwinden, machen wir vorher über ein halbes Jahr lang im öffentlichen Raum in Luxemburg eine politische Kampagne, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt und die eine Awareness in der Öffentlichkeit schafft, damit sie medial so präsent sind, dass man sie von politischer Seite nicht ignorieren kann. Das Projekt ist dahingehend horizontal, dass die Öffentlichkeit von Anfang an sehr stark involviert ist.“ In der Fußgängerzone von Esch wurde hierfür ein Satellit gegründet, der als Mischung aus Laden, Lokal, Büro und Diskursraum fungiert, in dem verschiedene Austauschformate stattnden. „Viele von den Akteuren und Akteurinnen, mit denen wir in dem Projekt zusammenarbeiten, arbeiten dann auch an konkreten Projekten mit Gruppen aus der Öffentlichkeit und Stakeholdern in Luxemburg zusammen. Und in diesem Projekt [Democracy Next] arbeiten sie zum Beispiel über zwei Jahre an der Umsetzung von Strukturwandel innerhalb der Verwaltung der Stadt, wo dann eine permanente Citizen Assembly (Bürger:innenversammlung) eingeführt wird. Das ist eigentlich das Projekt, das am meisten Vorarbeit gebraucht hat. Da sind wir schon seit mehr als zwei Jahren dran. Vor allem auf der politischen Ebene habe ich da ein Jahr lang Klinken geputzt und geschaut, dass wir so eine Art Grundstimmung herstellen, damit die politisch Verantwortlichen überhaupt bereit sind, so ein Projekt machen zu wollen. Denn das bedeutet für sie auch, dass sie relativ viel Macht abgeben.“ Diese Citizen Assembly soll langfristig in die Stadtpolitik eingeschrieben werden und so auch Teil des Verwaltungsapparates werden. Die daran beteiligten Personen werden ausgelost und für ihr Engagement, ihr Einmischen und ihr Sicheinbringen kompensiert. „Was ein großes Problem ist und ein Grund, warum diese Strukturen, zum Beispiel unter Tony Blair, nicht funktioniert haben, ist, dass die Leute, die Partizipation als politisches Tool benutzen, dies in dem Wissen tun, dass viele Leute sich gar nicht einbringen können. Wenn es jetzt zum Beispiel einen offenen runden Tisch am Samstagnachmittag gibt, wo gibt es da eine Kinderbetreuung, wie kriegen arbeitende Personen, die von Montag bis Freitag im Büro sitzen, bei denen Samstag der Tag ist, an dem sie alles organisieren müssen, wie kriegen die so etwas überhaupt unter? Nämlich nicht. Und unter der Woche schon mal gar nicht. Das heißt, da sind ökonomische Aspekte und Fragen von Care äußerst wichtig.“ Das alles sind Punkte, die zusammengebracht werden müssen, um ein Design und damit eine Situation zu kreieren, in der es wirklich eine horizontale Möglichkeit der Einmischung geben kann. „Ob die dann tatsächlich wahrgenommen wird, ist natürlich noch mal eine andere Frage. Wie kriegt man es hin, dass sich zum Beispiel wohnungslose Personen auch angesprochen fühlen? Denn bei diesen Sortition-Prozessen (Auslosungsprozessen) ist es so, dass alle Bürger:innen der Stadt ganz am Anfang zunächst eine Einladung bekommen, in der sie angeben können, ob sie grundsätzlich daran interessiert sind, daran teilzunehmen. Und die erhältst du natürlich normalerweise nur, wenn du gemeldet bist, weil sie an deine Postadresse kommt.“ Ergo ist auch die Berücksichtigung von Personen, die postalisch nicht registriert sind, eine Entscheidung, die im Design eine Rolle spielen muss. Markus Miessen is an architect, writer, and Professor of Urban Regeneration at UniLu, where he holds the Chair of the City of Esch. Miessen has previously taught at the AA, The Berlage, Städelschule, USC LA, and has been a Harvard Fellow. His work revolves around questions of critical spatial practice, institution building, and spatial politics. As a spatial consultant, he currently works with The Munich Documentation Center for the History of National Socialism. Amongst many other books and writings, Miessen is the author of “The Nightmare of Participation” and “Crossbenching”. Since 2025, he is also the Dean’s Visiting Professor at Columbia GSAPP, New York. https://studiomiessen.com/ https://culturesofassembly.org/ https://www.nsdoku.de/open-doors https://www.sternberg-press.com/product/agonistic-assemblies/ https://glean.art/articles/agnostic-assemblies Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. Literatur Miessen, Markus, 2012. Albtraum Partizipation. Berlin: Merve Verlag Miessen, Markus, 2016. Crossbenching. Berlin: Merve Verlag Miessen, Markus, Einleitung, 2020. In: Markus Miessen, Zoë Ritts (Hrsg.), Para-Plattformen, S. 72–74. Leipzig: Merve Verlag * Der Mouffe’sche Agonismus ist eine Theorie, die die potenziell positiven Aspekte von Konikten betont. 01 Anker 001
- Issue 3 Night Audition | appropriate
Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Night Audition – das Recht auf Opazität Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Wie passen Vermittlung und Unverständlichkeit / Undurchdringlichkeit zusammen? Auf welche Grenzen, welche Widerstände stoßen wir, wenn wir das Recht auf Opazität[1] in Kunstvermittlungskontexten zur Disposition stellen? Der folgende Text reflektiert einen experimentellen Vermittlungsworkshop, der im Februar 2022 von den Autor:innen dieses Beitrags im Rahmen der Ausstellung „Gods Moving in Places“ in der ifa-Galerie Berlin (2022) realisiert wurde. Der experimentelle Workshop „Night Audition“ eröffnete einen spielerischen Einstieg zum Konzept der Opazität, um dem dekolonialen Anspruch auf Intransparenz und Unverständlichkeit näherzukommen. Der Schriftsteller, Theoretiker, Aktivist und Philosoph Édouard Glissant (1928–2011), Referenz- und Bezugspunkt für „Gods Moving in Places“, verteidigt dieses Recht auf Opazität (das Undurchdringliche). Bringt jede:r das Recht darauf selbst mit? Wie können wir uns zu künstlerischen Arbeiten in Beziehung setzen, ohne sie „verstehen“ zu wollen? Die zweiteilige Ausstellung „Gods Moving in Places“ ergründete das politische Potenzial der karibischen und guyanischen Imagination. Die hier versammelten künstlerischen Arbeiten beschäftigten sich mit den Erinnerungen, Erzählungen und Geschichten, die diese Vorstellungswelt geprägt haben, mit indigenen Mythologien und der gewaltsamen Eroberung des südamerikanischen Kontinents. Der von dem Künstler Mathieu Kleyebe Abbonenc gemeinsam mit Lea Altner zusammengestellte erste Teil der Ausstellung, in dessen Rahmen das Vermittlungsformat realisiert wurde, zeigte Arbeiten von Minia Biabiany, Karl Joseph, Mirtho Linguet, Beatriz Santiago Muñoz, Marcel Pinas, Pamela Colman-Smith und Apichatpong Weerasethakul und war vom 28.01. bis 13.03.2022 in der ifa-Galerie in Berlin zu sehen. Grundlegend für erste Schritte der Vorbereitung – noch vor der Konzeption des Workshopformats – war es, den Kontext der Ausstellung „Gods Moving in Places“ kennenzulernen, um diesen in unserem Vermittlungsformat so gut es ging nahelegen und für die Teilnehmer:innen nachvollziehbar machen zu können. Teil dieser Auseinandersetzung war es, die Konzepte zu Opazität, Tropischer Nacht[2] und Kreolisierung[3] im Werk Glissants, einem der Vordenker des Postkolonialismusdiskurses, in den Denkprozess einzuladen. Édouard Glissant ist ein Name, um den sich Geschichte schreiben lässt: Édouard Glissant, politischer Kämpfer des antikolonialen Widerstands. Édouard Glissant, geboren auf – und im Laufe seines Lebens aufgrund seiner politischen Aktivitäten und Forderungen von seiner Heimat exiliert von – Martinique, einer jener karibischen Inseln, die heute, im 21. Jahrhundert, noch als sogenannte Überseedépartements von Frankreich – als eine Fortwirkung des französischen Kolonialismus – fortbestehen. Im akademischen Umfeld, so auch der Kontext, in dem dieser Workshop entstanden ist, wurde Glissant in den Geistes- und Kulturwissenschaften und – etwas verspätet – auch in den Kunstwissenschaften im Diskurs durchaus angenommen. Konzepte der Kreolisierung und Opazität wurden in vielen Formen produktiv gemacht, nicht nur im Bereich der Antirassismusforschung, sondern weit verzweigt in dekolonialen Praktiken. Praktiken, die sich auf unterschiedliche Weise als Empowerment-Strategien manifestieren wie auch eurozentrische Geschichtsschreibung relativieren. Kann daraus ein Beteiligtsein – im Sinne eines Sich-nicht-herausnehmen-Könnens aus einer rhizomatischen Vernetzung der Weltbeziehungen – initiiert werden? Im akademischen Kontext muss das als Frage formuliert werden. Denn in den mehrheitlich weiß[4] geprägten deutschen Wissenschaftseinrichtungen lässt sich eine Lücke feststellen. Von der Auseinandersetzung mit den philosophischen Begriffen Glissants auf der einen Seite – dem Interesse daran, diese verstehen zu wollen und in theoretischer Arbeit produktiv zu machen – hin zu einer Entfaltung ihrer politischen Wirkung auf der anderen Seite – vergleichbar mit jener Vehemenz, wie sie sich etwa in aktivistischen Kämpfen außerhalb der Institutionen äußert und als politisches Mittel eingesetzt wird – sind kaum Verbindungslinien gespannt. Glissant verband die Opazität nicht ohne Grund mit einem Recht bzw. Anspruch der:des Einzelnen darauf, diese für sich persönlich als eine solche Empowerment-Strategie geltend machen zu können. Den Workshop in die Tat umzusetzen, bot die Gelegenheit, eben diese Lücke etwas anzuheben. Es konnten dabei ein Austausch entstehen und die eigene Positionierung mit Glissants Begriffen und literarischen Beschreibungen in Beziehung gesetzt werden. Worüber schreibt Glissant? Sein Œuvre ist vielseitig und über die Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit sehr unterschiedlich ausgerichtet, dennoch gibt es zentrale Themen: Vielheit und Austausch. Unbewusste „Vermischung“[5] (Bevölkerung, kreolische Sprachen etc.). Nicht eine Wurzel der Geschichte. Vielmehr: Die Weltgesamtheit als ein verwobenes Geflecht von Beziehungen. Eine Annäherung: Tropische Nacht und Opazität In der Ausstellung führte ein kurzes Video von Guy Deslauriers[6] in Glissants Denken ein. In diesem Filmporträt entwickelt Glissant seine Gedanken zur „tropischen Nacht", ein Konzept, das sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht: „I think that... the tropical night, for the people who were once deprived, colonised and oppressed, is the time when we challenge history, when we fundamentally challenge history.” Und weiter: „In the tropical night, waves of potpourri float on the air. There are waves of smells, and there are waves of shapes that move. They go away, they walk, they come to us and they speak to us.“[7] Er entwirft die tropische Nacht als einen Raum, der uns Zugang zu anderen Wissensformen und anderen Ebenen der Wirklichkeit ermöglicht. Der Ausstellungstitel „Gods Moving in Places“, einem Interview mit dem karibischen Autor Wilson Harris entlehnt, bezieht sich auf die Geister und Wesen, die aus der tropischen Nacht hervorgehen und uns auf andere Art und Weise „informieren". Die Undurchdringlichkeit der tropischen Nacht mit ihren Geistern führt uns zum Konzept der Opazität, das ein zentraler Bestandteil von Glissants Weltsicht ist. Forderungen nach Opazität beschreiben das Recht des Einzelnen, sich dem Zugriff, der Einordnung und der Kategorisierung von außen zu entziehen. Wir entfernen uns mithilfe der Opazität (nach Glissant) von einer vor allem westlich geprägten Verwendung der „Transparenz“ (im Hinblick auf die Erfahrung der Sklaverei und der nachwirkenden Traumata), die jeden Aspekt des Lebens nach eigenen Klassifikationsmodellen zu beurteilen und einzuordnen versucht. Dadurch lernen wir, dass nicht alle Kategorien fixierbar sein müssen. Wichtig ist, dass es sich hierbei nicht um eine Kritik am Bedürfnis nach Verständlichkeit per se handelt, sondern darum, diese Verständlichkeit als Voraussetzung für ein Miteinander darzustellen. Ausgeführt: die Vermittlung Für das Vermittlungskonzept wurde ein Ablauf entworfen, der die Teilnehmer:innen in zwei Bewegungen des Sammelns und Ausschwärmens im Galerieraum in ein Spiel der Handlungen und Interaktionen versetzen sollte. Auf ein Set von 50 Karten wurde jeweils ein Zitat von Glissant geschrieben und mit einem Handlungsimpuls in Verbindung gebracht. Diese Karten luden die Teilnehmer:innen ein, sich der Ausstellung aus einer bestimmten Perspektive – gewissermaßen durch die poetische Brille Glissants – zu nähern. „Mit dem Archipelischen Denken kennen wir die Steine in den Bächen, bis zu den kleinsten von ihnen, und wir betrachten die Schattenlöcher, die sie zeigen oder verdecken.“[8] (Édouard Glissant) Aus diesen Perspektiven heraus kamen Handlungen und Interaktionen sowohl zwischen den Kunstwerken und den bereitgestellten Materialien als auch zwischen den Teilnehmenden des Workshops zustande. Dies ermöglichte eine neue, vielleicht im besten Sinne Glissants, chaotische Kontaktaufnahme innerhalb des Ausstellungsraums. Eine, die sich um die Beteiligten schlang und die sich zeigte, zwischen den Mitteln unserer Wahrnehmung und des aneinander und am Außen Festhaltens, des sich einander Ausdrückens. Etwa, in dem ein:e Teilnehmer:in den Impuls, die Schattenlöcher im Raum zu skizzieren, in eine Markierung der von der Lichtregie der Ausstellungsarchitektur unberücksichtigten Raumnischen übersetzte, während ein:e andere:r eben diese Nischen mit der Frage nach den eigenen Intransparenzen kommentierte. Ein Akt der Durchmischung des Ausstellungsraums und seiner Konstellationen. All dies veränderte die Herangehensweise an die künstlerischen Arbeiten im Raum. Zugleich wurde jede Karte in gewisser Weise zu einer Ansichtskarte, geschaffen in dem Moment, in dem sie in der Ausstellung in Beziehung gesetzt bzw. gelegt wurde. „Relation contaminates, sweetens, as a principle, or as flower dust.”[9] (Édouard Glissant) Von Sinnen im Raum Eine raumgreifende Installation der Künstlerin Minia Biabiany strukturierte den Galerieraum: Ein aus Erdlinien gewebtes Muster leitete die Besucher:innen durch die Ausstellung; darin kreisrunde, schwarze Wasserflächen, die Bilder, Stimmungen, Bewegungen im Ausstellungsraum spiegelten und Blicke zurückwarfen. Auch die Projektion des Videos „Pawòl sé van“ (2020), in dem die Künstlerin die Widerstandsfähigkeit der Natur der karibischen Inselgruppe Guadeloupe angesichts der fortwährenden Ausbeutung durch die Plantagenwirtschaft und der Kontamination durch Pestizide poetisch untersucht. Nach der ersten Intervention der Teilnehmenden im Raum schwebt ein weißes Papierbötchen auf einer der Wasserstellen. Eine Grenzüberschreitung? Darf man das? Tun wir der Arbeit der Künstlerin damit Gewalt an? Stören wir damit das kuratorische Konzept? Aber, wirft eine Teilnehmerin ein, will Kunst nicht genau das – eine Reaktion hervorrufen? Es geht darum, sagt eine andere, die Irritation auszuhalten, die Grenzverschiebung wahrzunehmen, anstatt zu bewerten. Und dennoch: Ist nicht überhaupt die ganze durch das Vermittlungskonzept vorgeschlagene Lesart einer Ausstellung durch Zitate eine gewaltvolle Brille, die den kuratorischen Gestus verfälscht? Und tun wir Glissants Arbeit Gewalt an, wenn wir Zitate ihrem Kontext entreißen? In der zweiten Durchmischung werden Zitatkarten zerrissen, transformiert, in den Raum gestreut. Ich möchte das Recht auf Opazität willkommen heißen. Ich möchte meine und die Wahrheiten meiner Mitmenschen nicht auf das Maß einer einzigen Transparenz reduzieren. Denn das, was nicht zu durchschauen ist und verborgen bleibt, kann über Klarheit verfügen. Unverständliches besitzt Unmissverständlichkeit. Dahingehend vermittelt uns die Opazität keine Gesetzlosigkeit, sondern jedes Individuum bestimmt den eigenen Rahmen dessen, was preisgegeben werden soll. Somit kann dieser Grundgedanke oberflächlich divergente, jedoch gleichwertige Details von den Orten der Welt versammeln, ohne einige von ihnen herabzusetzen und andere aufzuwerten. Aufgrund dessen entstehen im zugänglichen Raum der Möglichkeiten facettenreiche Dimensionen des Seienden, wodurch die Reduktion auf eine allumfassende sowie kategorisierende Logik überflüssig wird. „Die Spur ist auch gangbare Form dieses Wissens. Man folgt ihr nicht, um auf bequeme Wege zu gelangen, sie bestimmt zu der ihr eigenen Wahrheit, nämlich der Explosion, die verführerische Norm in Alles aufzulösen.“[10] (Édouard Glissant) Das Einfordern eines Rechts auf Opazität stößt auf Widerstand. Das Verstehen-Wollen, das Nachvollziehen-Wollen, das Wissen-Wollen, der Wunsch nach Durchschauen und Begreifen ist mächtig. Plötzlich steht unsere westliche Monstranz – die Aufklärung – zur Disposition. Ein:e Teilnehmer:in ist besorgt: Müssen wir jetzt unseren Herder vergessen? Die Verteidigungsrhetorik wird in Stellung gebracht, das einst mühsam gelernte und anerkannte Vokabular ausgepackt. Wir antworten mit eben jenen Schattenlöchern. Während sie in der Phase der Durchmischung den Blick dahin lenkten, wo die Ausstellungsmacher:innen ihn nicht haben wollen – in die versteckten Winkel; in die dunklen Ecken; auf die Rückseite des Displays –, lenken wir nun den Blick auf die Schattenlöcher der Aufklärung. Auf ihre Abgründe, ohne die sie nicht zu denken ist. Auf ihre Verstrickung in „Praktiken kolonialer Vermessung, Eroberung und Unterwerfung der Welt“[11] . Auf die mit der Aufklärung verbundene wissenschaftliche Einordnung, Kategorisierung und Hierarchisierung von Wissensbeständen, die den Weg zu ihrer gewaltvollen Aneignung und Ausbeutung ebneten. Die Aufklärung verlernen? Verlernen bedeutet Verlust. Und Verlust schmerzt. Schmerz führt zu Widerstand. Widerstand ist also ein Zeichen, dass etwas in Bewegung gerät. Widerstand kann sich zeigen, indem sich Teilnehmer:innen entziehen und verweigern. Auch darin liegt ein Recht auf Opazität, das anzuerkennen ist. „Denn du hast das Recht unverständlich zu sein, zuallererst für dich selbst.“[12] (Édouard Glissant) Manuel Bendig, Linus Jantzen und Annika Niemann interessieren sich für machtkritische, kollaborative Denkprozesse und Vermittlungspraktiken in Form von künstlerischer Forschung. Manuel Bendig studiert im MA Kunstwissenschaften an der HBK Braunschweig. In seinen Arbeiten geht es um intersektionale, künstlerische Forschung an den Schnittstellen zu dekolonialen Praktiken, Institutionskritik, queer studies und Fototheorie. Linus Jantzen studiert im MA Kunstwissenschaften mit einem fototheoretischen Schwerpunkt an der HBK Braunschweig und beschäftigt sich in seiner eigenen künstlerischen Praxis mit Motiven des Vergessens und „Vergessenwerdens“. Annika Niemann ist Kunstvermittlerin, Kulturagentin für kreative Schulen Berlin und zurzeit Verwaltungsprofessorin für Kunstvermittlung am Institut für Performative Praxis, Kunst und Bildung der HBK Braunschweig. Endnoten [1] Das „Recht auf Opazität“ wird von Édouard Glissant benannt und eingefordert, vgl. Glissant, Édouard, 1997. Poetics of Relation. Michigan Press. S. 187 ff. [2] weiterführend zu Tropischer Nacht siehe S. 3 [3] Zu Kreolisierung schreibt Glissant – übersetzt ins Deutsche – wie folgt: „Sie ist eine Mischung, insbesondere eine Mischung der Kulturen, die Unvorhersehbares herstellt.“ Glissant, Édouard, 2005. Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Wunderhorn. S. 81 [4] weiß ist hier als politischer Begriff kursiv gesetzt, um diese soziale Konstruktion, die strukturell mit Privilegien und rassistischen Hierarchien verbunden ist, klar zu markieren. [5] „Vermischung“ als eine Erfahrung von Kreolisierung, die nur als unbewusste, mit einem ungewissen Ausgang, geschieht. [6] Deslauriers, Guy/Glissant, Édouard, 1996. Édouard Glissant. Un siècle d´écrivains. Film director: Guy Deslaurier. Video, 4 min. [7] ebd. English subtitle [8] Glissant, Édouard, 2021. Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite. Wunderhorn. S. 38 [9] Glissant, Édouard, 1997. Poetics of Relation. Michigan Press. S. 185 [10] Glissant, Édouard, 2005. Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Wunderhorn. S. 52 [11] Broeck, Sabine, 2011. Aufklärung. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.). (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache – Ein kritisches Nachschlagewerk. Unrast Verlag. S. 232 [12] Glissant, Édouard, 2021. Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite. Wunderhorn, S. 58 1
- Issue 2 Wydrowska | appropriate
Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Queer Activism in Poland's split society Political education through Bożna Wydrowska's performance artworks Pinar Dogantekin "Everyone has to take the side, you can feel it in everyday life." With the assumption of power by law and justice in Poland, society has become more polarized. The current government, led by president Andrzej Duda, controls the state media only showing news and shows with an undemocratic view on the LGBT+ community but also a traditional picture of what a Polish woman ought to be like. "The medial situation is making citizens' views more extreme", the young artist Bożna Wydrowska explains. Today, a growing number of journalists seeks political and economic refuge on the internet. Due to the increasing censorship of government privatizing media and preventing journalists and civilians from criticizing its actions Poland has a problem with freedom of opinion. Right-wing conservative politics appeals to a part of society but the other half is completely against it. Bożna Wydrowksa describes a national feeling of being pressurized. “Everyone has to take the side, you can feel it in everyday life“, she explains. Being gender fluid themself, Bożna Wydrowska deals a lot with the situation of Polish LGBT+ community being targeted by law and justice which promote the traditional and catholic family model. The current government not only excludes the entire LGBT+ community. Creating so-called LGBT+ -free zones, the president gave a statement regarding the LGBT+ community calling them an ideology more harmful than communism. But the government also bends women's rights by considering declarations regarding the withdrawal from the Istanbul Convention, enforcing a near-total abortion law and not protecting women when experiencing physical violence. “Ballroom and voguing led me to the topic of redefining gender.“ Not only as a political activist but also as a political artist Bożna Wydrowska knows about the influence artworks can have in and on society. Most Polish artists are now politically involved in the fight against the current system while law and justice have been taking over and censoring cultural institutions for some time now promoting its right-wing ideology. “The world of arts is very much needed now because it is the only way to directly reach and communicate with recipients from various environments“, Bożna Wydrowska says. Wydrowska expresses feelings and thoughts by performing art. As a ballroom and voguing dancer and teacher they integrates her knowledge about these powerful themes. Ballroom culture originated in the 1970s among the underground BIPoC queer community of New York City. The first mentions of drag balls appeared in the second half of the twenthieth century; at that time they were huge shows for several thousand people. But although this was a place of integration for the queer community, it was still subject to strong racial inequalities. After some time, the black queer community decided to create balls on its own terms. Ballroom consists of categories that reflect its lived experiences through performance and dance. Voguing is a dance form that comes from improvisation; it also emerged in the community in the 1970s. Inspired by the style of ancient Egyptian hieroglyphs and the famous images of models in Vogue magazine, voguing is characterized by striking a series of poses as if one is modeling for a photo shoot. Arm and leg movements are angular, linear, rigid, and move swiftly from one static position to another. The story of voguing starts with ballroom icon Paris Dupree. “One day as he was listening to music while flipping through a Vogue magazine, he noticed the different poses that the models were doing and took them and decided to imitate those poses to music. Sometimes holding different poses to the music. He began doing this new dance at the clubs and at the balls. That is how Vogue was introduced into the ballroom scene.“ (Jamal, 2017) Voguing offers a chance for a broader exploration of gender identity and articulation of sexuality. In 2012 Bożna Wydrowska was one of the first artists who introduced this culture to the wider public in Poland by teaching classes, organizing workshops, and giving lectures. “Ballroom culture has given me not only a new chosen family but also a new perspective and strategies on examining machinery of the social relations beyond the culture. It led me to the topic of reclaiming and redefining masculinity and femininity regardless of gender and also pushed me to experiment with different images, transforming my body to become my own fantasy and that of others“, the young artist explains. In 2016 Bożna decided to start organizing balls in Warsaw into which she engaged Polish DJs and dancers as well as guests from abroad. The goal was not only to popularize the ballroom culture in Poland and the local club scene but also to create a safe space for everybody who feels excluded from society. As ballroom culture and voguing have always been a form of protest fighting against race, class, gender and sexual oppression Bożna Wydrowska has begun adopting a similar strategy in the Polish ballroom community after the intensification of homophobic and nationalist movements related to the change of the ruling party in Poland. It became a creative response to the dangers against the political and social background. After strong repressions against the Polish LGBT+ community and women's rights ballroom has become a form of performing resistance and rebellion against the system. How everyone's body can help to reshape the understanding of the world As the body itself is the basis for Bożna Wydrowska‘s artwork they interprets it as the “essential ground of human identity“. The message of the artwork achieves to have a real impact on social life: “Our bodily encounters with the physical environment shape and reshape our understanding of the world. I believe our bodies are as public and important as our thoughts and opinions. Body in motion is a powerful tool to fight against social and political oppression.“ Currently artists are facing big challenges in Poland's political situation. Artistic institutions become more and more controlled. The current censorship does not allow many young artists to speak up in the public discourse. “The consent to fascist behavior in the Polish public sphere is disturbing“, Bożna Wydrowska says. Unfortunately, especially female artists suffer from financial stress. The art market itself reproduces this poverty, often refusing to pay artists for work, or proposing really small budgets. Also the government’s subsidies for artistic activities are very small. “That is why it is so important to create bottom-up mechanisms of solidarity and mutual support, to set up cooperatives and collectives, and to enable them to join work outside institutions“, Bożna Wydrowska appeals. 27- year-old performance artist, dancer and model Bożna Wydrowska is a socio-political activist fighting against political oppression and hierarchies in Poland. The graduate of Warsaw Academy of Fine Arts expresses herself as a sometimes more fluid, sometimes more unidentified and sometimes more feminine experimental identity in a society that is controlled by a conservative party. References Amnesty Journal, 2021. Polen- Gehen oder bleiben? https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/polen-gehen-oder-bleiben (visited September 25, 2021) Hämäläinen, Janita, 2020. Dudas homophober Endspurt. Polens Präsident und sein Anti-LGBT Wahlkampf. https://www.spiegel.de/ausland/polen-im-anti-lgbt-wahlkampf-andrzej-dudas-homophober-endspurt-a- 3bb97ad3-5746-46cd-8134-84b9f1a4554c (visited September 25, 2021) BBC, 2012. Istanbul Convention: Poland to leave European treaty on violence against women. https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-53538205.amp (visited September 25, 2021)Milan, Jamal, 2017. The History of Vogue. http://www.jamalmilan.com/439287344 (visited September 25, 2021) Queer Activism, photo by Piotr Kład Queer Activism, photo by Marta Kaczmarek










