
Kunstvermittlung als künstlerische Praxis
Art mediation as an artistic practice
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- Issue 3 Wir werden Dichter:innen | appropriate
Wir werden Dichter:innen Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Wir werden Dichter:innen – ein Experiment zu interkultureller Wissensvermittlung[1] Xuan Qiao, Ye Xu Inhalt Illustration: Ye Xu (c) 2022 Foto: Ye Xu (c) 2022 Abbildung: Xuan Qiao, Ye Xu (c) 2022 Abbildung: Xua n Qiao, Ye Xu (c) 2022 Abbildung: Xuan Qiao, Ye Xu (c) 2022 Als Transformation Designer:innen befassen wir uns angesichts der pluralen und multikulturellen Umgebung im (Design-)Studium verstärkt mit der Frage, wie wir uns im Studium interkulturell öffnen und dadurch einen Beitrag zu mehr Kommunikation und Verständnis leisten können. Wie viele ausländische Studierende möchten wir während des Studiums mehr über den gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund der deutschen Gesellschaft erfahren, sodass wir die Ansichten, Umgangs-, Arbeits- und Denkweisen unserer Kommiliton:innen besser verstehen können. Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der menschlichen Gesellschaft durch die Coronakrise wurde die Welt in isolierte Inseln verschiedener Lockdown-Politiken geteilt. Diese bildeten nach und nach kulturelle Informationskokons. Das heißt, die Menschen neigen eher dazu, nur die Informationen, die sie erhalten möchten, zu akzeptieren, und verlieren so die Fähigkeiten, verschiedene Dinge zu verstehen und den Kontakt mit anderen Informationen zuzulassen. Allerdings treffen unterschiedliche Weltbilder, Lebensformen, Denk- und Verhaltensweisen aufeinander, was zu potenziellen Konflikten aufgrund der Unwissenheit führt (Kulturshaker, 2015). Das heißt, dass die Bedeutung von Kommunikation und Austausch in der Gegenwart immer dringlicher wird. Von unserer Seite aus sind wir für neue Kulturen offen. Selbstverständlich können wir in kürzester Zeit nicht jedes Detail voneinander kennenlernen. Daher hatten wir die Idee, mit einem bewusst gewählten Thema eine Art Medium zu finden. Dafür haben wir Gedichte ausgewählt. Menschen nutzen das Gedicht schon lange, um Geschichte und Kultur aufzuzeichnen, heute realisieren wir interkulturelle Kommunikation durch das Gedicht. In den Wissensvermittlungen mit dem Thema „Gedicht“ versuchen wir, kulturelle Barrieren abzubauen und universelle Werte über Regionen und Nationen hinweg zu finden. Gedicht und Kultur Wir glauben, dass das menschliche Streben nach Schönheit über Nationen und Regionen hinweg unverändert bleibt. Einerseits ist die Kunst ein Spiegelbild der menschlichen Wahrnehmung von Schönheit. Andererseits kann Kunst als lesbares Symbol verwendet werden, um die kulturellen Konnotationen verschiedener Nationen zu vermitteln. Unser Ziel ist es, eine Transformation der interkulturellen Kommunikation zu erreichen. Wir versuchen, unterschiedliche Kulturen durch neue Vermittlungsformate zu verstehen, zu akzeptieren und zu respektieren. Wie sollten wir Praktiken dafür gestalten? Auch wird der Status der Sprache als primärer Modus und Ort der Sinn- und Erkenntnisproduktion in Theorien des Designs noch zu wenig hinterfragt und problematisiert (Mareis:2014). Deshalb ist das Gedicht die beste Wahl. Es ist eine besondere Kunstform, mit wörtlichem Ausdruck des künstlerischen Bildes und bestimmten Tönen (Futian, Liu, Jingxi, Xu, Deli, Zhang, Heyong, Liu: 2008). Das macht das Gedicht zum besten Medium für interkulturelle Wissensvermittlung. Das Gedicht gilt als der Ursprung der menschlichen Literatur, es hat sich mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entfaltet, und man kann sagen, dass das Gedicht Zeuge und Aufzeichnung der Transformation der menschlichen Gesellschaft ist. Wie die alten chinesischen Volkslieder „Shijing" und das altgriechische „Ilias und Odyssee" können wir Gedichte verwenden, um die Ereignisse der Vergangenheit oder die Bräuche der alten Gesellschaft zu verstehen. Man kann fast sagen: Wenn man eine fremde Kultur verstehen will, sollte man zuerst ihre Gedichte verstehen. Neben der Aufzeichnung historischer Ereignisse spiegeln Veränderungen im Gedicht selbst auch die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft wider. Zum Beispiel hat das alte chinesische Gedicht sehr strenge Regeln zu Format und Rhythmus, die in prominenter Weise durch Gedichte aus der Tang-Dynastie repräsentiert werden – normalerweise bilden alle fünf oder sieben Zeichen einen Satz und vier oder acht Verse ein Gedicht. Die Regeln dieses poetischen Formats erfordern vom Autor ein sehr hohes literarisches Niveau und Wissensreserven und wurden so zum Patent der Elite. Dabei wird der Ausdruck wegen der komplexen Regeln bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt – wie Tanzen in Fesseln. Daher gibt es auch die Ansicht, dass diese strengen Regeln die Menschen konservativ und altmodisch im Denken machen. Im frühen 20. Jahrhundert wurde in China eine ideologische Emanzipationsbewegung namens „Bewegung für eine Neue Kultur" ins Leben gerufen. Diese Bewegung förderte den Prozess des Übergangs Chinas von einer feudalen Gesellschaft zu einer nationalen kapitalistischen Gesellschaft. Während dieser Zeit wurden viele traditionelle Regeln, einschließlich die des Gedichts, gebrochen. Gleichzeitig begannen viele chinesische Dichter unter dem Einfluss der modernen westlichen Gedichte, Gedichte mit zugänglicherem Inhalt und ungezügelter Form zu schaffen, um eine breitere Wissensverbreitung und eine tiefere ideologische Emanzipation zu erreichen. Die Gedichte dieser Zeit verzeichnen nicht nur eine große gesellschaftliche Transformation, man kann sogar sagen, dass sie Teil der Transformation geworden sind. Als Träger der Kultur verkörpert das Gedicht auch die Emotionen der Menschen. Dadurch kann man kulturelle Resonanz finden. Der oft in Gedichten dargestellte Mond beispielsweise drückt vor unterschiedlichem kulturellen Hintergrund ganz verschiedene Emotionen aus: Auf der einen Seite, ob im Osten oder im Westen, sind die Menschen bereit, dem Mond die Bedeutung von „rein und schön" zu geben. Offensichtlich ist dies der harmonische Teil, der in verschiedenen Kulturen mitschwingen kann. Auf der anderen Seite wird der Mond in der westlichen Kultur manchmal mit einer mysteriösen, dunklen Kraft in Verbindung gebracht, die eine düstere und erschreckende Atmosphäre schafft. In östlichen Kulturen dagegen wird der Mond aufgrund seiner Veränderungen manchmal von Reisenden mit Heimweh in Beziehung gesetzt. Da die assoziative Bedeutung des Mondes in der Geschichte bereichert und entwickelt wurde, hat der Ausdruck des Bildes des Mondes in der chinesischen und westlichen Kultur praktische Bedeutung für die interkulturelle Kommunikation (Wanwan, Zhong: 2021). Auf diese Weise können wir durch das Gedicht leicht gleiche oder unterschiedliche Ausdrücke einer bestimmten Sache in verschiedenen Kulturen finden und verstehen, um ein interkulturelles Verständnis und eine interkulturelle Kommunikation zu erreichen. Wir hoffen, dass wir im interkulturellen Prozess Gedichte verstehen und tiefe kulturelle Bedingungen erfassen, einander respektieren, wertschätzen und effektiv nutzen können, um wahrzunehmen, zu beurteilen, zu fühlen und zu handeln. Was Gedichte ausdrücken, ist nicht nur die Sprache, sondern auch der Rhythmus und die Struktur, die zu Gedichten gehören, was mehr Möglichkeiten für die Entwicklung des Gedichts aufzeigt. Durch das Aufeinanderprallen und Verschmelzen von Gedichten unterschiedlicher Kulturen ist es Menschen verschiedener Kulturen möglich, sich aufeinander einzustellen, Inkompatibilitäten zu tolerieren und sich zu einem wirkungsorientierten Modell kollaborativer Formen des Miteinanders, Zusammenlebens und weltinterpretativen Handelns zu entwickeln. Darüber hinaus bietet uns der Körper als Kommunikationsmedium vielfältige Möglichkeiten, uns auszudrücken: durch Gestik, Mimik, Tonfall und Körpersprache (Harrison: 2017). Dies kann uns helfen, unser Verständnis und die Darbietung von Gedichten beim Lesen und Rezitieren zu vertiefen, was zweifellos für die interkulturelle Kommunikation von Vorteil ist. Daher hoffen wir, durch Gedichte neue Formate der Kulturvermittlung zu gestalten. Und wir freuen uns darauf, in diesem Prozess neue Ideen zum kulturellen Austausch zu entwickeln. Prozessbeschreibung Im Workshop haben wir drei verschiedene Gedichte von drei zeitgenössischen Dichtern aus unterschiedlichen Ländern betrachtet: „Just to be a withered flower“ der chinesischen Dichterin Yu Xiuhua, „Black Mast – To Paul Picasso“ des senegalesischen Dichter s und Politiker s Léopold Sédar Senghor und „Herz über Kopf“ der deutschen Dichterin Ulla Hahn. Wir baten die Teinehmer:innen, im Workshop zuerst die eigenen Erfahrungen mit den Gedichten miteinander zu teilen. Dies war eine Einleitung in das Thema und wir hofften, dass die Teilnehmenden beim Lesen der Gedichte Erinnerungen, Resonanz oder Interesse daran finden könnten. Danach lasen wie die drei Gedichte laut vor, dieser Teil konnte als Lesestunde betrachtet werden. Idealerweise war die Vorstellung so, dass wir im Kreis sitzen konnten, jede Person einen Satz vorlas und man dadurch einen Einstieg in das Thema finden konnte. Da es sich um ein Online-Format handelte, mussten wir alle unsere Mikrofone einschalten und der Reihe nachlesen. So lasen wir Satz für Satz nacheinander die drei Gedichte vor. Schließlich stellten wir Fragen und hofften, durch die Gedichte die Lebensverhältnisse von Frauen in verschiedenen Ländern zu diskutieren und zu reflektieren. Konkreter gesagt, wurde das Thema „Meinungsfreiheit“ vertieft. Während dieses Prozesses haben wir alle Teilnehmenden gebeten, ihre Gedanken als Stichworte aufzuschreiben und festzuhalten. Wir wollten sie dazu motivieren, über die transformative Möglichkeit des Gedichtes frei zu denken. Wir stellten die folgenden Fragen und bekamen interessante Antworten: Stellt euch vor, dass ihr Dichterinnen oder Dichter seid; welche Form hat euer Gedicht? In welcher Umgebung spielt es, welche Farbe, Temperatur, Jahreszeit, Bewegung, Dimension hat es? Wie kann man ein solches Gedicht vortragen? Braucht das Gedicht Worte, und wenn nicht, womit würdet ihr sie ersetzen wollen? Am Ende kamen wir zum kollektiven Schreibprozess. Jede:r Teilnehmende hatte zehn Minuten Zeit, einen Satz zu schreiben. Dieser musste nicht zu dem besprochenen Thema gehören. Es konnte auch ein eigenes aktuelles Gefühl oder ein Gedanke sein. Danach arbeiteten wir in drei Gruppen und legten die Reihenfolge der Sätze fest. So entstanden drei Gedichte mit unterschiedlichen Stilen. Verschiedenheit bestehen lassen und nach Gemeinsamkeiten suchen Unser Workshop wurde am 1. Februar 2022 erfolgreich online durchgeführt. Drei neue Gedichte sind in diesem Workshop entstanden. Wir waren überrascht von den kollektiv verfassten Gedichten. Derselbe Satz kann in verschiedenen Kombinationen unterschiedlich interpretiert werden. Bevor der Workshop vorbei war, lasen wir die drei Gedichte laut vor, wie wir es zuvor getan hatten, und dieses Mal war die Stimmung viel weniger nervös. Das Lachen und die Verse der Teilnehmenden gaben uns das Gefühl, zufrieden zu sein. Wir beobachteten, dass wir bei der Gestaltung des Formates zu viele persönliche Voraussetzungen gemacht hatten. Da wir als Moderator:innen die Gedichte schon mehrfach gelesen und analysiert hatten, vernachlässigten wir die Frage, ob die Gedichte auch zugänglich für alle waren. Es wurde uns zurückgemeldet, dass die Fragen etwas schwierig zu beantworten waren. Aber interessanterweise war die Diskussion über Poesie viel enthusiastischer, als wir erwartet hatten. Wir stellten fest, dass die Teilnehmer:innen zwar kein gutes Verständnis von unseren voreingestellten spirituellen Inhalten hatten, aber viele besondere Emotionen empfinden konnten – Einsamkeit, Enthusiasmus, Ruhe, Freude usw. Obwohl diese Menschen die Gedichte unterschiedlich interpretierten, empfanden sie alle sehr ähnliche Gefühle und Stimmungen. Das Vermittlungsformat des gesamten Workshops ist für uns weniger eine neue Form der Wissensvermittlung als vielmehr eine Neubetrachtung menschlicher Kultur. Das Teilen, die Zusammenarbeit und der Austausch, die durch dieses Projekt ermöglicht werden, zeigen uns, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie wir verschiedene Kulturen besser verstehen lernen können, um sie in der zukünftigen Gesellschaft zu respektieren. Obwohl es nur ein Teil des Semesterprojekts ist, hoffen wir dennoch, das Projekt in Zukunft fortzusetzen und zu versuchen, einen tieferen kulturellen Austausch in anderen Kunstformen, einschließlich Malerei und Musik, zu haben. Wir wollen Klischees brechen und universelle Werte verfolgen. Wir freuen uns auf die Weiterentwicklung des Projekts und darauf, unsere Erfahrung in eine solche Zukunft einbringen zu können. Xuan Qiao, born in 1997, is a designer and a student at the Braunschweig University of Art, where he has been studying Transformation design since 2021. He was one of the top 50 design stars in Hangzhou, China in 2019. In his practice, Qiao Xuan tries to use design methods to solve social problems. He especially focusses on the cultural sustainability in different regions, and discovers solutions with product design. He has won a series of design awards in China and internationally including the Red Dot Award. Ye Xu, born in 1994, is a product designer and a transformation designer. From 2012 to 2019 she studied product design in Bachelor and Master in Shandong Art and Design University in China, after her graduation she moved to Germany and began her transformation design studies at Braunschweig University of Art. Currently she studies as an exchange student at Art University Zürich. Her work concentrates on the reflection of social problems in design work and aims to take a transdisciplinary approach to social issues. Endnoten [1] Im vergangenen Semesterprojekt „A New Curriculum“ hat jeder Studierende des Studiengangs Transformation Design versucht, ein Vermittlungsformat zu entwickeln, das die Wissensvermittlung in den Mittelpunkt stellt. In diesem Projekt betrachten wir unterschiedliche Formen der Wissensvermittlung und wie Wissensvermittlung Veränderungen bewirken kann, etwa in Bezug auf Denk- oder Handlungsprozesse. Viele interessante Vermittlungsformate wurden entwickelt, darunter Workshops, geführte Diskussionen, Abendessen mit pädagogischen Elementen, körperliche und unterhaltsame Übungen zu Themen und mehr. Literatur Kulturshaker, 2015. Interkulturalität. https://kulturshaker.de/kulturkonzepte/interkulturalitaet/#fnref-1147-3 (Zugriff: 10.03.2022) Mareis, Claudia, 2014. Theorien des Designs zur Einführung. Hamburg: Junius Futian, Liu, Jingxi, Xu, Deli, Zhang, Heyong, Liu, 2008. Einführung in die Literatur. Beijing: Higher Education Press Wanwan, Zhong, 2021. An Analysis of the Moon Image in Chinese and Western Cultures from the Perspective of Associative Meaning. In: Scholars International Journal of Linguistics and Literature, 12. S. 378–381 Kathryn Huie Harrison 2017. Bodies and Body Language: How Poetry Can Teach Us to Communicate. https://techstyle.lmc.gatech.edu/bodies-and-body-language-how-poetry-can-teach-us-to-communicate/ 1
- Defekte Debatten und ein Piefke in Wien | appropriate!
Eine Buchrezension von Moriz Hertel Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Defekte Debatten und ein Piefke in Wien You say „Yes“, I say “No” Eine Buchrezension von Moriz Hertel Inhalt Buchcover Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen , Foto: Moriz Hertel … sangen die Beatles 1967 und antizipierten damit den Sound der Ampelkoalition. Freilich, das ist eine Vereinfachung. Und gerade am Anfang hat die Koalition in Anbetracht des Ukrainekrieges und der Energiekrise zusammengearbeitet, um den Schaden für Deutschland zu minimieren – am Ende hat es trotzdem geknallt. Hier und jenseits des Atlantiks. Man fragt sich jetzt: Was passiert hier eigentlich? Und vor allem: Hat das jetzt wirklich sein müssen? Und die Antwort, meinen Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel, ist „Nein“. Als die Politikwissenschaftlerin und der Journalist im September 2024 ihr gemeinsames Buch Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen bei Suhrkamp veröffentlichten, kriselte es zwar in der Ampel immer deutlicher und auch die Wahl in Amerika rückte immer näher. Den Doppelwumms der anderen Art am 6. November sah aber vermutlich niemand kommen. Dass Reuschenbachs und Frenzels Überlegungen zur Debattenkultur damit umso präsenter werden, ist traurig und erbaulich zugleich, denn: So lange es zwei Menschen gibt, die ihren Mund aufmachen, lässt es sich vorzüglich streiten. Angesichts der gravierenden Differenzen der Ampelparteien wäre es vermessen zu behaupten, die Ampel sei an der Debattenkultur gescheitert. Auf der anderen Seite fehlt es Deutschland jedoch vielerorts an einer angemessenen Streitkultur – Redebedarf gibt es genug, es scheint nur keine verbindliche Form mehr zu existieren. Reuschenbach und Frenzel liefern mit ihrem Buch einen guten Überblick: Aufmerksamkeitsökonomie, Grundsätzlichkeit, Populismus, Machtspiele, soziale Medien und andere Themen werden problematisiert und zusammengeführt. So überrascht es dann nicht, dass die beiden den Status quo einer egoistischen, nicht wohlwollenden, stark polarisierten Debattenkultur skizzieren. Aber irgendwie kommt einem das bekannt vor, und in dieser Diagnose, das schreiben sie auch, sind wir uns ja grundlegend einig. Wer dieses „wir“ allerdings genau ist, bleibt stets unbeantwortet. Aus diesem Grund kann das Buch auch nicht mehr sein als ein Ideengeber oder Arbeitsheft. Es scheint, als stünde hinter diesem „wir“ immer noch der Geist des Habermas´schen Bürgertums, mündig und rational, das sich mittels öffentlicher Medien und anderer Produktionsmittel vom Feudalismus emanzipierte. Wo aber bei Habermas die Binnendifferenzierung von sprachlichem Kapital und damit der Währung des Diskurses fehlt, fehlt sie dann auch bei Reuschenbach und Frenzel. Produktiver wären Einzelanalysen der Felder Politik, Medien und persönliche Begegnung, mit anschließender Bezugnahme aufeinander. Dass das in einem immerhin 300-seitigen Sachbuch nicht einmal skizziert wird, ist schade. Stattdessen liest man zwischen den Zeilen immer wieder einen sensus communis heraus: Alle sind unzufrieden, alle wissen es, keiner weiß, was er machen soll. Meine gekürzte Interpretation aus 300 Seiten: im Streit besser zuhören, die eigene Fehlbarkeit erwägen, grundsätzliche Haltungen relativieren lernen und kompromissbereiter sein. Es geht darum, Ambivalenzen auszuhalten. You say „Yes“, I say „Well, maybe“. Was hier als Allgemeinplatz oder Basiswissen-Grundschul-pädagogik daherkommt, ist den Autor:innen jedoch nicht unbedingt zur Last zu legen. Die Krise der Debattenkultur, so lese ich Hartmut Rosa, ist nämlich viel mehr das Symptom einer Demokratiekrise, die sich vor allem dadurch äußert, dass „Welt und Zukunft […] unter den herrschenden Bedingungen kaum politisch gestaltbar [sind]“, weil „die Lebenswelt verändernden Imperative struktureller und systemischer Natur sind“ (Rosa 2019: 175). Das gilt natürlich vor allem für die „einfachen“ Bürger, die weder dem Feld der Medien noch der Politik angehören. Aber auch Reuschenbach und Frenzel haben trotz ihrer medialen Stellung nur bedingt Einfluss – Stichwort: Binnendifferenzierung. Die Frage verschärft sich also: Was soll man denn tun, wenn die defekte Debattenkultur Nebenkriegsschauplatz einer Demokratiekrise ist, in der selbst Akteur:innen des medialen Establishments die Probleme „nur“ zusammenführen und verständlich machen können? Und ferner: Welchen Beitrag kann die Kunst leisten? Die Antwort: Die Kunst hat ihn schon exemplarisch geleistet. Und daraus lassen sich Imperative demokratischen Handelns ableiten. Als sich im Jahr 2000 die Österreichische Volkspartei (ÖVP) auf eine Koalition mit der wegen Fremdenfeindlichkeit in der Kritik stehenden Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) einließ, baute Christoph Schlingensief im Rahmen der Wiener Festwochen neben der Staatsoper ein Containerdorf auf, das Asylsuchende beherbergte, die im Stil von Big Brother überwacht wurden und per Anruf rausgevotet, d.h. abgeschoben werden konnten. Auf den Containern thronte ein Banner mit dem Schriftzug „Ausländer raus“. Natürlich wurden die Asylsuchenden nicht wirklich von den Österreicher:innen abgeschoben. Im Laufe der Woche wurde der Aktion jedoch immer mehr Aufmerksamkeit zuteil, und Diskussionen und Streit über die Aktion und die Asylpolitik Österreichs brachen sich Bahn. Dabei nahm Schlingensief jedoch ebenso wenig Einfluss auf die Institutionen, wie die versammelten Bürger:innen auf die Institution Schlingensief Einfluss nehmen konnten. Das lag vor allem daran, dass Schlingensief selbst nie wissen konnte, was passierte. Er schuf zwar eine Ausgangs-situation und ein loses Programm, die Reaktionen der Politik und der österreichischen Bürger:innen konnte er aber nicht absehen. Mark Siemons (2000: 120) beschreibt diesen Umstand mit dem Begriff Selbstprovokation: die Notwendigkeit, sich durch das Entsagen eines klaren Zieles und einer festen Strategie immer wieder herauszufordern. Die Aktion wurde dadurch mehr als eine plumpe Provokation, die zwei Konfliktparteien herstellt. Was heißt es für Österreich, wenn Schlingensief behauptet, die Forderungen der FPÖ nur in die Realität umzusetzen? Und was, wenn eine linke Demo das Containerdorf stürmt, um die Asylsuchenden zu befreien, diese sich aber vor ihnen fürchten und gar nicht befreit werden wollen? Wo Felder moralischer Redlichkeit klar abgesteckt sind, fällt eine Positionierung in der Regel. leicht. Wo der Zweifel herrscht, treibt er den Diskurs. Indem Schlingensief nach Selbst-aussage im Handumdrehen das realisiert, was die FPÖ fordert, überfordert er damit natürlich die Bevölkerung, weil der übliche Ablauf von Diskussion, Kompromiss, Realisierung außer Kraft gesetzt ist. Es ist ein Quasi-Szenario: „Die FPÖ ist in der Regierung, hierfür steht die FPÖ, verhaltet euch dazu.“ Man kann sich der Aktion also nicht entziehen, denn auch Entzug ist eine Haltung: die Entscheidung, wegzuschauen. Wo bei Reuschenbach und Frenzel von „man“ und „wir“ die Rede ist, ist es bei Schlingensief konkret die österreichische Bevölkerung. Das bedeutet, dass dort vor den Containern nicht nur ein Metadiskurs geführt wird, es handelt sich im Gegenteil um die Keimzellen demokratischer Handlungsmacht: den öffentlichen Austausch, die Bildung öffentlicher Meinung(en) und dann auch deren Ableitung zu demokratischem Handeln. Gerade deshalb sehe ich Schlingensiefs Aktion von so zentraler Bedeutung für die Debatten-kultur und die Demokratie. Wir müssen nicht noch mehr darüber reden, wie wir besser miteinander reden, wir müssen es machen. You say „Yes“, I say „No, because…“ Literatur Rosa, Hartmut, 2019. Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung. In: Hanna Ketterer, Karina Becker (Hrsg.), Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, S. 160–188. Berlin: Suhrkamp. Siemons, Mark, 2000. Der Augenblick, in dem sich das Reale zeigt: Über Selbstprovokation und Leere. In: Matthias Lilienthal (Hrsg.), Schlingensiefs „Ausländer raus“: Bitte liebt Österreich, S. 120–127. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Moriz Hertel , geboren 1998 in Bamberg, studiert Kunstwissenschaft im Master und Freie Kunst im Diplom. In seiner Arbeit befasst er sich aktuell mit Olfaktorik und performativen Praktiken. 01
- Freundschaft oder Dienstleistung? — die sobat-sobat der documenta fifteen | Issue 4 | appropriate!
Anna Darmstädter und Julika Teubert im Gespräch mit Nick Schamborski Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Freundschaft oder Dienstleistung? — die sobat-sobat der documenta fifteen Anna Darmstädter und Julika Teubert im Gespräch mit Nick Schamborski Inhalt Nick Schamborski, sobat auf der documenta fifteen, © Huizi Yao Protestaktion der sobat-sobat am 27 August 2022 vor dem Fridericianum, © Theseas Efstathopoulos Die Arbeitsshirts der sobat-sobat vor dem Fridericianum, © Theseas Efstathopoulos Scheinbar neu konzipiert war die Kunstvermittlung der documenta fifteen. Angefangen beim Namen für die Kunstvermittler:innen: sobat-sobat, der indonesische Begriff für Freund:innen oder Gefährt:innen [1 ]. Doch weniger um Freundschaft im Sinne einer langwierigen zwischenmenschlichen Beziehung, als vielmehr um einen Ansatz für eine Gesprächshaltung sollte es auf der documenta fifteen gehen. Eine Vermittlung nicht als Vortrag, sondern als Gespräch, in dem Zugänge zu Räumen, Geschichten und Arbeitsweisen der lumbung-Praxis [2 ] erforscht werden. Die sobat-sobat begleiten durch die Ausstellung, sie führen nicht. Helfen soll dabei die Praxis des Storytelling – das Erzählen von Geschichten. Ein Vorgehen, das durchaus in das Konzept von ruangrupa passt, das keine konservative Kunstvermittlung im Sinne des schlichten Bereitstellens von Informationen intendierte. Vermitteln sollten sich die Kollektive im Sinne der partizipativen Praxis des lumbung ursprünglich selbst, umgesetzt wurde das beispielsweise in Workshops und anderen Veranstaltungen [3 ]. Doch konservative Kunstvermittlungsformate sind fester Bestandteil der documenta und wurden als solche von der documenta Leitung eingefordert. Hier tat sich ein Konflikt zwischen dem Konzept ruangrupas und den letztendlichen Rahmenbedingungen der documenta fifteen auf, der in erster Linie auf Kosten der Vermittler:innen ausgetragen wurde, so Nick Schamborski im gemeinsamen Gespräch (s. u.). Vor allem aber wurden die Kunstvermittler:innen dieser documenta erneut durch prekäre Arbeitsbedingungen belastet. Wo die Neukonzipierung der Kunstvermittlung begann, endete sie bereits. Den Verdruss illustrieren ein offener Brief [4 ] der organisierten sobat-sobat und eine darauf folgende Publikation. Der kollektiv entstandene Brief wurde am 04.08.2022 intern an das Management der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, die Abteilung Bildung und Vermittlung und das Artistic Team gesendet. Alexander Farenholtz, nach dem Rücktritt von Sabine Schormann Interimsgeschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, bot zwar Gespräche an, doch die Reaktion blieb unbefriedigend, bis heute gibt es keine Pressemitteilung der documenta zum offenen Brief der organisierten sobat-sobat. Wir sprachen mit Nick Schamborski, ehemalige:r sobat, über die Kunstvermittlung der documenta fifteen. Darüber, wie es zu dem offenen Brief kam, welche Umstände die Arbeit der Kunstvermittler:innen erschwerten und wie sich die Situation für kommende Ausstellungen tatsächlich verbessern könnte. Nick Schamborski ist Medienkünstler:in, Kurator:in und Kunstvermittler:in mit einem Fokus auf diskriminierungskritische Kulturarbeit und erwarb 2021 das Diplom in Freier Kunst an der Hochschule für Bildende Künste. Außerdem absolvierte Nick Schamborski während des Studiums die Zusatzqualifikation Kunstvermittlung, zu der auch das approporiate! Journal gehört. Vor dem Hintergrund unserer Gemeinsamkeiten im Studium interessierte uns besonders, welche Erfahrungen Nick Schamborski als Kunstvermittler:in auf der documenta fifteen gemacht hat. Nick Schamborski sieht die Aufgabe als Kunstvermittler:in darin, „kritische:r Freund:in einer Institution zu sein. Das bedeutet, dass man kritisch die Kunst begleitet und kritisch in den Diskurs tritt mit den Leuten, die da hinkommen und sich die Kunst angucken wollen.” Statt ein:e kritische:r Freund:in der Institution sollte ein:e sobat jedoch ein:e informative:r Begleiter:in durch die Ausstellung sein, so gibt es die documenta gGmbH vor. Die sobat-sobat wurden in ihrer Expertise nicht ernst genommen und sahen sich außerdem prekären Arbeitsbedingungen ausgesetzt, berichtet uns Nick Schamborski. „Wie ist es möglich, mit den Besucher:innen über die lumbung-Werte wie Großzügigkeit oder Transparenz zu sprechen, wenn wir gleichzeitig dermaßen ausgebeutet werden?“, fragt Nick Schamborski. Die documenta fifteen bot von Anfang an ein hohes aktivistisches Potenzial, denn „diese documenta wurde von Leuten geleitet, die selbst nicht institutionell denken, sondern eben diese Gedankenmuster hinterfragen“, so Nick Schamborski. Daher hatten sich unter den Kunstvermittler:innen viele beworben, die Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung in ihrer Praxis hatten und schließlich in Eigeninitiative den Raum für kritische Diskurse öffneten, obwohl „der Raum eindeutig nicht dafür gedacht war“. Die lumbung-Werte wurden sich somit von den sobat-sobat angeeignet, um aufzubegehren. Neben Protestaktionen, wie dem Aufhängen ihrer Arbeitsshirts vor dem Fridericianum [5 ] oder der Einladung zum Gespräch über die eigenen Arbeitsbedingungen, wurde die Infrastruktur, beispielsweise die lumbung Press, genutzt, um die Publikation zu drucken, die „ein Weg und ein Werkzeug gewesen ist, um nicht nur aktiv zu sein, sondern auch die Gemeinschaft zusammenzubringen und über die documenta hinaus weiterlaufen zu lassen“, erzählt uns Nick Schamborski und erklärt, dass sich die Probleme, die für die sobat-sobat entstanden sind, differenzieren lassen zwischen inhaltlichen Schwierigkeiten und strukturellen institutionellen Schwierigkeiten. Inhaltlich seien sie nicht ausreichend vorbereitet worden auf Themen wie die Antisemitismusdebatte und Rassismus oder darauf, wie man sich verantwortungsbewusst mit der eigenen epistemischen Gewalt auseinandersetzt, also der Form von Gewalt, die mit unserem gelernten und angewendeten Wissen zusammenhängt. „Um künstlerische Positionen, die als ,aus dem globalen Süden‘ markiert wurden, zu vermitteln, brauchte es nicht nur weitaus mehr Bildung, sondern es besteht eine große Gefahr, koloniale und rassistische Gewalt zu reproduzieren und zu festigen.“ Strukturelle und organisatorische Schwierigkeiten seien unter anderem gewesen, dass die sobat-sobat durch den ihnen zugeteilten Veranstaltungspass zu spät Zugang zu den Veranstaltungsorten hatten, was ihre Vorbereitungsarbeit erschwerte. Dazu seien erhebliche Probleme mit dem Buchungssystem gekommen und unzureichende Zugänglichkeitskonzepte, mit denen die Kunstvermittler:innen allein gelassen wurden. „Dadurch kam es zu einer enormen psychischen Belastung, die unsichtbar gemacht wurde“, bedauert Nick Schamborski. Auf uns macht es den Eindruck, als sei der offene Brief der organisierten sobat-sobat aufgrund seiner Dringlichkeit unvermeidbar gewesen. Wenige Wochen vor dem Ende der documenta fifteen führte er zwar leider nicht mehr zu großen Veränderungen während der Laufzeit. Doch er bewirkte zumindest, „dass man nicht in Harmonie auseinandergeht, sondern diese Ungerechtigkeiten manifestiert wurden“, sagt Nick Schamborski. In erster Linie fordere der Brief aber die Anerkennung der Vermittlungsarbeit bei der documenta. Gleichzeitig strebe er eine langfristige Veränderung der ausbeuterischen Strukturen im Kulturbereich an. Ruangrupa ist es gelungen, die documenta fifteen auf eine Art und Weise zu kuratieren, die sich deutlich von allen vorhergegangenen documentas unterscheidet. Der Kunstvermittlung wurde das Loslösen von alten Mustern jedoch ungleich schwerer gemacht, sowohl in ihrer inhaltlichen Arbeit als auch in Bezug auf die strukturellen Rahmenbedingungen. Der offene Brief und die Publikation der sobat-sobat zeigen deutlich, dass sich die Arbeitsbedingungen für Kunstvermittler:innen der documenta kaum verbessert haben, noch immer sind die Umstände prekär, wie bereits seit vielen Jahren. Auf der letzten documenta hatte es innerhalb der Kunstvermittlung beispielsweise die kritische Gruppe doc14_workers [6 ] gegeben, die offen über ihre Arbeitsverhältnisse reflektierten und das Gespräch suchten. Doch auch schon auf der documenta 12 wurde über die schwierige Lage der Kunstvermittlung der documenta diskutiert, die einerseits kritische und unabhängige Arbeit leisten wollte, jedoch von der Geschäftsführung der documenta eindeutig in das Feld der Dienstleistung gerückt wurde, mit der Erwartung, betriebswirtschaftlich zu denken. [7 ] Wir wollten von Nick Schamborski wissen, was aus Nicks Perspektive tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation für die Kunstvermittlung der nächsten documenta führen könnte. „Essenziell ist, dass die Kuration und die Vermittlung zusammengedacht werden und nicht auseinander. Die kuratorische Leitung müsste eine Möglichkeit bekommen, autonom eine Vermittlungsstrategie zu entwickeln, und diese muss personell direkt Teil des künstlerischen Teams sein, welches die documenta organisiert.“ Tatsächlich ist Susanne Hesse-Badibanga, die Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung der documenta fifteen, die unter anderem für die sobat-sobat zuständig ist, nicht von ruangrupa ausgewählt worden. Es wäre sinnvoll gewesen, hätte sich ruangrupa bewusst für die hier zuständige Person entscheiden können, da das Kollektiv die Vermittlung als Teil der ausgestellten Arbeiten versteht. Nicht nur im Kontext der documenta ist es ein Problem, wenn die Kunstvermittlung erst nachträglich konzipiert wird und nicht von Anfang an als Partner der Kuration mitgedacht wird. Das lässt sich leicht am Beispiel unzugänglicher Begleittexte erkennen, die häufig verfasst werden, ohne die wichtige Expertise der Kunstvermittler:innen einzubeziehen. Dass auch auf der documenta fifteen die Qualitäten von Kunstvermittler:innen nicht richtig anerkannt und aktiviert werden, berichtet Nick Schamborski: Während der Vorbereitungszeit auf die documenta fifteen nahmen die sobat-sobat an Workshops teil, die nur mangelhaft auf die kommende Ausstellung vorbereiteten. „Jede:r Vermittler:in bringt bestimmtes Wissen, Forschungen und Erfahrungen mit, diese Ressourcen wurden gar nicht erst gesehen. Hätte jede:r von uns selber einen Workshop gegeben, über kunstvermittlerische Theorien oder Praxis, wäre das vielfach nachhaltiger gewesen. Das ist ja das Problem, wenn von der Institution die Ressourcen und Potenziale gar nicht erkannt werden, die vorhanden sind. Eigentlich könnte daraus so viel entstehen und damit so viel bewegt werden.“ Bei der Frage danach, welche Rolle der Kunstvermittlung zugedacht wird, geht es nicht zuletzt darum, wer die Entscheidungsmacht über bestimmte Prozesse der Ausstellungskonzeption, -umsetzung und -begleitung innehat. „Sobald ein System primär auf Hierarchien aufgebaut ist, gibt es immer diesen Machtmissbrauch und den gab es dort in der Institution documenta die ganze Zeit“, sagt Nick Schamborski. „Es geht nicht darum, weniger Verantwortung zu übernehmen, sondern dass die Hierarchien abgebaut werden und gemeinschaftlich gearbeitet wird.“ Die Erfahrungen als sobat bestärkten Nick Schamborski darin, dass „das Resultat immer nur so viel wert ist wie die Prozesse, die dazu geführt haben.” Ein Prozess sollte gerecht, sichtbar und wertschätzend sein und genug Raum zugestanden bekommen, anderweitig lohne es sich nicht, für das Endprodukt zu arbeiten. [1] https://documenta-fifteen.de/glossar/ (Zugriff: 10.12.2022) [2] Im Glossar der documenta fifteen steht Folgendes: „lumbung ist die konkrete Praxis auf dem Weg zur documenta fifteen im Jahr 2022 und danach. Aus dem Indonesischen übersetzt bedeutet es ,Reisscheune‘. In indonesischen ländlichen Gemeinschaften wird die überschüssige Ernte in gemeinschaftlich genutzten Reisscheunen gelagert und zum Wohle der Gemeinschaft nach gemeinsam definierten Kriterien verteilt. Dieses Prinzip steht für die Lebens- und Arbeitspraxis von ruangrupa und wird für ein interdisziplinäres und gemeinschaftliches Arbeiten an künstlerischen Projekten genutzt.” [3] https://documenta-fifteen.de/kalender/ : beispielsweise ein Skateboardkurs der Mr. Wilson Skatehalle von Baan Noorg Collaborative Arts and Culture in der documenta Halle oder eine Open Kitchen von Gudskul im Fridericianum [4] https://sobatsobatorganized.files.wordpress.com/2022/08/open.letter.sobat-sobat.18.08.22.pdf (Zugriff: 10.12.2022) [5] https://www.hessenschau.de/kultur/documenta-beschaeftigte-in-kassel-protestieren-gegen-arbeitsbedingungen-v2,documenta-arbeitsbedingungen-100.html (Zugriff: 10.12.2022) [6] https://kw.uni-paderborn.de/en/kunst-musik-textil/nachricht/silogespraeche-doc14-workers-feeling-free-to-talk-about-working-conditions-1 (Zugriff: 10.12.2022) [7] https://www.kubi-online.de/artikel/glauben-mir-kein-wort-entwicklung-kunstvermittlung-zwischen-documenta-x-documenta-14 (Zugriff: 10.12.2022) Nick Schamborski ist Medienkünstler:in, Kurator:in und Kunstvermittler:in mit einem Fokus auf diskriminierungskritischer Kulturarbeit. Im letzten Jahr bekam Nick Schamborski den Bundespreis für Kunststudierende verliehen, kuratierte auf dem European Media Art Festival und arbeitete im Art-Education-Department auf der documenta fifteen in Kassel. Gleichzeitig schloss Nick Schamborski das Meister*inschüler*innenstudium bei dessen langjähriger Professorin Candice Breitz ab. Anna Darmstädter, geboren 1999 in Hannover, studiert Freie Kunst, ehemals bei Professor Nasan Tur und aktuell bei Professor Thomas Rentmeister an der HBK Braunschweig. Zusätzlich studiert sie Kunstvermittlung bei Prof. PhD Martin Krenn. Als gebürtige Clownin ist sie dem Absurden verfallen. Ihre Kunstvermittlung möchte demnach nicht einfach auflösen und erklären, sondern vielmehr das eigene Denken durch Ironie herausfordern, um so neue Perspektiven auf Kunst und den Kunstbetrieb einzunehmen. Julika Teubert, geboren 1995 in Berlin, ist sowohl Künstlerin als auch Kunstvermittlerin und studiert aktuell Freie Kunst bei der Professorin Isabel Nuño de Buen, sowie Kunstvermittlung bei Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sie ist Mitbegründerin des appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst und arbeitet seit zwei Jahren als ständiges Redaktionsmitglied und Autorin an der Entwicklung und Umsetzung der bisherigen vier Ausgaben des Journals. 1 Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7
- Impressum | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Impressum Anschrift Hochschule für Bildende Künste Braunschweig z.H.: Martin Krenn Johannes-Selenka-Platz 1 38118 Braunschweig Kontakt Telefon: +49 (531) 391 9011 E-Mail: m.krenn@hbk-bs.de Rechtsform und gesetzliche Vertretung Prof. Martin Krenn Technische Betreuung des Web-Service Prof. Martin Krenn, HBK Braunschweig Web-Content Diese Webseite hosted das Webjournal "appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst" der Kunstvermittlung, Institut FREIE KUNST, HBK Braunschweig. Das Journal wurde am 29.4.2021 gelauncht. Inhaltlich verantwortlich gemäß §55 Abs. 2 RStV: Prof. Martin Krenn, Kunstvermittlung, Institut FREIE KUNST, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig Copyright Das Urheberrecht aller in appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst veröffentlichten Inhalte liegt bei den AutorInnen. Falls nicht anders im Beitrag ausgewiesen, gelten die vom Gesetz gewährten Rechte u.a. die Vervielfältigung für den privaten Gebrauch sowie das Zitatrecht. Darüber hinaus ist die Nutzung für nicht-kommerzielle, wissenschaftliche und pädagogische Zwecke sowie der Verweis auf appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst als externer Link ausdrücklich erwünscht. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Seiten, die auf appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst verlinken. Inhalt
- Issue 3 Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen | appropriate
Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen – ein Vermittlungsversuch zu toxischen Spuren und Erbe Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen – ein Vermittlungsversuch zu toxischen Spuren und Erbe Lynhan Balatbat-Helbock Inhalt it's raining again today it always rains but the blood in the streets is dry and brown may be it'll loosen now there are men out on the street covered in bin lining shovelling blood into barrows all day. all night. under the endless rain more blood running in the open drains something's eating at my soul an insect nibbles at the edges slowly, slowly, scraping away corroding waters lapping up the underbelly of the sea. my soul is a clump of Black earth sitting on water, but how long can it last? how long can the donkey bear its load? slowly, the inside crumbles piece by piece grain after grain floating away on the dark, green sea sinking with time. Olu Oguibe, Letter to his mother Wie leben wir mit Archiven, die die Abrisse der dunklen Momente unserer Menschheit in sich aufnehmen? Jene Konstrukte, die Zeugnisse wie Fotografien, Zeitungsausschnitte wie auch Objekte beherbergen, nehmen in zeitgenössischen Diskursen fast monumentalen Raum ein. Ist dieser rigide Charakter nicht vor allem der Hülle zu schulden? Lieblosigkeit in der archivarischen Praxis als Methode, um das starre Gefüge einer Sammlung von Kolonialerbe zu entzerren, der eigene Körper als Interventionsrahmen und die Sinnlichkeit als Widerstand, dies sind nur einige Punkte des Arbeitens mit der toxischen Sammlung von Colonial Neighbours, einem Archivprojekt von SAVVY Contemporary. Im immerwährenden Versuch, monumentale Kreationen zu dekonstruieren, müssen Instrumente der Intervention im Kollektiv erarbeitet werden. Dem sei vorausgesetzt, dass Körper unterschiedliche Erfahrungen, (Un-)Wissen, Konflikte und Dringlichkeiten mit sich tragen; somit müssen wir auch bereit sein, uns in der kuratorischen Denke auf mehrere Methoden einzulassen. Monumentale und konservative Formate, die Menschen einschränken oder gar diffamieren, müssen hinterfragt werden, und als einfachstes Mittel steht uns der eigene Körper zur Verfügung. Der Körper als Archiv, ein (un-)wissendes Wesen, Sinnesträger:in und Akteur:in zugleich, bietet in seiner Komplexität vor allem in der Beziehung zu anderen ein wahrhaftiges Universum an (Un-)Möglichkeiten. Wie wir einander begegnen und uns aufeinander beziehen, mag zunächst simpel erscheinen, setzt jedoch den maßgeblichen Rhythmus zwischen den Körpern und dem gemeinsam Erfahrbaren. Erst wo Vertrauen im Kleinen erahnt wird, kann reziproke Kommunikation entstehen. Dieser Zugang spielt vor allem in der Vermittlungsarbeit in den Workshop- und Bildungsformaten von Colonial Neighbours eine wichtige Rolle. Das Archiv Colonial Neighbours ist ein fortlaufendes, partizipatives Archiv- und Forschungsprojekt von SAVVY Contemporary, das sich mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Nachwirkungen und Kontinuitäten in die Gegenwart auseinandersetzt. Durch den kollektiven Sammlungsprozess werden Lücken und Auslassungen im deutschen kollektiven Gedächtnis adressiert sowie dominante Wissensordnungen und Geschichtsschreibungen hinterfragt. Das Archiv dient darüber hinaus als Plattform für Diskussionen und Austausch sowie als Ausgangspunkt für Kollaborationen mit Akteur:innen unterschiedlicher Bereiche. Dem Konzept von „Geschichte als Verflechtung“ (vgl. Conrad & Randeria) folgend zielt das Projekt darauf ab, mit historischen Dichotomien zu brechen und ein differenzierteres Bild aktueller Lebenswelten in Berlin zu zeichnen. Objekte, ob Alltagsgegenstände, kommerzielle Produkte oder andere materielle wie immaterielle Spuren der Geschichte, wie Worte, Lieder, Erinnerungsfragmente und mündlich überlieferte Geschichten, fungieren als Mediator:innen, um die verflochtene(n) Geschichte(n) zwischen Deutschland, dem afrikanischen Kontinent, China und den kolonialisierten Gebieten im Pazifik zu erzählen. Das Archivprojekt bietet Raum zur Dokumentation dieser Silenced History sowie zur kritischen Untersuchung von (historischen) Kolonialismen und zeitgenössischen Kolonialitäten (Aníbal Quijano, 2010). Als „radical“ oder „living archive“ hinterfragt es das Archiv als hierarchischen Ort der Wahrheits- und Geschichtsproduktion, an dem die Verflechtung von Macht und (kolonialer) Wissensproduktion ihren Ausdruck findet. Der Anthropologe Arjun Appadurai begreift unabhängige, nicht staatliche Archiv- und Dokumentationsprojekte als soziale Werkzeuge und als Interventionen. Ausgehend von diesen Überlegungen und über den Sammlungscharakter hinaus stellt das Archiv das Fundament für Auseinandersetzungen unterschiedlicher Natur dar. Als Plattform für Austausch und Dialog ist es gleichsam ein Ort für Kollaborationen mit Künstler:innen, Kulturproduzent:innen, Wissenschaftler:innen, Aktvist:innen und weiteren Akteur:innen. Vermittlungsarbeit ist auf mehreren Ebenen ein wichtiger Bestandteil des Archivprojekts. Beginnend mit der Wiedergabe der Geschichten hinter den Objekten über das Ausstellen und die Konstellationen, die Nahbarkeit zu den Schenkungen bis hin zu klassischen Bildungsformaten – in all diesen Bereichen werden die Formen der Präsentation und Zugänglichkeit von Wissensvermittlung hinterfragt. Im Vordergrund steht hier das Moment der Erfahrung. Die fragmentierte Mappe zu dem kollektiven Gedächtnis beruht auf Beziehungen zu den toxischen Spuren der kolonialen Vergangenheit. Die Aufgabe von Vermittlung ist demnach meines Erachtens, das Erfahrbare zugänglich zu machen. Doch wie vermittelt man toxischen Schrott, der nach Rassismus und Gewalt mieft? Welche Mittel werden in anderen Sammlungen, die gewaltvollen Inhalt beherbergen, eingesetzt? Wie werden die Inhalte von Archivmaterial, die sich mit staatlich organisierten Völkermorden und kollektiver Vernichtung auseinandersetzen, vermittelt? Mit welchen Methoden werden die Kontinuitäten von Unterdrückungspolitik und Verbrechen, bei denen wir im zeitgenössischen Gefüge als Akteur:innen fest verankert sind, körperlich erfahrbar und konkret „gemacht“? Erfahrung und subsequenterweise Verantwortung gegenüber der damaligen und nun heutigen Zeit müssen somit thematisiert und erfassbar gemacht werden. Bei Colonial Neighbours ist der Rahmen eines klassischen Archivs nicht gegeben. Als Parainstitution ist SAVVY Contemporary losgelöst von musealen Einschränkungen. In ihrer Arbeit muss sie sich den konventionellen Vorgaben des Ausstellens nicht beugen und kann den Handlungsspielraum frei von Repräsentation und Zugang leiten. Lieblosigkeit wird zur bewussten Methode, um mit den Objekten, die oftmals rassistische und menschenunwürdige Inhalte wiedergeben, umzugehen. Klassische Barrieren wie Öffnungszeiten, Lagerung, kuratorische Entscheidungen, Hierarchie der Objekte, Standort der Sammlung oder Umgang mit dem materiellen und immateriellen Erbe werden hinterfragt. Ein „Giftschrank“ darf nicht nur gespeist und gepflegt werden, Räume der Intervention müssen im Kollektiv entwickelt werden. Das Archiv wird in künstlerischen Interventionen wie Performances, Ausstellungen oder Recherchearbeiten ständig und kontinuierlich aktiviert. Besucher:innen sind gleichermaßen eingeladen, Konstellationen zu den Objekten zu ändern und mit subjektiven Geschichten Beiträge zu leisten. In diesem Prozess, in dem ein haptischer Zugang gewährt wird, muss der Verfall der Objekte der Sammlung akzeptiert werden. Die innewohnende Gewalt und der Geist der Sammlung können nicht in einem geschlossenen System dekonstruiert werden; Zufall, Reaktionen und Räume der Aversion müssen einbezogen werden. Es gilt vor allem für die Arbeit mit Archiven, die toxische Objekte beherbergen, dass Wege gefunden werden müssen, um Zugänge poröser und verletzlicher zu gestalten; Handlungsräume von Akteur:innen hingegen sollten auch langsamer und weicher werden dürfen. Zugänge und Gefühle als Reaktion sollen in Aktion übersetzt werden. Sinnlichkeit zu kultivieren bedeutet, Formate zu konzipieren, in denen wir Gerüchen mehr Raum geben, unsere Tastsinne aktivieren und das gemeinsame Lauschen üben. Unsere Erinnerungswelten sind fragile Konstrukte im Exil der Vorstellung, durch das Eintauchen mittels anfangs einfacher Atemübungen wird die Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber zu einer allmählichen Brücke des nächsten Körpers. Gemeinsames Atmen, so simpel es auch sein mag, ist Form der gemeinsamen Praxis des Widerstandes, in der „I can't breathe” zum Symptom unserer Massengesellschaft wurde. Die kollektive Auseinandersetzung mit dem Archiv schlägt in der Arbeit von SAVVY Contemporary einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem sie versucht, heutige gesellschaftliche Konstellationen als Nachwirkungen vergangener und überwunden geglaubter Phänomene zu deuten. In Zeiten von Pegida und AfD, dem ansteigenden Rechtsruck innerhalb der EU, der von einer Zunahme von Nationalismus geleitet wird, erscheint es umso notwendiger, wiederkehrende (bildliche) Denkmuster in ihrer geschichtlichen Persistenz und Kontinuität zu analysieren und sie in weiterer Folge wirkungsvoll zu dekonstruieren. Durch diverse Formate wie Lesungen, Installationen, walks in der Nachbarschaft und Gruppenarbeiten mit Schüler:innen hinterfragen wir unser kollektives (koloniales) Bild- und Gefühlsgedächtnis und dessen fortwirkende Konstruktion des Anderen in Bildung, Medien und Populärkultur. In diesem permanenten Versuchsakt, wie stereotypes und kolonial-rassistisches Wissen über Repräsentationen konstruiert, verbreitet und reproduziert wird, ist es notwendig, Handlungsräume zu schaffen. Über Interventionen durch Künstler:innen und Aktivist:innen sowie Verflechtungen von kolonialen Bild- und Gefühlswelten nähert sich SAVVY Contemporary Konzepten von Selbst- und Fremdkonstruktionen und deren Kontinuitäten und lädt somit das Kollektiv ein, über die gegenwärtigen Ausformungen zu reflektieren. Wenn Erinnerungspolitik und Denkmalpflege einfach zu abstrakt geworden sind und in dem instrumentalisierten Gefüge von Geschichtsrevisionismus, orchestrierten Lücken in der Geschichtsschreibung und Amnesie die unüberwindbare Kraft der Zeit Alliierte wird, dann benötigt es enormen Aufwand, um gemeinsam ein kollektives Gedächtnis des Widerstands zu kultivieren. Ausgehend von der kleinsten Einheit, dem eigenen Sein, tastet sich das Projekt Colonial Neighbours in seiner Arbeit langsam an das Gemeinsame heran. Expansionen, Besetzungen, Zwangsarbeit und Völkermorde sind keine abstrakten Themen, die als Genre in einer Schublade der verstaubten Historie gehortet werden können, denn die Nachwehen sind tief und bis in unsere Gegenwart verwebt. Für einige von uns mag es ein entferntes Konstrukt der Ungleichheit sein, für andere sitzen die Wunden tief und die multiplen Traumata direkt unter der Haut. Aus diesem Grund können wir es uns in unserer Arbeit als Kulturschaffende schlichtweg nicht (mehr) leisten, die Perspektive von fragmentierten Körpern und Communities nicht als wichtigen Impuls miteinzubeziehen. Wenn wir unseren eigenen Körper wie Caroline Randall Williams, die ihre Hautfarbe als Monument der Gewalt betrachtet, als Ausgangspunkt nehmen, dann entfernen wir uns von der Annahme, dass Denkmäler in Stein gemeißelte, oftmals von Steuergeldern bezahlte, starre Konstrukte sind. Kriegsheld:innen, Dichter:innen und Politiker:innen auf Sockeln werden nicht mehr ungefiltert zelebriert, ebenso ist leider auch so manch gut gemeintes Mahnmal nur ein Abriss jenes Schattens der Erinnerung, die in uns lebendig gerufen werden soll. Kriegsverbrechen, Traumata und lückenhafte Erinnerungskonstrukte sind so zahlreich wie die Körper, die diese Monumente tagtäglich passieren. Unser gebrochenes Dasein beschränkt sich nicht nur auf unsere Erinnerungen oder unsere Gefühlswelt, auch unser kreatives Schaffen wirft Schatten dieser Kontinuität. Somit trägt nicht zuletzt die kreative und künstlerische Arbeit der Vielen diesen gebrochenen Korpus weiter. Gedichte wie Olu Oguibes „Letter to his mother“, das vor mittlerweile 30 Jahren geschrieben wurde und vielerorts bedauerlicherweise fortwährend seinesgleichen sucht und findet, ist nur eine der vielen Formen fragmentierter Körper, die es gilt, im Kollektiv zu lesen und zu hören. Lynhan Balatbat-Helbock ist Kuratorin und leitet ein partizipatives Archivprojekt bei SAVVY Contemporary in Berlin. Sie studierte Postkolonial Cultures and Global Policy an der Goldsmiths University of London. Seit 2014 lebt sie in Berlin und arbeitet unter anderem an dem permanenten Archivprojekt Colonial Neighbours. In ihrer Arbeit in der ständigen Sammlung von SAVVY Contemporary sucht sie nach kolonialen Spuren, die sich in unserer Gegenwart manifestieren. Literatur Oguibe, 1992. A Gathering Fear. Bayreuth: Boomerang Press Conrad & Randeria, 2002. Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. S. 33 Stoler, Ann Laura/Cooper, Frederick, 1997. Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda. In: dies. (Hg.). Tensions of empire: colonial cultures in a bourgeois world. Berkeley: Univ. of California Press. S. 1–56 Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hg.), 2005. Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast „The archive as deliberate project is based on the recognition that all documentation is a form of intervention and thus, that documentation does not simply precede intervention but is the first step. (...) This further means that archives are not only about memory (and the trace or record) but about the work of the imagination, about some sort of social project. These projects seemed, for a while, to have become largely bureaucratic instruments in the hands of the state, but today we are once again reminded that the archive is an everyday tool.“ (Appadurai, Arjun, 2003. Archive and Aspiration. In: Brouwer, Joke/Mulder, Arjen (Hg.). Information is Alive. Rotterdam: V2_Publishing/NAI Publishers. S. 14–25 Opinion: You Want a Confederate Monument? My Body Is a Confederate Monument https://www.nytimes.com/2020/06/26/opinion/confederate-monuments-racism.html Lynhan Balatbat-Helbock, Foto: (c) Mc Ryan Melchor 1
- Issue 2 Lüth | appropriate
Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz Nanna Lüth Ausgehend von einem Vermittlungsexperiment, das im Rahmen eines meiner Kunstdidaktikseminare stattfand, wendet sich dieser Text Potenzialen von Unsinn bzw. Ironie für Demokratiebildung zu. Argumente von Anja Besand, Gerd Koch, Paul Mecheril und Karl-Josef Pazzini stützen meine These, dass die un_ernste Befragung institutioneller Rahmungen und der eigenen professionellen Perspektive die Reflexivität und die Handlungsspielräume von zukünftigen Kunstlehrer*innen erhöht und vergrößert und eine politische Bedeutung hat. Komisch-werden Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“, um das es weiter unten geht, steht für einen Ansatz, (diskriminierungs-)kritische Kunstpädagogik[1 ] durch den Einbezug von Humor zu unterstützen und zu erleichtern. Humor steht dabei nicht nur für eine offene und konfliktfähige Haltung von Pädagog*innen, sondern er kann auch Konzepte für den Kunstunterricht inspirieren. Humor wird hier als Schirmbegriff verwendet. Man kann unterscheiden zwischen Humor als Haltung oder Persönlichkeitseigenschaft und „Komik als ästhetische[r], dramaturgische[r], mediale[r] Ausdrucksform“ (Hartung 2005: 10). Die Tatsache, dass Komik auf Unstimmigkeit (bzw. Inkongruenz) basiert und somit auf Kontraste oder Überraschungen angewiesen ist, zeigt Parallelen zu künstlerischen Verfahren des Verschiebens und Irritierens auf. Übliche Verfahren der Unterbrechung von tradierten Formen sind Kontextverschiebung, Übertreibung oder Umkehrung. Es ist also naheliegend, dass in künstlerischen oder theoretischen Projekten, die mit normalitätskritischer Agenda Komik einsetzen, etwas für die pädagogische Praxis zu lernen ist. Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ wurde bisher zweimal durchgeführt – einmal an einer Kunsthochschule und einmal an einer Universität. Das Seminarkonzept beruht darauf, sich ausgehend von künstlerischen Arbeiten, praktischen Übungen und theoretischen Texten mit der Relation von gesellschaftlichen Anliegen und Humor zu beschäftigen. Dabei werden verschiedene soziale Zuschreibungen und Ungleichheiten thematisiert. Diese Kombination ist kein Zufall, denn bevorzugte Angriffspunkte von Witzen sind häufig die vermeintlichen Schwachstellen der Anderen. Damit sind Sexualisierung, Rassifizierung/Ethnisierung und andere abwertende Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen – allgemein gesagt das Prinzip des Othering – zentrale Bausteine der Regimes des Lächerlichen. Insbesondere minorisierte Schüler*innen und Lehrer*innen erleben das verstärkt in der Schule (vgl. Klocke 2012; Beigang, Fetz, Kalkum, Otto 2017). Als Gegenmaßnahmen sind das Zurücklachen oder auch ein Umlenken der Aufmerksamkeit auf angeblich normale Umstände denkbar. Manchmal wirkt die Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Mehrheitsphänomene aus der Distanz nämlich auch lächerlich. In welchem Verhältnis aber stehen Humor und Demokratie? Oder: Was hat Komisch-werden mit Demokratiebildung zu tun? Im Folgenden gehe ich auf einige Pädagog*innen ein, die über Verbindungen zwischen Pädagogik, produktiver Verunsicherung und politischer Bildung schreiben. Explizit bezieht sich hierbei nur der Migrationspädagoge Paul Mecheril auf Humor, sprich Ironie. Aus kunstpädagogischer Perspektive werden diese Gedankengänge später ergänzt durch einen Aufsatz von Karl-Josef Pazzini, der sich jedoch nicht ausdrücklich auf Ausdrücke wie politische oder Demokratiebildung bezieht. Die Verunsicherung, auch Be- oder Verfremdung genannt, die durch uneindeutige oder widersprüchliche Momente in pädagogischen Settings bewusst herbeigeführt oder zumindest positiv aufgegriffen wird, dient in den Argumentationen von Paul Mecheril, Anja Besand und Gerd Koch dazu, sich in unbekannte Perspektiven hineinzuversetzen, ohne dabei auf ein vollständiges Verstehen abzuzielen. Damit lässt sich – so formuliert es die Politikdidaktikerin Besand – die demokratische Tugend Ambiguitätstoleranz trainieren. Ambiguitätstoleranz ermöglicht das Agieren unter unbekannten Umständen, für die die Menschen oder die Gesellschaft noch keine Spielregeln oder Lösungswege kennen: „In Demokratien geht es um den Interessenausgleich, um revidierbare Entscheidungen, die Teilung von Gewalt und um den Schutz von Minderheiten, auch wenn sie abwegiger Meinung sind und seltsame Gebräuche pflegen. Ambiguität ist also in der Politik sichtbar, wohin man auch schaut“ (Besand 2020: o.S.). Die Instrumentalisierung von nur scheinbarer Schüler*innenbeteiligung sieht Besand für die Entwicklung von deren Demokratieverständnis als schädlich an. Bei politischer Bildung in der Schule geht es ihrer Ansicht nach nämlich nicht um die Vermittlung von Faktenwissen allein, sondern um das Erleben demokratischer Verfahren und die Übung der Fähigkeit zum Dissens. Zum „Politisch-Werden und Politisch-Sein“ (Besand 2020: o.S.) gehöre es demnach, der eigenen Sichtweise auf die Spur zu kommen, hegemoniale Wertmaßstäbe zu hinterfragen und unterschiedliche Perspektiven anzuerkennen. Mit Mecheril lässt sich an die Relativierung des Diktats vorgegebener Wissensbestände anschließen. Er plädiert aus bildungstheoretischer Perspektive dafür, Entscheidungen über Inhalte und Prozesse des Lernens „in einem radikalen Sinne dem Gegenüber zu überantworten“ (Mecheril 2009: 2). Insofern fordert er von Pädagog*innen Offenheit gegenüber Fremdheitserfahrungen und Verunsicherungen. Das hierfür erforderliche Absehen eines „schwachen“ (Mecheril 2009: 13) und dennoch verantwortungsvollen Subjekts von sich selbst bezeichnet er als ironische Perspektive: „Ironie ist ein Mittel der Wahrnehmung und Artikulation von Ambivalenz, des Sicheinlassens auf Verhältnisse, für die die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein konstitutiv ist. […] Sie lebt von einem Gefallen an dem Disparaten, dem Mehrwertigen und Spannungsreichen, das sie anzeigt, nicht um das Disparate zu belächeln, vielmehr: um es in einem Modus zu erkennen, der sich seiner Kontingenz und Grenzen bewusst ist. Dies kann als Selbstironie bezeichnet werden“ (ebd.). Mit Dieter Baacke nennt Mecheril Ironie „antitotalitär“, da sie ausgleichend wirke und fanatische Stimmen relativiere (vgl. Baacke 1985: 210). Entsprechend weist Mecheril der Ironie eine grundlegende Bedeutung für Demokratie zu. Einen dialektischen Ansatz vertritt der Sozial- und Theaterpädagoge Gerd Koch, der für ein Fremd-Werden eintritt. Mit Bertolt Brecht argumentiert er dafür, „[verbessernd in] gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit [einzugreifen]“ (Koch 2002: o.S.). Das Fremdmachen von vorgefundenen Entfremdungen aufgrund von Herrschaftsverhältnissen kann „in der Form der Kritik geschehen, aber auch in der Weise des positiven Umformens“ (ebd.). Die Destruktion von traditionellen Rollenauffassungen, Weltbildern und Wissensbeständen soll laut Koch durch ein Training im „neuen Sehen“ (ebd.) ergänzt werden. Er interessiert sich darüber hinaus besonders für Unterricht als „artifizielles Gefüge, dessen Konstruktion ständig auf ihren Realitätsbezug hin zu prüfen ist“ (ebd.). Das Komisch-Werden kann mit diesen Positionen also als Förderung bzw. Erprobung von Ambiguitätstoleranz, von Ironie oder auch als Variante des Fremd-Werdens mit dem Ziel der Förderung von demokratischen Fähigkeiten verstanden werden. „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ Dieses Seminar fand im Winter 2017/18 an der Universität der Künste (UdK) Berlin statt und richtete sich an Masterstudierende, die Kunst auf Lehramt studierten. Zentrale Elemente der Veranstaltung waren Vermittlungsexperimente, die meistens von zwei Studierenden für die Mitstudierenden entwickelt, durchgeführt und reflektiert wurden. In der ersten Sitzung stellte ich den Studierenden 17 künstlerische Arbeiten und 13 Texte zur Wahl, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Humor, Differenz und Kritik befassen. Fünf künstlerische Positionen und fünf Texte dienten schließlich als Ausgangspunkte für die studentischen Experimente. An zwei Terminen übernahm eine Person alleine die Vermittlung, so auch im folgenden Beispiel. Über die Produktivität von Unsinn … Ein zur Vermittlung ausgewählter Text heißt „Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären“; er wurde 1999 von Karl-Josef Pazzini geschrieben. In diesem Artikel erhebt Pazzini anhand eines Berichts über den Bildhauer Roman Signer und dessen vergängliche Arbeiten Einspruch gegen die Verengung und Vereindeutigung von Sinnproduktionen. Die zwanghafte Wiederholung, das Festhalten an der immer gleichen Verbindung von Phänomenen mit festen Bedeutungen erzeuge Einbildungen. Diese Fixierung steht Pazzinis Verständnis von Bildung entgegen. Bei seinem Konzept von Bildung muss das Entbilden mit dem Bilden einhergehen: „Bildung kann man nicht haben, lediglich einige [S]ets als Voraussetzung, um bildende Relationen einzugehen, Bereitschaften. Bildung als Eigenschaft ist nichts anderes als Einbildung. […] Bildung lebt von der Beeindruckbarkeit, von der Irritierbarkeit, von Haltung und Stil“ (Pazzini 1999: 2). In diesem Zusammenhang wirbt er für Unsinn als „kleinen Bestandteil dieser Relation“: „Die Produktion von Unsinn und die Produktivität von Unsinn sind Phasen jeglicher Bildung […]. Diese Phase ist von erheblicher Unsicherheit und Angst gekennzeichnet, aber auch von Lust“ (ebd.). Pazzini thematisiert die Gefühle, die für Bildung charakteristisch sind, und schreibt gegen die Gewohnheit an, dass von pädagogischem Handeln verlangt werde, es solle einen bestimmten Sinn bloß rekonstruieren (vgl. Pazzini 1999: 3). Experiment in Edutainment Von Pazzinis Thesen ausgehend entwickelte die Studentin Rosa Kasper einen halbstündigen Seminarteil. Zehn Tage vor der angepeilten Sitzung erhielt ich eine Skizze. Kasper formulierte, ausgehend von dem Text und seinem zentralen Begriff, dem Unsinn, eine Reihe von Ideen, haderte jedoch mit ihrem Anspruch der Wissensvermittlung. Sie schrieb: „Mir fällt noch keine Aufgabe ein, die Sinn macht, also man kann ja alles mögliche machen, um Unsinn zu produzieren, aber wo bleibt dann der Wissensgehalt für die Schüler?“ (Kasper per E-Mail, 8.1.2018). Ihr Anspruch richtete sich auf Schüler*innen, die ja gar nicht anwesend sein würden. Ich wies darauf hin, dass es um ein Angebot für Mitstudierende ginge, und bat sie außerdem, Pazzinis Plädoyer für Unsinn ernst zu nehmen. Daraufhin erhielt ich eine überarbeitete Planung, die mit der Frage endete: „Denken Sie das ist genug Unsinn?“ (ebd.)[2 ] Ich stimmte ihr zu. Wir vereinbarten außerdem, dass ich das Vermittlungsexperiment mit Einverständnis der Teilnehmenden auf Video dokumentieren würde. Die Beschreibung der Seminarsitzung basiert auf diesem Material. Sie hatte die Vermittlung von Pazzini aus in drei Teile gegliedert: 1) eine TV-Sendung mit Expert*inneninterviews zum Thema Unsinn 2) ein Frage-Antwort-Quiz – plus Werbepause 3) eine Livetanzshow Zentrale Passagen von „Über die Produktivität von Unsinn“ wurden per Video in die Form eines Fernsehmagazins übersetzt. In dem Einspieler treten drei Expertinnen auf, die Pazzini zitieren: eine Psychologin mit Fellmütze an einem Ententeich, eine Nonne in einer Kirche sowie eine Passantin, die in einer Fußgängerzone Pizza isst. Die Kamera wandert ins Off und bleibt an Enten und Weihnachtsbaumkerzen hängen. Auf diese Einführung folgte das Quiz, bei dem die Anwesenden schnell auf unernste Fragen antworten sollten. Kasper bewegte sich schleichend zwischen den Studierenden hin und her und ging auf einzelne zu, um sie zum Mitmachen zu bewegen. Jede Antwort wurde bejubelt mit dem Ruf: „Das ist Unsinn!“ Den Antwortenden wurde ein Stoffbeutel als Gewinn überreicht. Darin befand sich ein Objekt für den Tanz im dritten Teil. Kasper leitete über zur Tanzshow, für die die Teilnehmenden sich einen Tanz mit ihrem Objekt ausdenken sollten. Die Anweisung dazu lautete: „Sie können den Gegenstand tanzen, ihn als Tanzpartner haben, seine Form als Inspiration eines Tanzmoves nutzen etc.“ Nach einer kurzen Zeit für die Beschäftigung mit den Objekten hockte sich Kasper in die Mitte des Raumes. Sie kündigte lächelnd an: „Dann fordere ich einfach einen nach dem anderen auf, mit mir auf die Bühne zu kommen. Wir sind in – 3, 2, 1 – auf Sendung!“ Lautes Lachen. Sie startete das unter Einsatz von Silberoutfits und Tiermasken vor einem surrealen Wüstenhintergrund produzierte Musikvideo „Crying at the Discoteque“ (2001). Nacheinander begaben sich die Anwesenden auf die Tanzfläche. Nur zwei Studierende blieben mit ihren Dingen am Rand stehen. Nach zwei Minuten stoppte Kasper die Musik und beendete das Ganze mit „Das war … Unsinn!“ Nach kurzem Luftholen stiegen wir in die Diskussion des Erlebten ein. Das Gespräch drehte sich schnell um den vermuteten Autoritätsverlust, den ein solcher Auftritt im schulischen Rahmen erzeugen könnte. Es wurde also über den Transfer in die Unterrichtspraxis nachgedacht.[3 ] Kasper wurde die Nonchalance für eine solche Übertragung zuerkannt. Ein artifizielles Gefüge aus Methoden, Medien und Ironie – kein Standard Mit den oben vorgestellten pädagogisch-politischen Begriffen stellt sich die Frage, ob und wie hier demokratische Fähigkeiten trainiert wurden. Die von Kasper realisierte pädagogische Einheit war eng getaktet und trotz Methodenvielfalt durch klare Anweisungen und Rollenverteilungen charakterisiert. Also betrachten wir etwas, das eher an handlungsorientierten, aber direktiven Unterricht erinnert. Während der Inszenierung stand Kasper im Zentrum der Aktion. Sie leitete das Ganze an und motivierte die Anwesenden dazu, mitzumachen. Dabei deutete Kasper zu Beginn des Ratespiels durch ein raubtierhaftes Anpirschen an, dass sie etwas Gefährliches vorhatte. So führte sie die Rolle der animierenden (Kunst-)Lehrperson überspitzt auf. An dieser Nachahmung wurde ein ironisches Selbstverhältnis der anleitenden Studentin deutlich. Dies war schon im Einspielervideo zu sehen, wo sie sich hintereinander in eine Psychiaterin, eine Nonne und eine Passantin verwandelt, die Pazzinis Text unterschiedlich interpretieren – als Ratgeber, als Gebet und als unverständliches Schmatzen. Das Interesse der Kamera an unpassenden Situationen – wie den Enten auf dem Teich – erzeugte eine komische Unstimmigkeit zwischen Text und medialem Format. Die schrägen Übersetzungen lassen eine ungewöhnlich lockere Annäherung an den wissenschaftlichen Text erkennen. Die übertriebene, verkürzte und verschobene Wiederaufführung von medialen Unterhaltungsformaten mit Education-Anteilen (die Expertinnenstimmen, die Prüfungssituation im Quiz und im Tanz mit den Alltagsobjekten), das heißt der hier hervorgebrachte Unsinn, zerlegte „das Gewohnte in Teile“ und „zeigte [uns], daß das Gewohnte [wie z. B. eine Seminarsituation] auch nur aus Unsinn zusammengesetzt ist“ (Pazzini 1999: 6). Dadurch, dass Kasper selbst in Vorleistung ging und demonstrierte, dass es im gegebenen Rahmen möglich und erwünscht war, unsinnig zu sprechen und zu handeln, baute sie Vertrauen auf und erweiterte die Handlungslogik auch für die anderen Seminarteilnehmer*innen. Die Erweiterung lässt sich mit Mecheril verstehen als „[typisch pädagogische] Praxis der Befremdung alltagsweltlich vertrauter Handlungsformen, Wissensbestände und normativer Praxen“ (Mecheril 2009: 5). Dies geschah jedoch in einem gewissen Maße, das heißt, die Beteiligung basierte auf der Ethik der Freiwilligkeit (vgl. Hölscher 2015: 223 f.). Die Aufforderung zum expressiven körperlichen Mitmachen und Sich-Zeigen erzeugte bewusst eine lächerlich anmutende Situation. Ob diese mit einem möglichen Verlust sozialen Ansehens assoziiert wurde oder eher mit Spaß, wie sie also bewertet wurde, hatte Einfluss darauf, wie die Studierenden reagierten. Ambiguitätstoleranzerfahrung im Kollektiv So entstand die entscheidende Unsinnproduktion erst im Kollektiv. Der Höhepunkt der Lehr-Lern-Situation, der Tanz mit den Alltagsgegenständen, schuf Raum für die Fantasien der Mitstudierenden. Ohne die individuellen Reaktionen auf Kaspers Aufgabe wäre die ganze Vorbereitung letztlich umsonst gewesen. Die vermeintliche Machtposition der Lehrperson ging in diesem Moment in das Angewiesensein der Pädagogin auf die Teilnehmenden über. Beteiligung beinhaltete hier diejenigen, die sich nicht einverstanden zeigten und das Mittanzen bestreikten. Kasper ließ auf einem für sie selbst unsicheren Terrain Raum für kritisches, beispielsweise passives Verhalten. Diese Flexibilität von Kasper in Bezug auf die Nichttänzer*innen lässt sich als Ambiguitätstoleranz verstehen. Auch die Tanzenden bearbeiteten Unsicherheiten, als sie zum Tanzen aufgefordert wurden. Die Nichttänzer*innen wiederum begegneten der Ambivalenz dadurch, dass sie sich nicht dem Verhalten der Gruppe anschlossen. Die Aufforderung, im Rahmen der akademischen Lehre spontan in eine Art Partysituation einzusteigen, erzeugte Unbehagen. Das absurde Seminarsetting verunsicherte zunächst alle, später nur noch einige, soweit es Körpersprache und Mimik im Dokumentationsvideo erkennen lassen. Anstelle der an Schulen verbreiteten Simulation von demokratischer Beteiligung (vgl. Besand 2020) wurde hier an einer Umkehrung gebaut. Simuliert wurde eine autoritäre Didaktik, die jedoch Erwartungen an herkömmlichen Kompetenz- und Wissenserwerb und also die Standardisierbarkeit künstlerischer Bildung unterlief.[4 ] Stattdessen wurde eine Inszenierung aufgeführt, die die eigene Auffassung des Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnisses und institutionelle Vorgaben austesten und reflektieren ließ. Die Regeln der Institution und ein theoretisch konturiertes Kunstverständnis können dabei in Bewegung geraten – die rahmenden Standards erweisen sich in Bezug auf Reflexionswissen (vgl. Sturm 2005) als erweiterbar. Nanna Lüth, Dr. phil., arbeitet und forscht in den Bereichen Kunst, Kunstpädagogik und Medienbildung. Arbeitsschwerpunkte sind kunst- und theoriebasierte Methodenentwicklung, die Öffnung und Diversifizierung von Bildungsinstitutionen sowie Diskriminierungskritik und Humor. 2021 neu erschienen: Lüth, Nanna (Hg.). Schule, Körper, Social Media. Differenzen reflektieren aus kunstpädagogischer Perspektive. München: kopaed. www.nannalueth.de Literatur Baacke, Dieter, 1985. Bewegungen beweglich machen – Oder: Plädoyer für mehr Ironie. In: Ders., Frank, Andrea, Frese, Jürgen, Nonne, Friedhelm (Hg.): Am Ende postmodern? Next Wave in der Pädagogik. Weinheim und München: Juventa. S. 190–216 Beigang, Steffen, Fetz, Karolina, Kalkum, Dorina, Otto, Magdalena, 2017. Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Hg. von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos Besand, Anja, 2020. Die Krise als Lerngelegenheit. Oder: Kollaterales politisches Lernen im Kontext von COVID-19. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/studium/lehrveranstaltungen/die-krise-als-lerngelegenheit (abgerufen 15.10.2021) Hartung, Anja, 2005. Was ist Humor? Zur Ideengeschichte und theoretischen Fundierung des Humorbegriffs. In: merz. Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 2005-04 Humor. S. 9–15 Hohenbüchler, Irene, Hohenbüchler, Christine, 2020. … Verhalten zu … sich in Verbindung setzen. In: Böhme, Katja, Engel, Birgit, Lömke, Tobias (Hg.): Im Wahrnehmen Beziehungs- und Erkenntnisräume öffnen. Ästhetische Wahrnehmung in Kunst, Bildung und Forschung. München: kopaed. S. 177–187 Hölscher, Stefan, 2015. Unbestimmtheitsrelationen. Impulse zum kunstdidaktischen Verhältnis von Rahmung und Prozess. In: Engel, Birgit, Böhme, Katja (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen. München: kopaed. S. 214–232 Klocke, Ulrich, 2012. Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Im Auftrag des Berliner Senats Kultusministerkonferenz, 2008. Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf (abgerufen 15.10.2021) Koch, Gerd, 2002. Bekanntes fremd machen und Fremdes bekannt machen. In: Special zum 60. Geburtstag Britta Haye. http://www.ibs-networld.de/ferkel/Archiv/koch-g-02-01_geb_haye-bekannt-fremd.html (abgerufen 01.05.2014, aktuell nicht mehr auffindbar) Lüth, Nanna, 2017. Kunstvermittlung als Bewegung. In: Fritzsche, Marc, Schnurr, Ansgar (Hg.): Fokussierte Komplexität – Ebenen von Kunst und Bildung. Festschrift für Carl-Peter Buschkühle. Oberhausen: Athena. S. 229–241 Mecheril, Paul, 2009. „Wie viele Pädagogen braucht man …“ Ironie und Unbestimmtheit. als Grundlage pädagogischen Handelns. http://www.staff.uni-oldenburg.de/paul.mecheril/download/mittagsvorlesung_mecheril2010.pdf (abgerufen 15.10.2021) Pazzini, Karl-Josef, 1999. Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären. In: Warzecha, Birgit (Hg.): Hamburger Vorlesungen über Psychoanalyse und Erziehung. Hamburg: Lit. S. 137–158 Sturm, Eva, 2005. Vom Schnüffeln, vom Schießen und von der Vermittlung. Sprechen über zeitgenössische Kunst. Vortrag am O.K. Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 06.06.2005. In: artmediation #5 Tier. http://www.artmediation.org/sturm.html (abgerufen 15.10.2021) Video Alcazar, 2000. Crying at the Discoteque (Official Video). https://www.youtube.com/watch?v=7CiOWcUVGJM (abgerufen 15.10.2021) Inhalt Rosa Kasper: „Explossion“, Screenshot von Video (2018) Endnoten [1] In diesem Text kommen Diskriminierungen nicht explizit vor. Im Gesamtseminar spielte Diskriminierungskritik, u. a. in theoretischen und künstlerischen Arbeiten, jedoch eine wichtige Rolle. [Zurück] [2] Das ist ein typisch paradoxer Moment im pädagogischen Rahmen, wenn Dozent*innen um Erlaubnis gefragt werden, Unsinn machen zu dürfen, also gegen die übliche Zielsetzung von universitärer Lehre zu verstoßen. Indem die Lehrperson in diesem Fall zustimmte, wurde eine Ziel- und Verhaltensnorm verschoben. Studierende und Lehrperson trafen eine verändernde Absprache. [Zurück] [3] Im universitären Raum muss offenbleiben, ob sich eine Seminareinheit in der Schule mit Schüler*innen nachvollziehen ließe oder nicht. Die Probe aufs Exempel ist in Seminaren, die zugleich Schulkooperationen sind, möglich. Vgl. u. a. Lüth (2017), Hohenbüchler, Hohenbüchler (2020) [Zurück] [4] In den KMK-Standards für das Lehramtsstudium Kunst ist als fachdidaktischer Studieninhalt u. a. aufgeführt: „Planung, Erprobung und Reflexion von Unterricht, der kunst- und wissenschaftspropädeutische Ziele verfolgt“. An dieser Vorgabe orientierte sich Kasper wahrscheinlich unbewusst, als sie in ihrer E-Mail danach fragte, welcher Wissensgehalt im Rahmen ihres Experiments am Ende erreichbar sei. [Zurück] 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Ank 1 Ank 2 Ank 3 Ank 4
- Issue 2 Editorial | appropriate
Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Editorial Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn und Julika Teubert Editorial Issue 2: Demokratisierung Das appropriate! Journal widmet sich in dieser Ausgabe der Demokratisierung. Der Begriff bezeichnet sowohl die Einführung von Demokratie in ehemals autoritär regierten Staaten als auch die kritische Weiterentwicklung von liberalen westlichen Demokratien. Letzteres ist genau genommen eine Demokratisierung der Demokratie. In der Zivilgesellschaft, deren Teil auch aktivistische Kunst ist, wird Demokratisierung meist als Kampfbegriff benutzt, um gesellschaftliche Bereiche, die undemokratisch sind, zu verändern. Gesellschaftliche Institutionen wie etwa das Bildungssystem an Schulen und Universitäten, die Kirche, Gefängnisse und Krankenhäuser sowie intransparente Bereiche in der Politik und Wirtschaft werden hierfür einer kritischen Prüfung unterzogen. Unser Verständnis von Demokratisierung sowohl in der als auch durch die Kunst entspricht diesem Ansatz. Demokratisierung gründet dabei auf den Prinzipien Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Anerkennung von Differenz und fordert, dass diese Grundsätze auch in der Praxis Anwendung finden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in kollektiven und partizipatorischen Vermittlungsprojekten einer Demokratisierung von unten Vorschub geleistet, die sich gegen intersektionale Diskriminierungen unterschiedlicher Prägung wendet. Die sieben Beiträge dieser Ausgabe widmen sich den Bereichen Bildung und Kultur, dem Kunstbetrieb und der Antidiskriminierungsarbeit und fragen nach Anwendungsmöglichkeiten von demokratieförderndem Handeln im Alltag und in der Kunst: Pinar Dogantekin sprach mit Bożna Wydrowska über Wydrowskas künstlerische und aktivistische Praxis und Lebensrealität als genderfluide Person im sehr konservativ regierten Polen. Der Interviewbericht beschreibt die Problematik von Künstler:innen, Journalist:innen und der LGBT+-Gemeinschaft, die unter der fortschreitenden Zensur durch die Regierung leiden. Beeindruckend ist Wydrowskas künstlerische Antwort auf das aktuelle politische System, in der Elemente der Ballroom-Culture und des Voguing als Teil des Widerstands funktionieren und die als Angebot für andere Menschen verstanden werden kann, das eigene Verständnis von Geschlecht und Geschlechterrollen neu zu beleuchten und sich von Konventionen zu trennen. Im zweiten Interview dieses Issues sprachen Daphne Schüttkemper, Tom Joris Baumann und Lina Bramkamp mit Jens Kastner und Lea Susemichel, den Autor:innen des Buchs „Identitätspolitiken¬¬ – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“. Von diesem Interview ausgehend fragt ihr Textbeitrag nach den unterschiedlichen Konzepten von Identität und welchen Zweck diese für die Gesellschaft haben. Identitätspolitiken werden auf ihr polarisierendes Potenzial hin untersucht. Dabei wird eine wichtige Differenzierung von linker Identitätspolitik und rechter Identitätspolitik vorgenommen. Im Praxisteil werden zwei Projekte vorgestellt, die einem aktivistischen Ansatz folgend das Ziel vereint, neue Formen von demokratischer Partizipation zu entwickeln und konkret auszuprobieren. Studierende der Kunstvermittlung der HBK haben im vergangenen Semester in Kooperation mit „Demokratie leben!“ Braunschweig und der Volkshochschule Braunschweig ein Vermittlungsprojekt auf dem Wollmarkt in Braunschweig konzipiert und umgesetzt. Ziel war es, eine Möglichkeit zum Austausch über Demokratie zu schaffen und ein Zusammenkommen in Präsenz zu gestalten. Martin Krenn, Andreas Baumgartner und Paula Andrea Knust Rosales berichten über die Intention des Platz_nehmen Projekts, über Entstehungsprozess und Umsetzung. Zentral ist dabei der Begriff Demokratie, nicht nur in Bezug auf den Umsetzungszeitraum, sondern auch im Kontext der Gruppenarbeit. Dabei kommt auch der Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien, über die in der Gesellschaft marginalisierte Gruppen nicht verfügen, eine wichtige Rolle zu. Das Kollektiv Bricking Through stellt ein Website-Projekt vor, das während der Coronapandemie entstanden ist und den digitalen Raum demokratisieren will. Statt weiterhin Datenkraken wie Facebook und Co. zu füttern, wollen Bricking Through mit ihrem Projekt eine – vor allem User:innen-gerechte – Alternative aufzeigen. Es handelt sich dabei um ein Work-in-Progress-Projekt: Es entsteht eine soziale Plattform, die Daten von User:innen schützt und zusätzlich den künstlerischen Austausch für +18-Inhalte mit hohen Sicherheitsstandards gewährleisten soll. Ihr Anspruch ist es, inklusiv, demokratisch und rücksichtsvoll miteinander zu denken und zu arbeiten. Julika Teubert bespricht den Sammelband „MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN, Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“. Das von Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg und Linda Kelch herausgegebene Buch erschien in diesem Sommer und behandelt unter anderem die Frage, ob oder wie eine Auseinandersetzung mit Kunst eine demokratische Haltung fördern kann. Zwei Gästinnenbeiträge vervollständigen das Issue 2: Nanna Lüth schreibt in „Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz“ im Kontext einer parteilichen und demokratisierenden Kunstvermittlung über den Zusammenhang von Humor und Differenzkritik. Dabei widmet sie sich den Fragen, in welchem Verhältnis Humor und Demokratie stehen, und wie Ambiguitätstoleranz als wichtiger Aspekt demokratischer Gemeinschaften durch die pädagogische Arbeit gefördert werden kann. Ihre Überlegungen fundiert sie nicht nur theoretisch, sondern veranschaulicht sie auch an einem Praxisbeispiel aus einem ihrer Seminare zu dem Thema, wie Unsinn und Verwirrung Ambiguitätstoleranz fördern können. In ihrem Beitrag „Arbeitsbedingungen verbessern! Aber wie?“ unterbreitet Mirl Redmann einen Vorschlag für mehr Inklusion und Diversität von Kulturarbeiter:innen als Bedingung demokratischer Strukturen im Kulturbetrieb. Die Autorin sieht das Potenzial einer Stärkung demokratischer Strukturen aus dem Inneren von Kulturinstitutionen heraus. Diesbezüglich fordert sie eine Re-Organisation von Institutionen und Projektprozessen in Heterarchien, was eine Neuverteilung von Macht zur Folge hätte und eine Konsentkultur etablieren könnte. Die Redaktion des Issue 2 | Demokratisierung | setzt sich zusammen aus: Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Inhalt
- Illumination des Landtages
English version KUNSTPROJEKT IM RAHMEN DES 75. JUBILÄUMS AM NIEDERSÄCHSISCHEN LANDTAG Projektion von Videostatements https://enlightening-the-parliament.de
- Greifbarkeiten – Gedanken zu Ritualen in Kunst und Kunstvermittlung | Issue 4 | appropriate!
Maja Zipf Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstvermittlung in der Praxis Maja Zipf Inhalt Kreatives Arbeiten im Workshop / Auseinandersetzung mit dem Thema Widerstand durch Papier/Material. © Maja Zipf 2022 Freies Arbeiten im Workshop / Schulklasse im Workshop, © Maja Zipf 2023 Kunstvermittlung im öffentlichen Raum © Maja Zipf 2023 „Wieso soll ich das denn jetzt kaputt machen?“ fragte mich Lena mit großen Augen. Lena hatte mit ihrer Schule einen Ausflug in den Kunstverein Wolfenbüttel gemacht und befand sich in einem meiner Workshops über die gezeigte Ausstellung „Eigentum und Sicherheit“ von Nadine Fecht. Sie saß an einem Tisch und vor ihr lagen verschiedene Papiere und Pappen, Scheren, Bleistifte und Cutter. Die Schüler:innen waren dazu eingeladen sich dem Thema Widerstand anzunähern. Sie konnten beispielsweise ausprobieren, wie nachgiebig oder robust ein Material ist, wie sich Widerstand anfühlt oder welche eigenen Widerstände in einem vorhanden sein können, wenn etwas absichtlich zerstört wird. Lena wirkte irritiert. Als Kunstvermittlerin fragte ich mich, wie ich mit Lenas Frage umgehen werde. Die Situation mit den Schüler:innen zeigte mir mal wieder, wie eng unser Bildungssystem gestrickt ist und wie wenig Spielraum für Experimente in den Schulen existiert. In der Schule sind wir es gewohnt, nach vorne zur Tafel zu schauen, einer Stimme zuzuhören, die uns erklärt was richtig und was falsch ist. Es werden Aufgaben gestellt, Abgabetermine festgesetzt und Zensuren verteilt. Neben dem affirmativen Unterricht sollen Gruppenaufgaben, Referate und Projekte einen Ausgleich darstellen. Aber eins haben all diese Lernformen gemeinsam, nämlich den klaren Arbeitsauftrag, den Erwartungshorizont und die Zensur am Ende. Dadurch wird den Schüler:innen stark vorgegeben, was gemacht werden soll. Solche Machtverhältnisse existieren nicht nur in den Schulen, wie beispielsweise die Hierarchie zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen, sondern auch in der Kunst, in den Museen und in der Kunstvermittlung selbst. Umso wichtiger ist eine emanzipierte und kritische Kunstvermittlung, die solche impliziten Machtverhältnisse widerspiegelt und kritisch hinterfragt. Auch in meiner eigenen Praxis erlebe ich häufig implizite Machtverteilungen. Vor allem in Workshops mit Schüler:innen, die durch die Schule einen affirmativen Unterricht gewohnt sind. Durch das Verhalten der Schüler:innen wird deutlich, dass diese davon ausgehen, dass ich als Vermittlerin eine höhere Machtposition habe, da ich den Workshop anleite. Doch genau solche Rollenverteilungen dürfen hinterfragt und gebrochen werden. Denn in einer kritischen Kunstvermittlung spielt nicht die vermittelnde Person oder ausschließlich die Kunst eine zentrale Rolle, sondern alle Beteiligten. Durch gemeinsames reflektieren, erfahren und sich austauschen können sowohl die Schüler:innen, als auch die Vermittler:innen zu neuen Denkanstößen gelangen. Unsere Möglichkeiten zu Lernen sind vielfältig. Selbstbestimmte Herangehensweisen, die eigenen Erfahrungen und ein spielerischer Umgang sind ebenso wichtig, wie die Erklärungen im Frontalunterricht. Der Mensch lernt durch beobachten, ausprobieren und Fehler machen. In der Schule bezieht sich unser Lernen vor allem auf das „was“ und nicht auf das „wie“ (Gompertz, 2016, S. 201). Lernen scheint für die Wiedergabe von Wissen zu stehen und sich weniger mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das Lernen gelernt werden kann. Die Folgen sind ein zu hohes Lernpensum und ein Verlust an Neugierde, Spontanität und Flexibilität. So saß Lena da und ich versuchte sie zu motivieren sich dem Thema anzunähern. Ich setzte mich neben sie und fragte, was genau sie gerade schwierig findet. Als Kunstvermittlerin benutze ich gerne die Frage als Möglichkeit ein Gespräch zu eröffnen. Wenn jemand eine Frage stellt, wird im besten Fall nach einer Antwort gesucht. Durch dieses Suchen wird die Urteilsbildung angeregt. Es braucht dabei nicht immer eine klare Antwort. Allein die eigenen Überlegungen oder die Feststellung, dass man sich unsicher ist, können aufschlussreich sein und zu neuen Erkenntnissen führen. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage wird sich einem Sachverhalt angenähert. Die Kunstvermittlung versucht dem Individuum einen gedanklichen Raum zu eröffnen, in dem beispielsweise eigene Zugänge zu einer künstlerischen Arbeit thematisiert werden. Neben dem spielt ästhetische Bildung eine relevante Rolle für die Kunstvermittlung. Ästhetische Bildung beschreibt vereinfacht gesagt ein sinnlich orientiertes Wahrnehmen und Deuten von Wirklichkeit (Schiefer 2006, S. 11). Somit beschreibt die Vermittlung von ästhetischer Bildung einen Gegenpol zu einem rein logischen und begrifflich orientierten Weltzugang. Ästhetische Bildung verstärkt nicht nur die Sensibilität des Individuums, sondern auch die Kreativität, Fantasiefähigkeit und die eigene Urteilsbildung, die wiederum einen Einfluss auf die Identitätsbildung haben kann (Schiefer 2006, S. 17). Dementsprechend wird in der Kunstvermittlung nicht nur der Inhalt einer künstlerischen Arbeit thematisiert, sondern auch die Frage was das Individuum sehen, wahrnehmen und fühlen kann. Die Frage: „Was hat diese Arbeit mit mir zu tun?“ kann helfen individuelle Zugänge zur künstlerischen Arbeit herzustellen. In meiner Praxis wird deutlich, dass die Geschmäcker und Ansichten über Kunst nicht unterschiedlicher sein können. Daher spielt Kommunikation und Partizipation eine entscheidende Rolle. Denn durch einen gemeinsamen und kritischen Diskurs über Kunst, können wir aufgrund unserer unterschiedlichen Meinungen, Geschmäcker und Erfahrungen voneinander lernen und profitieren. Lena antwortete: „Ich weiß nicht, was genau ich jetzt machen soll und verstehe den Sinn dahinter nicht. Das ist komisch?“ Ich sagte zu ihr, dass diese Gefühle, die sich in ihr eröffnen, die ersten Schritte sein können sich dem Thema Widerstand anzunähern. Sie kann selbst gerade erleben, dass sie Widerstände in sich spürt. Irritation kann eine Chance sein neue Eindrücke zu bekommen. Die daraus resultierenden Anstöße, Anregungen und Impulse, können zu einer Erweiterung der eigenen Vorstellungskraft führen (Schiefer 2006, S. 12). Durch ungewohnte Situationen können wir uns selbst auf eine bisher unbekannte Art und Weise erleben. Durch den Abgleich zwischen dem Subjekt und den äußeren Einflüssen entsteht die Frage „Wer bin ich im Verhältnis zum Anderen, zum Fremden, zum Neuen etc.?“. Dabei ist die Reflexion der eigenen Wahrnehmung ein wichtiger Bestandteil, um die persönliche Urteilsbildung anzuregen (Schiefer 2006, S. 12). Lena wirkte etwas verdutzt, als sie feststellte, dass sie wirklich diesen Widerstand in sich fühlte. Ich bot ihr an, die Gefühle, die in ihr ausgelöst wurden zum Ausdruck zu bringen und erklärte ihr, dass sie jetzt die Möglichkeit hat etwas auszuprobieren, was sie sonst nicht tun würde. In einem Nebensatz sagte ich zu ihr: „Mach dir keine Sorgen, es gibt hier keine Noten und auch kein richtig oder falsch.“ In den Workshops mit Schüler:innen wird deutlich, dass der freie Umgang mit Kunst zu neuen Perspektiven über einen selbst und der eigenen Umgebung führen kann, die losgelöst sind von den Maßstäben, Regulatorien und Zensuren des Schulbetriebes. Neben der Frage, was die Kunstvermittlung vermitteln soll, steht immer auch die Frage im Raum wie eine erfolgreiche, kritische Kunstvermittlung gestaltet werden kann. In meinem zweiten Beispiel thematisiere ich das Potenzial von Kunst im öffentlichen Raum und der damit einhergehenden Vermittlung. In meinem Praktikum im Kunstverein Wolfenbüttel habe ich die Ausstellung KiöR- Bestandaufgabe als Kunstvermittlerin begleitet. In dieser Ausstellung haben regionale Künstler:innen unterschiedliche Plätze innerhalb und außerhalb der Stadt Wolfenbüttel bespielt. Das Thema der Ausstellung bezog sich auf die Frage, wie mit alten Beständen umgegangen wird, wie neuer Bestand entstehen kann und wie die Künstler:innen die Stadt widerspiegeln. Neben dem Vorteil, dass der Außenraum währen der Covid-19 Pandemie eine gute Möglichkeit darstellte Kunst zu rezipieren, wollte der Kunstverein auch Menschen erreichen, die sich sonst weniger für Kunst interessieren. Für die Ausstellung KiöR wurden Künstler:innengespräche und Workshops angeboten. Zusätzlich sollten Kunstvermittler:innen sich bei ausgewählten Orten platzieren und versuchen mit den vorbeikommenden Menschen ins Gespräch zu kommen. Ausgestattet mit einem beschrifteten T-Shirt, ein paar Flyern und Stadtplänen ging ich zu meiner Tagesstation, die in einem kleinen Stadtpark lag. Als ich dort ankam wusste ich nicht, wie ich mich am besten platzieren sollte. Die künstlerische Arbeit stand auf einer Wiese, die hinter ein paar Büschen und Bäumen versteckt lag. Um die Arbeit betrachten zu können, musste erst einem kleinen Weg gefolgt werden. Die zweite Möglichkeit bestand darin weiter in den Park zu gehen und von einer Brücke aus auf die künstlerische Arbeit zu schauen. Der Nachteil daran war, dass die Arbeit dann nur aus der Distanz betrachtet werden konnte. So musste ich mich zwischen diesen beiden Positionen entscheiden, die ihre Vor- und Nachteile beinhalteten. Ich entschied mich für den kleinen Weg, in der Hoffnung ein paar Menschen zu motivieren sich die gezeigte Arbeit von Nahem anzuschauen. Neben der Frage nach einer geeigneten Platzierung, war auch meine Sichtbarkeit schwierig. Da wir keine Stände oder Tische hatten, musste das bedruckte T-shirt ausreichen, um meine Funktion als Kunstvermittlerin erkennbar zu machen. Die Flyer legte ich auf die Erde. In diesem Moment fühlte ich mich wenig professionell. So stand ich am Wiesenrand und wartete darauf, dass Leute vorbeikamen. Nach einer Weile fuhren ein paar Fahrradfahrer:innen vorbei, die ich natürlich nicht anhalten konnte. Es folgten Spaziergänger:innen, die allerdings häufig in einem Gespräch vertieft waren, wodurch sich bei mir Hemmschwellen aufbauten. Ich wollte nicht unhöflich sein und die Menschen in ihrem Gespräch unterbrechen. Dazu kam, dass die künstlerische Arbeit nicht direkt gesehen werden konnte, was es zusätzlich schwieriger machte die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Es wurde deutlich, dass ich die Initiative ergreifen musste, um ein Gespräch zu initiieren. Am besten gelang es mir Personen anzusprechen, die neugierig schauten. Dann fragte ich sie, ob sie von der aktuellen Ausstellung KioR vom Kunstverein Wolfenbüttel gehört hätten. Mit einigen ging ich anschließend gemeinsam zur Wiese um die künstlerische Arbeit zu betrachten. Anderen gab ich nur ein paar Informationen zu den bespielten Plätzen in der Stadt und verwies auf den Kunstverein. Im Kontrast zu der Situation im Park war die Vermittlung in der Stadt eine ganz andere. Am nächsten Tag stand ich in der Nähe des Stadtzentrums direkt neben der künstlerischen Arbeit. Dort traf ich Menschen, die etwas von der Ausstellung gehört hatten und sich diese bewusst ansehen wollten. Durch das Interesse der Besucher:innen war es einfacher ein Gespräch zu eröffnen. Ein interessanter Aspekt des KiöRs war die Tatsache, dass Hemmschwellen nicht nur bei den Betrachter:innen abgebaut werden mussten, sondern auch bei den Vermittler:innen selbst. Im Kontrast zur Kunstvermittlung im Museum braucht die Vermittlung im öffentlichen Raum andere Herangehensweisen. Im Museum müssen die Kunstvermittler:innen nicht spontan Personen ansprechen, wodurch Momente der Störung entstehen, sondern kommunizieren mit einer Gruppe, die sich im Vorfeld für eine Führung oder ähnliches entschieden hat. Das impliziert eine bewusste Entscheidung und Erwartungshaltung von den Besucher:innen und schafft somit den Rahmen für einen Diskurs. Trotz der Hürde ein Gespräch zu eröffnen, bekommt die Kunstvermittlung in der Konstellation vom KiöR eine Chance, genau die Menschen zu erreichen, die sich sonst wenig bis gar nicht aus sich heraus für Kunst interessieren und nur zufällig an einer künstlerischen Arbeit vorbei kamen. Durch diese Spontanität können beispielsweise mögliche Schwellenängste überwunden werden. Es gibt keine Eintrittskosten, keine einschüchternde Gebäude und kein fein gekleidetes Personal. Dazu kann Kunst im öffentlichen Raum teilweise berührt oder verändert werden und spiegelt gesellschaftliche Prozesse wider. Es können Anregungen für ein Gespräch mit Freunden und Familie entstehen, die wiederum zu neue Perspektiven und Gedanken führen. Kunst im öffentlichen Raum ist ein mächtiges Werkzeug um Missstände zu visualisieren, Orte zu verändern und dadurch einen Einfluss auf den Alltag vieler Menschen zu haben. Kunst im öffentlichen Raum ist nicht nur für ein fachspezifisches Publikum da, sondern für all diejenigen, die sich damit beschäftigen wollen. Egal, wo wir der Kunst begegnen, entscheidend ist unsere eigene Haltung zu ihr. Der Mehrwert von Kunst und Kunstvermittlung wird erst erfahrbar, wenn wir die Bereitschaft haben uns der Kunst zu öffnen und uns mit ihr auseinandersetzen. Durch eine kritische Kunstvermittlung können wir uns der Kunst annähern und existierende, implizite Machtverteilungen hinterfragen und neu verhandeln. So kann ein Status Quo einer kritisch, emanzipierten Kunstvermittlung etabliert werden, die durch die Partizipation der Beteiligten geprägt wird. Kunstvermittlung tritt in Interaktion mit den Beteiligten und schafft verbindende Erlebnisse, die wiederum Einfluss haben können auf die subjektiven Empfindungen und Gedanken über und zur Kunst. Referenzen (1) Gompertz, Will: „Denken wie ein Künstler: Wie Sie Ihr Leben kreativer machen.“ Dumont, 2016. (2) Schiefer Ferrari, Markus, Kirchner Constanze, and Spinner, Kaspar H.: „Ästhetische Bildung und Identität.“ Kontext Kunstpädagogik Band 8, 2006. Maja Zipf ist Künstlerin und Kunstvermittlerin. In ihrer künstlerischen Arbeit arbeitet sie multimedial mit dem Schwerpunkt auf Video und Malerei. Thematisch beschäftigt sie sich mit Körper(idealen), Selbstoptimierung und der Visualisierung von Gefühlszuständen. Neben dem Studium an der HBK Braunschweig bei Wolfgang Ellenrieder, begleitet sie Workshops und Ausstellungen im Kunstverein Wolfenbüttel. 1
- Buchrezension: Ever Been Friendzoned by an Institution? | Issue 4 | appropriate!
Julika Teubert Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Buchrezension: Ever Been Friendzoned by an Institution? Buchrezension von Julika Teubert Inhalt “Ever Been Friendzoned by an Institution?” sobat-sobat Publikation Vorderseite und Rückseite, © Julika Teubert Während der Laufzeit der documenta fifteen 2022 veröffentlichten die Kunstvermittler:innen (sobat-sobat) der Großausstellung eine eigene Publikation, die ich an dieser Stelle rezensieren möchte. Das schmale Buch ohne Cover mit dem Titel „Ever Been Friendzoned by an Institution?“ wurde in der lumbung Press in einer ersten Auflage von etwa 450 Stück gedruckt. Viele Kontakt- und Referenzpersonen wie Künstler:innen, Vermittler:innen, Kulturarbeiter:innenoder auch Institutionen bekamen eine Ausgabe zugesandt und so fand eine der Publikationen ihren Weg in die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Die Projektorganisation samt künstlerischer Leitung und redaktioneller Koordination trugen Theseas Efstathopoulosund Viviane Tabach. Im Vorwort der Publikation kündigen sie an, dass sich das Buch auf individuell gemachte Erfahrungen der sobat-sobat mit dem Konzept ruangrupas bezieht, auf die Zusammenarbeit zwischen der Bildungsabteilung und der documenta gGmbH und auf Gespräche mit Besucher:innen und Bewohner:innen Kassels sowie Künstler:innen der documenta. „This book is a combination of what has been developed so far and what is still in progress. Together we brainstormed relevant topics that constitute our work in documenta. […] We write from our personal perspectives, but we share and recognise ourselves in each other”, heißt es in der Einleitung. Insgesamt füllen 30 Beiträge die 80 Seiten des Buchs, die von 30 Personen verfasst wurden. Manche Texte stammen von einer Person, andere von bis zu vier Personen und selbst die Liste der Mitwirkenden ist lang. Das Werk macht den Eindruck, als seien kollektive Prozesse für das sobat-sobat Team der Publikation nicht nur relevant, sondern auch essenziell, um Projekte umzusetzen. Davon zeugt das Buch, dem man ansieht, dass es mit der Hilfe vieler Hände in der lumbung Press der documenta fifteen gedruckt und gebunden worden ist. Ebenso die Inhalte der Texte, die von dem starken Netzwerk und der Kommunikation sprechen, die sich innerhalb der sobat-sobat entwickelt haben. Die Publikation beinhaltet verschiedene Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen und es macht den Eindruck, als habe das Team der Publikation Wert darauf gelegt, diese anzunehmen und ihnen Raum zu geben. So sind die Texte in Deutsch oder Englisch verfasst, um es den Autor:innen zu ermöglichen, sich in der bevorzugten Sprache bestmöglich auszudrücken. Die Vielfalt zeigt sich außerdem in den unterschiedlichen Beitragsformen: Es finden sich neben Texten auch Interviews, Vermittlungsmethoden, Mind Maps und Illustrationen. Ein wichtiger Grundstein für die Publikation scheint ihr erster Beitrag zu sein. Es handelt sich um einen vom 08.07. bis zum 04.08.2022 durch einen kollektiven Schreibprozess entstandenen offenen Protestbrief der sobat-sobat. Darin sprechen sie von dem Zwiespalt, einerseits das Konzept ruangrupas erfüllen zu wollen, andererseits unter den Bedingungen der documenta gGmbH arbeiten zu müssen, die nicht nur als prekär und problematisch beschrieben werden, sondern oft auch einer Umsetzung des Vermittlungskonzepts ruangrupas entgegenwirkten. In einem der institutionskritischen Beiträge wird ein historischer Bezug zum Protest der Kunstvermittler:innen der documenta 14hergestellt. Im Gegensatz zu öffentlich geführten Debatten zur documenta fifteen dreht sich diese Publikation nicht um die Kritik am Konzept ruangrupas. Es findet sich stattdessen ein Interview mit Farid Rakun, einem Mitglied des Kuratorenkollektivs, in dem die Probleme der sobat-sobat auf tiefgreifende institutionelle Missstände zurückgeführt werden, die ihre Wurzeln nicht nur in der documenta haben. Die Beiträge in diesem Buch machen auf mich den Eindruck, als hätten viele der sobat-sobat mit großer Motivation die lumbung-Werte und -Methoden ausprobiert und angewendet. So finden sich viele sogenannte Harvests, also Sammlungen von Informationen und Ergebnissen zu einem Thema in unterschiedlicher Form: Mind Maps, Notizen, Timelines, Dialoge und vieles mehr. Eigentlich ist die Publikation selbst ein Harvest. Die Ernte eines Austauschs von Kunstvermittler:innen der documenta fifteen. Die Anwendung der lumbung-Werte und -Methoden wird in diesem Buch spielerisch verdeutlicht und die vielen entwickelten Formate und kreativen Umsetzungen sind umso bemerkenswerter, wenn man sie neben Texten liest, diesich mit den schwierigen Arbeitsbedingungen der Kunstvermittler:innen auf der documenta fifteen befassen. Tatsächlich verweisen dieses Buch und der offene Brief auf eine wichtige Kernaussage ruangrupas, nämlich auf das aktivistische, schaffensfreudige, politische Potenzial, das kollektiven Prozessen innewohnt. Auf eine sehr schöne Art und Weise wurde für die Verwirklichung des Buchs und des Briefs auf Ressourcen zurückgegriffen, die Teil der Ausstellung und des Konzepts waren, wie zum Beispiel die lumbung Press. Trotz allem hätte ich mir der Vollständigkeit halber neben der Reflexion über die Zusammenarbeit zwischen den sobat-sobat und der documenta gGmbH sowie dem Education Department auch eine kritischere Reflexion der Kuration gewünscht. Die bunte Zusammenstellung von persönlichen Erfahrungsberichten über die Vermittlungsarbeit auf der Weltausstellung documenta fifteen und Reflexionen über die Voraussetzungen für gute Vermittlungsarbeit sowie die Behandlung aktueller Themen der Kunstvermittlung mit einem starken Praxisbezug machen das Buch der sobat-sobatzu einer lesenswerten Lektüre für alle, die gern hinter die Kulissen der letzten documenta schauen möchten, mehr über das Konzept des sobat als Vermittler:in erfahren wollen und Lust darauf haben, mit diesem Buch einiges über das enorme Potenzial des Zusammentreffens so vieler engagierter Kunstvermittler:innen zu lernen. „Ever Been Friendzoned by an Institution?“ hat die ISBN 9783000733598, doch kann es aktuell leider nicht über einen Verlag bezogen werden. Interessierte sind dazu eingeladen, sich an die E-Mail-Adresse sobatpublication@gmail.com zu wenden, um ein Exemplar oder weitere Informationen zur Publikation zu erhalten. Julika Teubert, geboren 1995 in Berlin, ist sowohl Künstlerin als auch Kunstvermittlerin und studiert aktuell Freie Kunst bei der Professorin Isabel Nuño de Buen sowie Kunstvermittlung bei Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sie ist Mitbegründerin des „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“ und arbeitet seit zwei Jahren als ständiges Redaktionsmitglied und Autorin an der Entwicklung und Umsetzung der bisherigen vier Ausgaben des Webjournals. 1
- Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung | appropriate!
Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Inhalt Buchcover Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, erschienen 2024 bei Kiepenheuer & Witsch, Foto: Lena Götzinger Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt , Foto: Ali Ghandtschi Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt , Foto: Ali Ghandtschi „Der Nahostkonflikt bewegt die Kunst- und Kulturszene wie kein anderer. Seit dem 7. Oktober 2023 ist das sichtbarer als jemals zuvor“, schreiben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrem 2024 erschienenen Buch Muslimisch-jüdisches Abendbrot . Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Offene Briefe an Institutionen, Veranstaltungsabsagen, Ausladungen und Anfeindungen sind nur einige Indikatoren der aufgeheizten Stimmung, die seit einigen Monaten im Kunst- und Kulturbetrieb spürbar ist. Über die historischen Hintergründe dieser Entwicklungen, persönliche Boykott-Erfahrungen und die Wichtigkeit multiperspektivischer Diskussionsräume sprach Lena Götzinger mit der Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin Saba-Nur Cheema. „Um die heutige Lagerbildung in Bezug auf den Nahostkonflikt verstehen zu können, müssen wir in seine Geschichte blicken“, ordnet Cheema ein. „Historisch gesehen gab es nach dem Holocaust innerhalb der politischen Linken in Deutschland und international einen breiten Konsens der Solidarität mit Israel, das infolge seiner Staatsgründung mit starkem Antisemitismus und dem Vernichtungswunsch seitens der arabischen Staaten konfrontiert war. Der Sechstagekrieg 1967 und die Besatzung, die danach begann, haben das verändert. Sie führten zu einer Spaltung zwischen denjenigen, die weiterhin hinter Israel standen, und denen, die sich mit den Palästinenser:innen sowie den arabischen Staaten solidarisierten und zunehmend antizionistische Positionen einnahmen. Seitdem ist es in linken Kreisen zu der Gretchenfrage geworden, auf welcher Seite des Konflikts man steht, ob man pro Israel oder pro Palästina ist.“ Die Politologin kritisiert diese undifferenzierte Entweder-oder-Haltung, da durch sie all die historischen Komplexitäten radikal reduziert, simplifiziert und in ein manichäisches Gut-Böse-Weltbild überführt werden würden. Sie betont: „Differenzierung bedeutet nicht Relativierung, auch wenn uns das die verkürzten Diskurse in den sozialen Medien suggerieren wollen. Differenzierung ist auch keine kurzzeitige Position, sondern eine grundsätzliche Haltung, die es möglich macht, herausfordernde Perspektiven abseits von Lagerdenken und Freund-Feind-Schemata einzunehmen.“ Um der breiten Polarisierung in Bezug auf den Nahostkonflikt und den damit verbundenen Terroranschlägen und Kriegen entgegenzuwirken und zu zeigen, dass es viele Zwischentöne in der Diskussion geben kann, verfassen Saba-Nur Cheema und ihr Ehemann Meron Mendel seit 2021 in der Frankfurter Allgemeinen die Kolumne „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“, auf der auch ihr kürzlich erschienenes Buch basiert. Darin beleuchten sie verschiedene Themen, die sie als muslimisch-jüdisches Paar im Alltag beschäftigen, und sind sich dabei keineswegs immer einig. „Es geht uns nicht darum, aus Pro und Contra einen Kompromiss oder Konsens zu formen, sondern vielmehr für den Austausch, die Diskussion und den konstruktiven Streit zu plädieren.“ Diese Haltung vermisse sie aktuell in öffentlichen Debatten sowie im privaten Umfeld. Auch im Kunst- und Kulturbetrieb macht sich die polarisierte Stimmung, besonders seit dem 7. Oktober 2023, bemerkbar. „Menschen, die sich öffentlich zum Nahostkonflikt positionieren, werden vom ‚anderen Lager‘ ausgeladen, ausgebuht oder bedroht. [...] Alle diese Fälle bedienen sich der Boykott-Logik. Man will verhindern, dass die gegensätzliche Position in der Öffentlichkeit vorkommt“, schreiben Cheema und Mendel (2024) in ihrem Kolumnenbeitrag „Das Trauerspiel der Boykottkultur“. Die Auswirkungen dieser Dynamik erfuhren beide wenige Zeit später am eigenen Leib. Am 24.11.2024 fand in Berlin das Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt statt, welches von Cheema und Mendel auf Ein-ladung der Neuen Nationalgalerie kuratiert wurde. Anliegen der Initiator:innen war es, „einen dringend benötigten Raum für eine konstruktive und längst überfällige Debatte [zu] bieten, [um] Fragen nach der Verantwortung politischer Kunst im aktuellen Kontext des Nahostkonflikts [zu diskutieren und] insbesondere die Themen Antisemitismus, Rassismus, Kunstfreiheit und Solidaritäts-bekundungen in der Kunstwelt [zu adressieren]“ (Museumsportal Berlin, 2024). Dabei sollten lokale sowie internationale Gäst:innen, darunter palästinensische, israelische, jüdische und muslimische Stimmen, Gehör finden. Konkreten Anlass für die Veranstaltung bot auch die öffentliche Debatte um die Eröffnung der Ausstellung This Will Not End Well von Nan Goldin, über die deutsche Medien in den vergangenen Monaten vor allem aufgrund ihrer antiisraelischen Positionen berichtet hatten. Als „aktivistische Künstlerin, [die] für politisches Engagement steht“ (Museumsportal Berlin, 2024) lud man sie ein, die Key Note sowie die Concluding Note des Symposiums zu halten. Goldin lehnte dies jedoch ab und „machte deutlich, dass sie mit der Veranstaltung und jeder Verbindung zu ihrer Ausstellung nicht einverstanden [sei]“ (Museumsportal Berlin, 2024). Ihre Entscheidung begründete sie damit, dass das Symposium in ihren Augen nur dem Zweck der Neuen Nationalgalerie dienen würde, sich von ihrer propalästinensischen Haltung zu distanzieren. Cheema, die im Austausch mit Goldin betont hat, dass es eine Ehre wäre, wenn die Künstlerin als Rednerin am Gesprächsforum partizipieren würde, weist diesen Vorwurf entschieden zurück. Doch nicht nur Nan Goldin lehnte das geplante Symposium ab. „Wir wissen, dass viele der Speaker:innen, die im Programm standen, Anfeindungen ausgesetzt waren und Drohanrufe erhielten, in denen ihnen gesagt wurde, dass sie gefälligst nicht teilnehmen sollen und man sie andernfalls als Verräter:innen sehen würde, die mit der Gegenseite kollaborieren“, berichtet Cheema. In den Wochen vor der Veranstaltung hatten viele Gäst:innen, nach anfänglicher Zusage, ihre Teilnahme wieder zurückgezogen; eine Person sagte noch am Abend vorher ab. Auch wenn Cheema nicht alle dahinterstehenden individuellen Gründe kennt, ist sie sich sicher, dass die persönlichen Angriffe und Drohungen in einigen Fällen zu der Entscheidung beigetragen haben, dem Symposium fernzubleiben. Die Kampagne Strike Germany , die seit Anfang 2024 dazu aufruft, „Veranstaltungen deutscher Kultureinrichtungen zu boykottieren, weil diese Solidaritätsbekundungen mit Palästina unterdrücken würden“ (Deutschlandfunk, 2024), hatte in den sozialen Medien ebenfalls Stimmung gegen das Symposium gemacht und dessen Absage gefordert. Inwiefern ein Boykott den palästinensischen und pro-palästinensischen Speaker:innen nutzen sollte, deren Anliegen es war, ihre Perspektiven zu teilen, bleibt für Cheema unverständlich. Unterdessen postete Strike Germany mehrere Instagram-Beiträge, die darauf abzielten, sie und Mendel als Privatpersonen zu diffamieren. „Wir stehen in der Öffentlichkeit und müssen uns daher der Gefahr, markiert zu werden, bewusst sein“, sagt die Politologin, darauf angesprochen: „Natürlich dürfen und sollen unsere Haltungen und unsere Arbeit kritisiert werden. Hier fanden aber Hetze und gezielte Angriffe auf Individuen statt, die mit konstruktiver Kritik nichts mehr zu tun hatten. Besonders schockiert hat es mich, dass Mitarbeitende der Neuen Nationalgalerie in der Nacht vor dem Symposium in Instagram-Posts mit Titeln wie ‚Tap here if you want to know who they are‘ namentlich markiert wurden. Unter ihnen waren auch junge Menschen, die zum Teil gerade erst angefangen hatten, in der Verwaltung zu arbeiten, und in keiner Verbindung mit der Veranstaltung standen. Da wir nicht wussten, welche Personen hinter diesen Posts steckten und welches Bedrohungspotenzial von ihnen ausging, mussten wir uns am nächsten Morgen dazu entscheiden, große Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Ich finde es traurig, dass das nötig war.“ Gerade in Anbetracht dieser Umstände, die es für alle Beteiligten nicht leicht gemacht hatten, sieht Cheema es als Erfolg, dass das Symposium realisiert werden konnte. Für sie stand von Anfang an fest: „Wir machen das Symposium mit denen, die dabeibleiben. Und zum Glück sind auch spontan Menschen eingesprungen.“ Die durch die fehlenden Stimmen entstandenen Leerstellen seien Leerstellen geblieben. Für Cheema sind sie ein Zeugnis unserer Zeit. Wer aber am 24.11.2024, unter den ca. 500 Anwesenden im Otto-Braun-Saal der Nationalbibliothek in Berlin war, konnte zutiefst persönliche Redebeiträge und Paneldiskussionen verfolgen und hatte anschließend die Möglichkeit, Fragen an die Speaker:innen zu stellen. Unter ihnen war etwa der palästinensische Künstler Osama Zatar, der von seinem Aufwachsen im besetzten Ramallah, seiner Ehe mit einer israelischen Frau und dem Überwinden von physischen und zwischenmenschlichen Grenzen erzählte. Dabei positionierte er sich klar gegen kulturellen Boykott und betonte, dass es zentral sei, Betroffene selbst sprechen zu lassen, anstatt wie so häufig nur über sie zu reden. Die Kunstkritikerin und Kuratorin María Inés Plaza Lazo sprach über die Bedrohung aktivistischer Stimmen und offener Diskursräume durch Gesinnungsprüfungen und Cancelings. Darüber hinaus thematisierte sie die in ihren Augen privilegierte Position, von der aus man die Nahost-Debatte in Deutschland führen würde, während Menschen in Gaza täglich um ihre Existenz bangen. Leon Kahane verwies wiederum auf die Geschichte des Nationalsozialismus und Antisemitismus als wichtigen Kontext der Debatte hierzulande und schilderte, wie seine Biografie als deutscher Jude prägt, was er aktuell als Künstler im Kulturbetrieb erlebt. Zu sehen war auch die zweieinhalbminütige Videoarbeit Keening (2024) der Künstlerin Ruth Patir, die nominiert war, den israelischen Pavillon bei der Biennale in Venedig im vergangenen Jahr zu bespielen. Beim Symposium sprach sie über die Entscheidung, die Ausstellung geschlossen zu lassen, um so die Forderung nach einer Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas sowie nach einer Freilassung der Geiseln zu unterstützen, und wie sie damit die Verärgerung „beider Seiten“ auf sich gezogen hatte. Unterdessen betonte der Schauspieldirektor Remsi Al Khalisi das Potenzial von bildender Kunst und Theater, Perspektivwechsel anzubieten. Diese würden dazu einladen, sich in die Lage des anderen zu versetzen und eine Praxis der Empathie zu befördern, die nicht selektiv agiert. Genannt sind hiermit nur einige der Speaker:innen und Wortbeiträge, die an diesem Tag zu hören waren. Cheema resümiert: „Auch wenn ich in den Diskussionen keine Antworten gefunden habe, war es wichtig, dass sie stattgefunden haben. Vor allem hat das Symposium gezeigt, wie viele offene Fragen es gibt.“ Es sei ein häufiges Missverständnis zu denken, dass, wenn Menschen mit unterschiedlichen Positionen diskutieren, sie anschließend alle einer Meinung sein sollten. Und doch müsse man gerade jetzt in den Austausch treten und offen dafür sein, sich mit anderen Standpunkten und Argumenten auseinanderzusetzen. „Ich glaube, dass es entscheidend ist, Räume mit unterschiedlichen Perspektiven anzubieten, die keine Safe Spaces sind. Es kann verletzend sein, wenn eine gegenteilige Meinung an meiner Haltung kratzt, aber das gehört zum Miteinander in einer pluralen Gesellschaft und liberalen Demokratie dazu. Wir müssen akzeptieren, dass es viele Gleichzeitigkeiten geben kann, und eine Ambiguitätstoleranz sowie Resilienz demgegenüber aufbauen“, erklärt Cheema und betont mit Nachdruck: „Ich sehe eine große Gefahr, wenn wir in der gegenwärtigen Polarisierung verbleiben und es nicht schaffen, ein Freund-Feind-Denken innerhalb der politischen Linken zu überwinden, denn das verschleiert den Blick auf das eigentliche Problem: eine politische Haltung, die absolut gegen Diversität ist. Rechte und rechtsextreme Kräfte haben eine ganz klare Vorstellung davon, wie Kultur auszusehen hat, welche Freiheiten sie genießt und wer eine Bühne bekommt. Dem Kunst- und Kulturbetrieb stehen immer radikalere Kürzungen bevor, deren Auswirkungen auch heute schon zu beobachten sind. Wir müssen diese Debatten führen können, um in der Lage zu sein, uns antidemokratischen Kräften geschlossen entgegenzustellen.“ Saba-Nur Cheema (*1987) ist Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin. Ihren thematischen Schwerpunkt bilden Diversität, muslimisch-jüdischer Dialog und das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus. 2015 baute sie den Bereich der pädagogischen Programme und Projekte in der Bildungsstätte Anne Frank auf, den sie bis 2021 leitete. Vom deutschen Innenministerium wurde sie 2020 in den „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ berufen. Seit Mai 2022 forscht Cheema im Rahmen des BMBF-Projektes „Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit“ an der Goethe-Universität. Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Seit Issue 4 ist sie Teil der Redaktion von „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“. Literatur Cheema, Saba-Nur / Mendel, Meron, 2024. Das Trauerspiel der Boykottkultur. In: Frankfurter Allgemeine, 27.02.2024. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolumnen/muslimisch-juedisches-abendbrot/institutionen-stehen-unter-druck-das-trauerspiel-der-boykottkultur-19547089.html (abgerufen am 10.11.2024) Cheema, Saba-Nur / Mendel, Meron, 2024. Muslimisch-jüdisches Abendbrot: Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Erstauflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch. https://www.kiwi-verlag.de/buch/saba-nur-cheema-meron-mendel-muslimisch-juedisches-abendbrot-9783462007428 (abgerufen am 15.10.2024) Deutschlandfunk, 2024. „Strike Germany“: Was hinter dem Aufruf zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen steckt, 18.01.2024. https://www.deutschlandfunk.de/strike-germany-was-hinter-dem-aufruf-zum-boykott-deutscher-kultureinrichtungen-steckt-100.html (abgerufen am 13.01.2025) Museumsportal Berlin, 2024. Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt kuratiert von Saba-Nur Cheema and Meron Mendel. Statement 19.11.2024, Update 23.11.2024. https://www.museumsportal-berlin.de/de/veranstaltungen/kunst-und-aktivismus-in-zeiten-der-polarisierung/ (abgerufen am 20.12.2024) 01
- Issue 6 | appropriate!
Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Inhalt Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 Bild 5 Bild 6 Ähnlich wie der Begriff der Nachhaltigkeit scheint auch der Begriff der Partizipation immer mehr politisch verwässert und zum Selbstzweck zu werden. Der Architekt Markus Miessen plädiert in seinem Buch The Nightmare of Participation für eine Form der Partizipation, die mit einer politischen und ästhetischen Theorie verbunden ist – eine Koniktpartizipation, eine Verbindung von Partizipation und Agonismus* , in der er ein Potenzial sieht: Es geht darum, Konikte als Chance für Diskussion und Veränderung zu verstehen, anstatt sie zu vermeiden oder zu unterdrücken. Im Interview erklärt er: „Konikt ist für mich jetzt in dem Fall nicht irgendwie negativ belegt, wie etwa ein bewaffneter oder ein physischer Konikt, sondern er ist eine Diskursantwort auf eine Konsenspolitik, die jahrelang gefahren wurde und die in England unter New Labour ihren Höhepunkt hatte und sich dort besonders absurd gezeigt hat.“ In Miessens Erfahrung nutzen Architekturprojekte wie Projekte der Raum- und Stadtplanung Partizipation oft nicht, um Macht demokratisch zu verteilen, sondern um Verantwortung abzugeben und im Nachhinein sagen zu können: Wir haben ja alle gefragt. Dabei bleibt die Frage nach wirklicher Zugänglichkeit, nach einer Abgabe von Autor:innenschaft und Hierarchie oft vernachlässigt. „Wenn zum Beispiel für eine Stadt ein großes neues Projekt geplant ist, in dem sich die Bevölkerung der Stadt mit einbringen kann, werden meistens an Samstagen WorkshopFormate angeboten, wo keiner hinkommen kann. Und dann gibt es diese Runden. Dieses Roundtable-Prinzip fand ich immer ein bisschen schwierig – oder zumindest als einziges Tool schwierig –, weil das für mich auch signalisiert, dass man sich immer noch in diesem Diskurs bendet, dieser ‚Ticking Box Politics‘. Dass versucht wird, Partizipation relativ schnell abzuhandeln als eine Art temporären Möglichkeitsraum, in dem Leute zwar dazukommen, aber es ist im Grunde genommen eine Abendveranstaltung oder eine Gesprächsrunde, nach der sich wieder alle in ihre Realität verabschieden.“ Abseits von einem romantischen Partizipationsbegriff sucht Miessen Ansätze, in denen Kritik produktiv sein kann, in denen Handlungsoptionen und eine interesselose (also nicht auf Eigeninteresse abzielende) gegenseitige Involvierung gefunden werden können. Miessen spricht von einer adisziplinären Praxis, für die er den Begriff des Crossbenching nutzt. Diese ist ein Aufruf dazu, sich nicht herauszuhalten, sondern sich aktiv einzumischen: eine Methode der Zusammenarbeit, in der es unerheblich wird, aus welchen Disziplinen die einzelnen Beteiligten kommen. Einige Ansätze aus dem gleichnamigen Buch sind etwa die Aufnahme von Künstler:innen in Verwaltungsstrukturen, das Sichtbarmachen von Kämpfen in den Bereichen Migration und Antirassismus, das Hinterfragen der weltweiten Verbreitung von Bildern, das Überdenken der Städtebaupolitik, die Erneuerung von bezahlbarem Wohnraum und vieles mehr (Miessen 2016: 70). Miessen besteht dabei darauf, dass auch diese Aufzählung verbessert, umgewandelt, gekapert und in Frage gestellt werden sollte und dass, „wenn man wirklich politisch involviert werden will, die politische Rolle, die man spielen kann, die des einzelnen Individuums ist: man selbst“ (Miessen 2016: 72). Dieses Individuum, das sich politisch einmischt und einbringt, ohne mandatiert zu sein, beschreibt der Autor als einen „uninvited outsider“. „Diese Rolle von dem Außenseiter ist jetzt nicht unbedingt zu verstehen als jemand, der sich explizit und bewusst als Außenseiter platziert, sondern in der Frage, ist man eingeladen oder ist man nicht eingeladen? Ist man mandatiert oder nicht mandatiert? Oder was bedeutet überhaupt, in einer Rolle als Designer ohne Mandat zu agieren? Da geht es auch darum, dass die Projekte darauf aus sind, Verantwortung zu übernehmen.“ In einem ästhetischen Kontext – zu dem auch ästhetische Theorie sowie alle Rollenbeschreibungen wie die von Künstler:innen, Kurator:innen oder Architekt:innen zählen – ist eine Beteiligung an Projekten, und damit auch eine Eigenverantwortlichkeit, nahezu immer gegeben. In einem Umfeld, in dem zunehmend Räume von rechter Seite eingenommen, geschaffen und genutzt werden, stellt sich die Frage, was ästhetische Disziplinen und Praktiken an Gegenentwürfen und Perspektiven herstellen können. Welche Werkzeuge können entwickelt werden, die sich mit Konsens oder Dissens im Sinne einer produktiven Methode zur Entscheidungsndung auseinandersetzen? Miessen interessiert sich hier für den passenden Begriff der Einmischung (Miessen 2020: 73). Dabei geht es ihm um Einmischung an sich, aber ebenso darum, Einmischung von anderen zu ermöglichen. „Für mich war der Begriff der Einmischung deshalb von Interesse, weil er einen Möglichkeitsraum schafft. Man kann endlos lange versuchen, in Raumdiskurse reinzugehen, die bereits existieren, die von Rechten aufgemacht wurden, oder man versucht durch eine Art Gegengewicht andere Räume zu schaffen, die das entweder widerlegen oder die versuchen, andere Möglichkeiten aufzumachen. Da sieht man auch ganz gut, wie begrenzt die Architektur in ihrer Möglichkeit ist, direkt zu agieren oder auch schnell zu agieren. Architektur ist grundsätzlich ein sehr langsames Metier. Wenn man von wirklich gebauter Umwelt spricht, also Architektur als begrenzte, gebaute Umwelt, dann sind das oft Zeitspannen von drei bis fünf Jahren, in denen ein Projekt umgesetzt wird.“ So kann klassische Architektur einer Konjunktur rechter Räume nur wenig oder nur sehr langsam etwas entgegensetzen, während eine kritische Raumpraxis, die auf eine schnell umsetzbare Einmischung und die Einrichtung einer Horizontalität aus ist, effektiver darin ist, Diskursräume und neue Möglichkeiten der Zusammenkunft zu schaffen. Oder eben auch bestehende Strukturen zu kritisieren und zurückzubauen: „Das ist ein Thema im Diskurs über rechte Räume, das sehr wichtig ist, glaube ich, dass man es schafft, diese Thresholds und diese Punkte abzubauen, wo du das Gefühl hast, dass du als Außenstehender erst mal einen bestimmten Punkt überwinden musst, um dich irgendwie einbringen zu können. Und eigentlich ist diese Schwelle normalerweise auch nicht existent oder zumindest nicht hoch. Das sind ja oft psychische Barrieren.“ So bedeutet Einmischung in einem aktuellen Projekt im NS-Dokumentationszentrum München, an dem das Studio Miessen beteiligt ist, dass es nicht nur einen Nachdenk- und Kommunikationsprozess gibt, sondern dass gemeinsam mit der derzeitigen Direktorin Mirjam Zadoff überlegt wird, was es für Möglichkeiten gibt, die Institution neu zu denken. Beispielsweise widerspricht das Design des Eingangsbereichs laut Miessen dem, wofür dieses Haus stehen soll. „Also es soll ja ein Ort der Vermittlung, des Austausches und natürlich auch der Übermittlung von historischem Wissen und historischen Fakten sein, aber so wie das in der Vergangenheit da stattgefunden hat, war das extrem statisch und kam daher belehrend rüber, aber ohne dass irgendein Austausch stattgefunden hat. Das Projekt hatte irgendwann den Working Title Open Doors. Da ging es dann zum Beispiel auch darum, was ich eigentlich für einen ersten Eindruck bei den Besuchenden produziere. Wenn ich eine Institution betrete, in der ich erst mal einzeln durch eine gesicherte Drehtür durchgehen muss, nur um dann in einem Foyer anzukommen, in dem ein total abweisender Rezeptionstresen steht, der mich an eine Ästhetik von Banklialen in den späten Achtzigern erinnert, an dem man mit einer Person hinter Panzerglas durch ein Mikro spricht, ist das nicht gerade niedrigschwellig oder einladend. Und dann ging ein sehr langsamer Prozess los, von zwei Jahren, wo wir im Austausch mit den Architekten, die dieses Haus gebaut haben, immer wieder versucht haben herauszunden, wie man teilweise die Sachen rückbauen kann, wie können die auch ihre Autorenschaft aufgeben, damit wir da interagieren können.“ Das Ausstellungsprojekt eröffnet zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2025 in München. Neben einer diskursiven Möbelarchitektur entstehen eine Vermittlungsetage und verschiedene Formate, die Besucher:innen einbeziehen sollen. In einem weiteren aktuellen Projekt Miessens, den Esch Clinics in Luxemburg, arbeitet das Studio Miessen an konkreten Fragestellungen zur Demokratie und der Zukunft der Stadt. Im Zentrum steht, wie politische Entscheidungsstrukturen konkret verändert werden können und wie eine Zusammenarbeit mit dem politischen Mittelbau funktionieren kann, die über eine Legislaturperiode hinausgeht. Hier liegt ein Fokus auf städtischer Administration, also auf Strukturen, die unmittelbar Entscheidungen umsetzen können. „Da geht es im Grunde genommen darum, über die nächsten drei Jahre Fragen zu Demokratie und Urban Commons zu stellen. Wir haben als Teil des Projekts ein Residency-Programm gegründet, in dem wir über den gesamten Zeitraum mit 65 Akteurinnen und Akteuren aus diversen Feldern und Disziplinen zusammenarbeiten, die wir nach Esch einladen, um mit uns in Gesprächsformaten an konkreten Fragestellungen und Unterprojekten zu arbeiten. Das eigentliche Projekt, an dem wir mit den Esch Clinics arbeiten, ist ein Set of Policy Recommendations, das im Winter 2027 der Politik auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene übergeben wird. Und um zu verhindern, dass die Recommendations einfach in der Schublade verschwinden, machen wir vorher über ein halbes Jahr lang im öffentlichen Raum in Luxemburg eine politische Kampagne, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt und die eine Awareness in der Öffentlichkeit schafft, damit sie medial so präsent sind, dass man sie von politischer Seite nicht ignorieren kann. Das Projekt ist dahingehend horizontal, dass die Öffentlichkeit von Anfang an sehr stark involviert ist.“ In der Fußgängerzone von Esch wurde hierfür ein Satellit gegründet, der als Mischung aus Laden, Lokal, Büro und Diskursraum fungiert, in dem verschiedene Austauschformate stattnden. „Viele von den Akteuren und Akteurinnen, mit denen wir in dem Projekt zusammenarbeiten, arbeiten dann auch an konkreten Projekten mit Gruppen aus der Öffentlichkeit und Stakeholdern in Luxemburg zusammen. Und in diesem Projekt [Democracy Next] arbeiten sie zum Beispiel über zwei Jahre an der Umsetzung von Strukturwandel innerhalb der Verwaltung der Stadt, wo dann eine permanente Citizen Assembly (Bürger:innenversammlung) eingeführt wird. Das ist eigentlich das Projekt, das am meisten Vorarbeit gebraucht hat. Da sind wir schon seit mehr als zwei Jahren dran. Vor allem auf der politischen Ebene habe ich da ein Jahr lang Klinken geputzt und geschaut, dass wir so eine Art Grundstimmung herstellen, damit die politisch Verantwortlichen überhaupt bereit sind, so ein Projekt machen zu wollen. Denn das bedeutet für sie auch, dass sie relativ viel Macht abgeben.“ Diese Citizen Assembly soll langfristig in die Stadtpolitik eingeschrieben werden und so auch Teil des Verwaltungsapparates werden. Die daran beteiligten Personen werden ausgelost und für ihr Engagement, ihr Einmischen und ihr Sicheinbringen kompensiert. „Was ein großes Problem ist und ein Grund, warum diese Strukturen, zum Beispiel unter Tony Blair, nicht funktioniert haben, ist, dass die Leute, die Partizipation als politisches Tool benutzen, dies in dem Wissen tun, dass viele Leute sich gar nicht einbringen können. Wenn es jetzt zum Beispiel einen offenen runden Tisch am Samstagnachmittag gibt, wo gibt es da eine Kinderbetreuung, wie kriegen arbeitende Personen, die von Montag bis Freitag im Büro sitzen, bei denen Samstag der Tag ist, an dem sie alles organisieren müssen, wie kriegen die so etwas überhaupt unter? Nämlich nicht. Und unter der Woche schon mal gar nicht. Das heißt, da sind ökonomische Aspekte und Fragen von Care äußerst wichtig.“ Das alles sind Punkte, die zusammengebracht werden müssen, um ein Design und damit eine Situation zu kreieren, in der es wirklich eine horizontale Möglichkeit der Einmischung geben kann. „Ob die dann tatsächlich wahrgenommen wird, ist natürlich noch mal eine andere Frage. Wie kriegt man es hin, dass sich zum Beispiel wohnungslose Personen auch angesprochen fühlen? Denn bei diesen Sortition-Prozessen (Auslosungsprozessen) ist es so, dass alle Bürger:innen der Stadt ganz am Anfang zunächst eine Einladung bekommen, in der sie angeben können, ob sie grundsätzlich daran interessiert sind, daran teilzunehmen. Und die erhältst du natürlich normalerweise nur, wenn du gemeldet bist, weil sie an deine Postadresse kommt.“ Ergo ist auch die Berücksichtigung von Personen, die postalisch nicht registriert sind, eine Entscheidung, die im Design eine Rolle spielen muss. Markus Miessen is an architect, writer, and Professor of Urban Regeneration at UniLu, where he holds the Chair of the City of Esch. Miessen has previously taught at the AA, The Berlage, Städelschule, USC LA, and has been a Harvard Fellow. His work revolves around questions of critical spatial practice, institution building, and spatial politics. As a spatial consultant, he currently works with The Munich Documentation Center for the History of National Socialism. Amongst many other books and writings, Miessen is the author of “The Nightmare of Participation” and “Crossbenching”. Since 2025, he is also the Dean’s Visiting Professor at Columbia GSAPP, New York. https://studiomiessen.com/ https://culturesofassembly.org/ https://www.nsdoku.de/open-doors https://www.sternberg-press.com/product/agonistic-assemblies/ https://glean.art/articles/agnostic-assemblies Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. Literatur Miessen, Markus, 2012. Albtraum Partizipation. Berlin: Merve Verlag Miessen, Markus, 2016. Crossbenching. Berlin: Merve Verlag Miessen, Markus, Einleitung, 2020. In: Markus Miessen, Zoë Ritts (Hrsg.), Para-Plattformen, S. 72–74. Leipzig: Merve Verlag * Der Mouffe’sche Agonismus ist eine Theorie, die die potenziell positiven Aspekte von Konikten betont. 01 Anker 001