Kunstvermittlung als künstlerische Praxis
Art mediation as an artistic practice
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- Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung | appropriate!
Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Buchcover Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, erschienen 2024 bei Kiepenheuer & Witsch, Foto: Lena Götzinger Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt , Foto: Ali Ghandtschi Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt , Foto: Ali Ghandtschi „Der Nahostkonflikt bewegt die Kunst- und Kulturszene wie kein anderer. Seit dem 7. Oktober 2023 ist das sichtbarer als jemals zuvor“, schreiben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrem 2024 erschienenen Buch Muslimisch-jüdisches Abendbrot . Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Offene Briefe an Institutionen, Veranstaltungsabsagen, Ausladungen und Anfeindungen sind nur einige Indikatoren der aufgeheizten Stimmung, die seit einigen Monaten im Kunst- und Kulturbetrieb spürbar ist. Über die historischen Hintergründe dieser Entwicklungen, persönliche Boykott-Erfahrungen und die Wichtigkeit multiperspektivischer Diskussionsräume sprach Lena Götzinger mit der Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin Saba-Nur Cheema. „Um die heutige Lagerbildung in Bezug auf den Nahostkonflikt verstehen zu können, müssen wir in seine Geschichte blicken“, ordnet Cheema ein. „Historisch gesehen gab es nach dem Holocaust innerhalb der politischen Linken in Deutschland und international einen breiten Konsens der Solidarität mit Israel, das infolge seiner Staatsgründung mit starkem Antisemitismus und dem Vernichtungswunsch seitens der arabischen Staaten konfrontiert war. Der Sechstagekrieg 1967 und die Besatzung, die danach begann, haben das verändert. Sie führten zu einer Spaltung zwischen denjenigen, die weiterhin hinter Israel standen, und denen, die sich mit den Palästinenser:innen sowie den arabischen Staaten solidarisierten und zunehmend antizionistische Positionen einnahmen. Seitdem ist es in linken Kreisen zu der Gretchenfrage geworden, auf welcher Seite des Konflikts man steht, ob man pro Israel oder pro Palästina ist.“ Die Politologin kritisiert diese undifferenzierte Entweder-oder-Haltung, da durch sie all die historischen Komplexitäten radikal reduziert, simplifiziert und in ein manichäisches Gut-Böse-Weltbild überführt werden würden. Sie betont: „Differenzierung bedeutet nicht Relativierung, auch wenn uns das die verkürzten Diskurse in den sozialen Medien suggerieren wollen. Differenzierung ist auch keine kurzzeitige Position, sondern eine grundsätzliche Haltung, die es möglich macht, herausfordernde Perspektiven abseits von Lagerdenken und Freund-Feind-Schemata einzunehmen.“ Um der breiten Polarisierung in Bezug auf den Nahostkonflikt und den damit verbundenen Terroranschlägen und Kriegen entgegenzuwirken und zu zeigen, dass es viele Zwischentöne in der Diskussion geben kann, verfassen Saba-Nur Cheema und ihr Ehemann Meron Mendel seit 2021 in der Frankfurter Allgemeinen die Kolumne „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“, auf der auch ihr kürzlich erschienenes Buch basiert. Darin beleuchten sie verschiedene Themen, die sie als muslimisch-jüdisches Paar im Alltag beschäftigen, und sind sich dabei keineswegs immer einig. „Es geht uns nicht darum, aus Pro und Contra einen Kompromiss oder Konsens zu formen, sondern vielmehr für den Austausch, die Diskussion und den konstruktiven Streit zu plädieren.“ Diese Haltung vermisse sie aktuell in öffentlichen Debatten sowie im privaten Umfeld. Auch im Kunst- und Kulturbetrieb macht sich die polarisierte Stimmung, besonders seit dem 7. Oktober 2023, bemerkbar. „Menschen, die sich öffentlich zum Nahostkonflikt positionieren, werden vom ‚anderen Lager‘ ausgeladen, ausgebuht oder bedroht. [...] Alle diese Fälle bedienen sich der Boykott-Logik. Man will verhindern, dass die gegensätzliche Position in der Öffentlichkeit vorkommt“, schreiben Cheema und Mendel (2024) in ihrem Kolumnenbeitrag „Das Trauerspiel der Boykottkultur“. Die Auswirkungen dieser Dynamik erfuhren beide wenige Zeit später am eigenen Leib. Am 24.11.2024 fand in Berlin das Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt statt, welches von Cheema und Mendel auf Ein-ladung der Neuen Nationalgalerie kuratiert wurde. Anliegen der Initiator:innen war es, „einen dringend benötigten Raum für eine konstruktive und längst überfällige Debatte [zu] bieten, [um] Fragen nach der Verantwortung politischer Kunst im aktuellen Kontext des Nahostkonflikts [zu diskutieren und] insbesondere die Themen Antisemitismus, Rassismus, Kunstfreiheit und Solidaritäts-bekundungen in der Kunstwelt [zu adressieren]“ (Museumsportal Berlin, 2024). Dabei sollten lokale sowie internationale Gäst:innen, darunter palästinensische, israelische, jüdische und muslimische Stimmen, Gehör finden. Konkreten Anlass für die Veranstaltung bot auch die öffentliche Debatte um die Eröffnung der Ausstellung This Will Not End Well von Nan Goldin, über die deutsche Medien in den vergangenen Monaten vor allem aufgrund ihrer antiisraelischen Positionen berichtet hatten. Als „aktivistische Künstlerin, [die] für politisches Engagement steht“ (Museumsportal Berlin, 2024) lud man sie ein, die Key Note sowie die Concluding Note des Symposiums zu halten. Goldin lehnte dies jedoch ab und „machte deutlich, dass sie mit der Veranstaltung und jeder Verbindung zu ihrer Ausstellung nicht einverstanden [sei]“ (Museumsportal Berlin, 2024). Ihre Entscheidung begründete sie damit, dass das Symposium in ihren Augen nur dem Zweck der Neuen Nationalgalerie dienen würde, sich von ihrer propalästinensischen Haltung zu distanzieren. Cheema, die im Austausch mit Goldin betont hat, dass es eine Ehre wäre, wenn die Künstlerin als Rednerin am Gesprächsforum partizipieren würde, weist diesen Vorwurf entschieden zurück. Doch nicht nur Nan Goldin lehnte das geplante Symposium ab. „Wir wissen, dass viele der Speaker:innen, die im Programm standen, Anfeindungen ausgesetzt waren und Drohanrufe erhielten, in denen ihnen gesagt wurde, dass sie gefälligst nicht teilnehmen sollen und man sie andernfalls als Verräter:innen sehen würde, die mit der Gegenseite kollaborieren“, berichtet Cheema. In den Wochen vor der Veranstaltung hatten viele Gäst:innen, nach anfänglicher Zusage, ihre Teilnahme wieder zurückgezogen; eine Person sagte noch am Abend vorher ab. Auch wenn Cheema nicht alle dahinterstehenden individuellen Gründe kennt, ist sie sich sicher, dass die persönlichen Angriffe und Drohungen in einigen Fällen zu der Entscheidung beigetragen haben, dem Symposium fernzubleiben. Die Kampagne Strike Germany , die seit Anfang 2024 dazu aufruft, „Veranstaltungen deutscher Kultureinrichtungen zu boykottieren, weil diese Solidaritätsbekundungen mit Palästina unterdrücken würden“ (Deutschlandfunk, 2024), hatte in den sozialen Medien ebenfalls Stimmung gegen das Symposium gemacht und dessen Absage gefordert. Inwiefern ein Boykott den palästinensischen und pro-palästinensischen Speaker:innen nutzen sollte, deren Anliegen es war, ihre Perspektiven zu teilen, bleibt für Cheema unverständlich. Unterdessen postete Strike Germany mehrere Instagram-Beiträge, die darauf abzielten, sie und Mendel als Privatpersonen zu diffamieren. „Wir stehen in der Öffentlichkeit und müssen uns daher der Gefahr, markiert zu werden, bewusst sein“, sagt die Politologin, darauf angesprochen: „Natürlich dürfen und sollen unsere Haltungen und unsere Arbeit kritisiert werden. Hier fanden aber Hetze und gezielte Angriffe auf Individuen statt, die mit konstruktiver Kritik nichts mehr zu tun hatten. Besonders schockiert hat es mich, dass Mitarbeitende der Neuen Nationalgalerie in der Nacht vor dem Symposium in Instagram-Posts mit Titeln wie ‚Tap here if you want to know who they are‘ namentlich markiert wurden. Unter ihnen waren auch junge Menschen, die zum Teil gerade erst angefangen hatten, in der Verwaltung zu arbeiten, und in keiner Verbindung mit der Veranstaltung standen. Da wir nicht wussten, welche Personen hinter diesen Posts steckten und welches Bedrohungspotenzial von ihnen ausging, mussten wir uns am nächsten Morgen dazu entscheiden, große Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Ich finde es traurig, dass das nötig war.“ Gerade in Anbetracht dieser Umstände, die es für alle Beteiligten nicht leicht gemacht hatten, sieht Cheema es als Erfolg, dass das Symposium realisiert werden konnte. Für sie stand von Anfang an fest: „Wir machen das Symposium mit denen, die dabeibleiben. Und zum Glück sind auch spontan Menschen eingesprungen.“ Die durch die fehlenden Stimmen entstandenen Leerstellen seien Leerstellen geblieben. Für Cheema sind sie ein Zeugnis unserer Zeit. Wer aber am 24.11.2024, unter den ca. 500 Anwesenden im Otto-Braun-Saal der Nationalbibliothek in Berlin war, konnte zutiefst persönliche Redebeiträge und Paneldiskussionen verfolgen und hatte anschließend die Möglichkeit, Fragen an die Speaker:innen zu stellen. Unter ihnen war etwa der palästinensische Künstler Osama Zatar, der von seinem Aufwachsen im besetzten Ramallah, seiner Ehe mit einer israelischen Frau und dem Überwinden von physischen und zwischenmenschlichen Grenzen erzählte. Dabei positionierte er sich klar gegen kulturellen Boykott und betonte, dass es zentral sei, Betroffene selbst sprechen zu lassen, anstatt wie so häufig nur über sie zu reden. Die Kunstkritikerin und Kuratorin María Inés Plaza Lazo sprach über die Bedrohung aktivistischer Stimmen und offener Diskursräume durch Gesinnungsprüfungen und Cancelings. Darüber hinaus thematisierte sie die in ihren Augen privilegierte Position, von der aus man die Nahost-Debatte in Deutschland führen würde, während Menschen in Gaza täglich um ihre Existenz bangen. Leon Kahane verwies wiederum auf die Geschichte des Nationalsozialismus und Antisemitismus als wichtigen Kontext der Debatte hierzulande und schilderte, wie seine Biografie als deutscher Jude prägt, was er aktuell als Künstler im Kulturbetrieb erlebt. Zu sehen war auch die zweieinhalbminütige Videoarbeit Keening (2024) der Künstlerin Ruth Patir, die nominiert war, den israelischen Pavillon bei der Biennale in Venedig im vergangenen Jahr zu bespielen. Beim Symposium sprach sie über die Entscheidung, die Ausstellung geschlossen zu lassen, um so die Forderung nach einer Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas sowie nach einer Freilassung der Geiseln zu unterstützen, und wie sie damit die Verärgerung „beider Seiten“ auf sich gezogen hatte. Unterdessen betonte der Schauspieldirektor Remsi Al Khalisi das Potenzial von bildender Kunst und Theater, Perspektivwechsel anzubieten. Diese würden dazu einladen, sich in die Lage des anderen zu versetzen und eine Praxis der Empathie zu befördern, die nicht selektiv agiert. Genannt sind hiermit nur einige der Speaker:innen und Wortbeiträge, die an diesem Tag zu hören waren. Cheema resümiert: „Auch wenn ich in den Diskussionen keine Antworten gefunden habe, war es wichtig, dass sie stattgefunden haben. Vor allem hat das Symposium gezeigt, wie viele offene Fragen es gibt.“ Es sei ein häufiges Missverständnis zu denken, dass, wenn Menschen mit unterschiedlichen Positionen diskutieren, sie anschließend alle einer Meinung sein sollten. Und doch müsse man gerade jetzt in den Austausch treten und offen dafür sein, sich mit anderen Standpunkten und Argumenten auseinanderzusetzen. „Ich glaube, dass es entscheidend ist, Räume mit unterschiedlichen Perspektiven anzubieten, die keine Safe Spaces sind. Es kann verletzend sein, wenn eine gegenteilige Meinung an meiner Haltung kratzt, aber das gehört zum Miteinander in einer pluralen Gesellschaft und liberalen Demokratie dazu. Wir müssen akzeptieren, dass es viele Gleichzeitigkeiten geben kann, und eine Ambiguitätstoleranz sowie Resilienz demgegenüber aufbauen“, erklärt Cheema und betont mit Nachdruck: „Ich sehe eine große Gefahr, wenn wir in der gegenwärtigen Polarisierung verbleiben und es nicht schaffen, ein Freund-Feind-Denken innerhalb der politischen Linken zu überwinden, denn das verschleiert den Blick auf das eigentliche Problem: eine politische Haltung, die absolut gegen Diversität ist. Rechte und rechtsextreme Kräfte haben eine ganz klare Vorstellung davon, wie Kultur auszusehen hat, welche Freiheiten sie genießt und wer eine Bühne bekommt. Dem Kunst- und Kulturbetrieb stehen immer radikalere Kürzungen bevor, deren Auswirkungen auch heute schon zu beobachten sind. Wir müssen diese Debatten führen können, um in der Lage zu sein, uns antidemokratischen Kräften geschlossen entgegenzustellen.“ Saba-Nur Cheema (*1987) ist Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin. Ihren thematischen Schwerpunkt bilden Diversität, muslimisch-jüdischer Dialog und das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus. 2015 baute sie den Bereich der pädagogischen Programme und Projekte in der Bildungsstätte Anne Frank auf, den sie bis 2021 leitete. Vom deutschen Innenministerium wurde sie 2020 in den „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ berufen. Seit Mai 2022 forscht Cheema im Rahmen des BMBF-Projektes „Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit“ an der Goethe-Universität. Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Seit Issue 4 ist sie Teil der Redaktion von „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“. Literatur Cheema, Saba-Nur / Mendel, Meron, 2024. Das Trauerspiel der Boykottkultur. In: Frankfurter Allgemeine, 27.02.2024. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolumnen/muslimisch-juedisches-abendbrot/institutionen-stehen-unter-druck-das-trauerspiel-der-boykottkultur-19547089.html (abgerufen am 10.11.2024) Cheema, Saba-Nur / Mendel, Meron, 2024. Muslimisch-jüdisches Abendbrot: Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Erstauflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch. https://www.kiwi-verlag.de/buch/saba-nur-cheema-meron-mendel-muslimisch-juedisches-abendbrot-9783462007428 (abgerufen am 15.10.2024) Deutschlandfunk, 2024. „Strike Germany“: Was hinter dem Aufruf zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen steckt, 18.01.2024. https://www.deutschlandfunk.de/strike-germany-was-hinter-dem-aufruf-zum-boykott-deutscher-kultureinrichtungen-steckt-100.html (abgerufen am 13.01.2025) Museumsportal Berlin, 2024. Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt kuratiert von Saba-Nur Cheema and Meron Mendel. Statement 19.11.2024, Update 23.11.2024. https://www.museumsportal-berlin.de/de/veranstaltungen/kunst-und-aktivismus-in-zeiten-der-polarisierung/ (abgerufen am 20.12.2024) 01
- Buchrezension: Ever Been Friendzoned by an Institution? | Issue 4 | appropriate!
Julika Teubert Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Buchrezension: Ever Been Friendzoned by an Institution? Buchrezension von Julika Teubert “Ever Been Friendzoned by an Institution?” sobat-sobat Publikation Vorderseite und Rückseite, © Julika Teubert Während der Laufzeit der documenta fifteen 2022 veröffentlichten die Kunstvermittler:innen (sobat-sobat) der Großausstellung eine eigene Publikation, die ich an dieser Stelle rezensieren möchte. Das schmale Buch ohne Cover mit dem Titel „Ever Been Friendzoned by an Institution?“ wurde in der lumbung Press in einer ersten Auflage von etwa 450 Stück gedruckt. Viele Kontakt- und Referenzpersonen wie Künstler:innen, Vermittler:innen, Kulturarbeiter:innenoder auch Institutionen bekamen eine Ausgabe zugesandt und so fand eine der Publikationen ihren Weg in die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Die Projektorganisation samt künstlerischer Leitung und redaktioneller Koordination trugen Theseas Efstathopoulosund Viviane Tabach. Im Vorwort der Publikation kündigen sie an, dass sich das Buch auf individuell gemachte Erfahrungen der sobat-sobat mit dem Konzept ruangrupas bezieht, auf die Zusammenarbeit zwischen der Bildungsabteilung und der documenta gGmbH und auf Gespräche mit Besucher:innen und Bewohner:innen Kassels sowie Künstler:innen der documenta. „This book is a combination of what has been developed so far and what is still in progress. Together we brainstormed relevant topics that constitute our work in documenta. […] We write from our personal perspectives, but we share and recognise ourselves in each other”, heißt es in der Einleitung. Insgesamt füllen 30 Beiträge die 80 Seiten des Buchs, die von 30 Personen verfasst wurden. Manche Texte stammen von einer Person, andere von bis zu vier Personen und selbst die Liste der Mitwirkenden ist lang. Das Werk macht den Eindruck, als seien kollektive Prozesse für das sobat-sobat Team der Publikation nicht nur relevant, sondern auch essenziell, um Projekte umzusetzen. Davon zeugt das Buch, dem man ansieht, dass es mit der Hilfe vieler Hände in der lumbung Press der documenta fifteen gedruckt und gebunden worden ist. Ebenso die Inhalte der Texte, die von dem starken Netzwerk und der Kommunikation sprechen, die sich innerhalb der sobat-sobat entwickelt haben. Die Publikation beinhaltet verschiedene Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen und es macht den Eindruck, als habe das Team der Publikation Wert darauf gelegt, diese anzunehmen und ihnen Raum zu geben. So sind die Texte in Deutsch oder Englisch verfasst, um es den Autor:innen zu ermöglichen, sich in der bevorzugten Sprache bestmöglich auszudrücken. Die Vielfalt zeigt sich außerdem in den unterschiedlichen Beitragsformen: Es finden sich neben Texten auch Interviews, Vermittlungsmethoden, Mind Maps und Illustrationen. Ein wichtiger Grundstein für die Publikation scheint ihr erster Beitrag zu sein. Es handelt sich um einen vom 08.07. bis zum 04.08.2022 durch einen kollektiven Schreibprozess entstandenen offenen Protestbrief der sobat-sobat. Darin sprechen sie von dem Zwiespalt, einerseits das Konzept ruangrupas erfüllen zu wollen, andererseits unter den Bedingungen der documenta gGmbH arbeiten zu müssen, die nicht nur als prekär und problematisch beschrieben werden, sondern oft auch einer Umsetzung des Vermittlungskonzepts ruangrupas entgegenwirkten. In einem der institutionskritischen Beiträge wird ein historischer Bezug zum Protest der Kunstvermittler:innen der documenta 14hergestellt. Im Gegensatz zu öffentlich geführten Debatten zur documenta fifteen dreht sich diese Publikation nicht um die Kritik am Konzept ruangrupas. Es findet sich stattdessen ein Interview mit Farid Rakun, einem Mitglied des Kuratorenkollektivs, in dem die Probleme der sobat-sobat auf tiefgreifende institutionelle Missstände zurückgeführt werden, die ihre Wurzeln nicht nur in der documenta haben. Die Beiträge in diesem Buch machen auf mich den Eindruck, als hätten viele der sobat-sobat mit großer Motivation die lumbung-Werte und -Methoden ausprobiert und angewendet. So finden sich viele sogenannte Harvests, also Sammlungen von Informationen und Ergebnissen zu einem Thema in unterschiedlicher Form: Mind Maps, Notizen, Timelines, Dialoge und vieles mehr. Eigentlich ist die Publikation selbst ein Harvest. Die Ernte eines Austauschs von Kunstvermittler:innen der documenta fifteen. Die Anwendung der lumbung-Werte und -Methoden wird in diesem Buch spielerisch verdeutlicht und die vielen entwickelten Formate und kreativen Umsetzungen sind umso bemerkenswerter, wenn man sie neben Texten liest, diesich mit den schwierigen Arbeitsbedingungen der Kunstvermittler:innen auf der documenta fifteen befassen. Tatsächlich verweisen dieses Buch und der offene Brief auf eine wichtige Kernaussage ruangrupas, nämlich auf das aktivistische, schaffensfreudige, politische Potenzial, das kollektiven Prozessen innewohnt. Auf eine sehr schöne Art und Weise wurde für die Verwirklichung des Buchs und des Briefs auf Ressourcen zurückgegriffen, die Teil der Ausstellung und des Konzepts waren, wie zum Beispiel die lumbung Press. Trotz allem hätte ich mir der Vollständigkeit halber neben der Reflexion über die Zusammenarbeit zwischen den sobat-sobat und der documenta gGmbH sowie dem Education Department auch eine kritischere Reflexion der Kuration gewünscht. Die bunte Zusammenstellung von persönlichen Erfahrungsberichten über die Vermittlungsarbeit auf der Weltausstellung documenta fifteen und Reflexionen über die Voraussetzungen für gute Vermittlungsarbeit sowie die Behandlung aktueller Themen der Kunstvermittlung mit einem starken Praxisbezug machen das Buch der sobat-sobatzu einer lesenswerten Lektüre für alle, die gern hinter die Kulissen der letzten documenta schauen möchten, mehr über das Konzept des sobat als Vermittler:in erfahren wollen und Lust darauf haben, mit diesem Buch einiges über das enorme Potenzial des Zusammentreffens so vieler engagierter Kunstvermittler:innen zu lernen. „Ever Been Friendzoned by an Institution?“ hat die ISBN 9783000733598, doch kann es aktuell leider nicht über einen Verlag bezogen werden. Interessierte sind dazu eingeladen, sich an die E-Mail-Adresse sobatpublication@gmail.com zu wenden, um ein Exemplar oder weitere Informationen zur Publikation zu erhalten. Julika Teubert, geboren 1995 in Berlin, ist sowohl Künstlerin als auch Kunstvermittlerin und studiert aktuell Freie Kunst bei der Professorin Isabel Nuño de Buen sowie Kunstvermittlung bei Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sie ist Mitbegründerin des „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“ und arbeitet seit zwei Jahren als ständiges Redaktionsmitglied und Autorin an der Entwicklung und Umsetzung der bisherigen vier Ausgaben des Webjournals. 1
- Von „Natur“ und „Kultur“ | appropriate!
Beitrag von Sam Evans Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Von „Natur“ und „Kultur“ Sam Evans Sam Evans, When the foxes getting married (2022) Nur wenige Themen halten uns gerade so sehr in Atem wie der Umgang mit der Klimakatastrophe, auf die wir wissentlich zusteuern. Wir hören momentan die Uhren lauter denn je ticken, die uns daran erinnern, wie wenig Zeit die Menschheit noch hat, um das Ruder herumzureißen und das Schlimmste zu verhindern. Die immer öfter auftretenden, klimabedingten Katastrophen betreffen auch den Wald. Die abiotischen, also nicht von Lebe-wesen abhängigen Faktoren umfassen Waldbrände, Über-flutungen, Dürren und Stürme. Auch durch Abholzung schwindet der Wald zusehends und muss zur Ressourcengewinnung, beispielsweise für Futterweiden und Palmölplantagen, weichen. Europa ist dabei verantwortlich für etwa 16 Prozent der weltweiten Rodungen. Mit Stand 2020 werden 29 Prozent der globalen Landfläche von Wäldern eingenommen, das sind 2,4 Prozent weniger als noch im Jahr 2000. Der Wald ist nicht nur Lebensraum für zahlreiche Tiere und Organismen, die durch sein Schwinden verdrängt und dadurch bedroht werden. Er schützt auch den Boden vor Erosion und bietet Menschen vieles, wonach sie sich aufgrund des Klimawandels immer zunehmender sehnen: Frische, sauerstoffreiche Luft, Kühle durch Verdunstung, Schatten und ein sich erhaltendes, funktionierendes Ökosystem. Er reguliert das örtliche Klima vor allem durch Verdunstung und das weltweite Klima insbesondere durch das Speichern von CO2. Wenn man den Wald im Laufe der Epochen betrachtet, zeichnet sich seine Signifikanz für die Menschheitsgeschichte klar ab. Ohne ihn würde ein Großteil der Grundlage fehlen, auf der wir unsere Gesellschaft errichtet haben. Von Beginn an lieferte er Bau- und Brennstoff, Schatten und Kühle, Weidefläche und Jagdgrund, frische Luft und ein ausgeglichenes Klima. Zugleich war der Wald stets ein Spiegel unserer Gesellschaft. Wie man mit dem Wald umging, über ihn sprach und über ihn Kunst schaffte, drückte die Ideale, Ideologien, Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte der jeweiligen Zeit aus. Ob es das mittelalterliche Streben nach Kontrolle und Ordnung gegen die düstere Wildnis war, die romantische Sehnsucht nach einem ursprünglichen Zufluchtsort oder konstruierte Ideologien zur Rechtfertigung von Gräueltaten im NS-Deutschland. Das hat sich auch in der Gegenwart nicht verändert. Die Versuche, den Wald zu schützen und in die Stadt zu integrieren, drücken eine akute Zukunftsangst aus. Die fortlaufende Rodung und Aus-beutung des Waldes, die trotz der Bedrohung durch den Klima-wandel fortgeführt wird, verdeutlicht, wie sehr unsere Gesellschaft auf Konsum und Gewinnstreben ausgelegt ist. Die Folgen davon zeigen sich auch in der immer stärker werdenden psychischen Belastung der Menschen in unserer Gesellschaft und dem zu-nehmenden Bedürfnis nach Abstand und Erholung, das sich in den vielfältigen Freizeitangeboten, die im Wald stattfinden, spiegelt. Auch wenn die Natur beständig ein Motiv der Malerei und Zeichnung blieb, hat sich der Kunstbegriff im Laufe der Zeit erweitert und mit ihm auch die Möglichkeiten, die Natur zu thematisieren. Man konnte sich ihr auf neue Weise annähern und begann, die Elemente der Natur in die Kunst zu übertragen und sie unverfälscht zu nutzen. Ein Beispiel für den veränderten künstlerischen Umgang mit der Natur ist die Arbeit „Storm King Wavefield“ der Künstlerin Maya Lin, die sie 2009 im Storm King Art Center in New York errichtete. Auf einer ehemaligen Kiesgrube erschuf sie eine Landschaft aus bis zu sechs Meter hohen Grashügeln, deren Formen an die Wellen des Ozeans angelehnt sind. Die Arbeit, welche zu ihrer dreiteiligen Serie „Wavefield“ gehört, ist als eine Intervention in natürliche und urbane Umgebungen konzipiert und versinnbildlicht die Dynamik und Schönheit der Landschaft, aber auch ihre Fragilität sowie ihre Veränderung aufgrund von menschlichem Einwirken und dem Klimawandel. Wie in vielen ihrer Arbeiten reflektiert Lin hier die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf tiefgreifende Weise und schafft somit ein Bewusstsein für Umweltthemen, das Betrachter:innen dazu ermutigen soll, Verantwortung für den Schutz und die Erhaltung der natürlichen Welt zu übernehmen. Eine weitere Arbeit der zeitgenössischen Kunstwelt, die in diesem Kontext zu erwähnen unumgänglich ist, vor allem in Bezug auf Bäume und den Wald, ist Joseph Beuys’ Arbeit „7000 Eichen“, die für die documenta 7 (1982) entstand. Über einen Zeitraum von fünf Jahren wurden in Kassel unter dem Slogan „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ (Nemeczek 2014) 7000 Bäume gepflanzt. Mit der lebendigen Raum-Zeit-Skulptur, die Beuys als „Soziale Plastik“ betitelte, verfolgte er das Ziel, Kunst in den Alltag der Menschen zu bringen und einen nachhaltigen sozialen sowie ökologischen Wandel anzustoßen. Die beschriebenen Arbeiten zeigen beispielhaft, wie Kunst bewegen, aufklären und Denkanstöße geben kann, wie hier etwa in Bezug auf die Betrachtung und den Umgang des Menschen mit der Natur. Dadurch ist sie besonders in Zeiten des Klimawandels unverzichtbar. Eine wichtige Rolle kommt dabei auch der Kunstvermittlung zu, die neue Wahrnehmungsebenen eröffnen kann und das Potenzial bietet, größere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge greifbar zu machen. Der Wald kann als Ort der kunstvermittlerischen Praxis einen erlebnisorientierten Zugang ermöglichen und eine emotionale Verbindung zur Natur fördern. Er ist ein Ort, der viele Menschen verbindet, die sonst wenige Gemeinsamkeiten haben und stellt somit eine Schnittstelle dar, die wir sinnbildlich und buchstäblich zusammen betreten können. Die Kunstwissenschaftlerin Anette Tietenberg sagt dazu: „Man kann den Wald nicht von außen, nicht aus der Distanz betrachten. Wenn man sich mit ihm beschäftigt, muss man ihn betreten. Teil von ihm werden, bereit sein, die Orientierung zu verlieren. Diese Erfahrung könnte helfen, Überlegenheitsillusionen und egozentrische Wahrnehmungsgewohnheiten zu überwinden. Ich sehe darin das Potenzial, mit einer Perspektive zu brechen, aus der heraus der Wald nur als landwirtschaftliche Nutzfläche betrachtet wird. Er ist mehr als ein reines Instrument der Holzwirtschaft, eine Lagerfläche und ein Produzent für Möbel, Holz und Kohle. Der Philosoph Konrad Liessmann hat schon in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass die ökologische Debatte daran krankt, dass sie am instrumentellen Denken festhält, wenn sie damit argumentiert, dass es ihr schließlich um nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit ginge. Es steht dann wieder der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Fokus. Was aber wird aus Lebensräumen, die nicht in erster Linie dem Menschen dienen und ihm nützlich sind? Mit Hilfe von Interventionen der Kunstvermittlung ließen sich vielleicht Irritationen erzeugen, die die Paradoxie des Festhaltens an einer Konstruktion von ‚Umwelt‘, in deren imaginären Mittelpunkt stets der Mensch steht, wahrnehmbar macht.“ (Evans, 2023) Die kunstvermittlerische Praxis im Wald kann uns, wie von Tietenberg beschrieben, erkennen lassen, dass wir im Kleinen wie auch im Großen Teil eines natürlichen Kreislaufs sind. In der Begegnung mit Arealen von Totholz, verdorrten oder verbrannten Waldflächen, die nachweislich durch die Einwirkung von Menschen verursacht wurden, werden der Verlust und die Zerstörung von unberührter Natur spürbar. Die gemeinschaftliche Motivation, den Wald zu erhalten, bietet eine Grundlage, um Standpunkte zu entwickeln und aktivistische Impulse zu setzen. Diese gemeinsamen Erfahrungen öffnen den Wald unweigerlich als politischen Raum. Anhand eines selbstentwickelten Beispiels möchte ich einen Einblick bieten, wie eine kunstvermittlerische Praxis im Wald aussehen kann. Das Vermittlungskonzept bezieht sich dabei auf die „Tree Drawings“ (2006) des Künstlers Tim Knowles. Für diese Arbeiten befestigte Knowles an den Zweigen von Bäumen Stifte, die wiederum auf einem Blatt Papier auflagen. Auf diese Weise entstanden Zeichnungen, welche die Bewegungen der Bäume durch Striche und Spuren dokumentierten. Diese Arbeitsweise eignet sich gut, um sie mit Teilnehmenden eines Workshops nachzuahmen. Schon beim schweigsamen Betreten des Waldes liegt der Fokus darauf, achtsam zu sein und bewusst wahrzunehmen, welche Geräusche und Gerüche es dort gibt, welche Pflanzen und Tiere sich entdecken lassen und was für Gefühle dieser Ort in uns auslöst. Um eigene „Tree Drawings“ zu entwickeln, bekommen die in kleine Gruppen aufgeteilten Teilnehmenden Stifte, Bänder und Papier, die sie, wie im Vorbild von Knowles, an einem Baum oder einer anderen Pflanze ihrer Wahl befestigen. Die Formen und Bewegungen der Pflanzen werden dabei bewusst als künstlerische Mittel betrachtet. Während die Zeichnungen entstehen, finden sich die Teilnehmenden wieder zusammen, wissend, dass die Äste ihrer Bäume bei jedem Windstoß den Stift über das Papier bewegen. Gemeinsam kann der Prozess, der sich nun abspielt, reflektiert und der Frage nachgegangen werden, wer Künstler:in der fertigen Zeichnung sein wird. Sind es die Menschen, die den Stift festgebunden haben, oder ist es der Baum, durch dessen Bewegungen die Linien auf dem Blatt entstehen? Kann ein Baum überhaupt Künstler sein, wenn er kein Bewusstsein oder Verständnis für Kunst hat? Wie viel Bewusstsein haben Pflanzen? Braucht es eines, um Kunst zu schaffen? Was braucht es, um ein:e Künstler:in zu sein? Reicht es, eine Idee zu haben, die man in Auftrag gibt, oder muss man sie auch umsetzen? Durch die Betrachtung der besonderen Merkmale der von den Teilnehmenden ausgewählten Pflanzen lässt sich viel über diese herausfinden, etwa ob sie gesund sind, um welche Art es sich handelt und wie man ihr Alter bestimmen kann. Auch lässt sich beobachten, ob sich die Formen und Eigenschaften der Pflanzen in die Zeichnung übertragen haben. Ist ihre Handschrift eine Unterschiedliche? Das Projekt endet mit dem Bestreben, die Teilnehmenden mit neuen Ansätzen und Fragen nach Autor:innenschaft und dem Bewusstsein der Natur zu entlassen, sowie mit einer gestärkten Verbundenheit zum Wald. Dieser Text basiert auf der Abschlussarbeit „Der Wald als kunstvermittlerischer Raum" von Sam Evans und wurde von Lena Götzinger editiert. Sam Evans ist eine Fotografie- und Multimedia-Künstlerin, die sich intensiv mit der Beziehung zwischen Leben und Natur auseinandersetzt. Ihr Werk reflektiert zunehmend Themen wie Artefakte, Rituale, Erinnerungen sowie die Wechselwirkungen zwischen imaginären Konstrukten und der Umwelt. Kreisläufe, Schutzmechanismen, menschliche Rohheit und die Bedeutung von Orten sind zentrale Elemente ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Ihre künstlerische Ausbildung umfasste Studien bei renommierten Professor:innen wie Hartmut Neumann, Zheng Bo und Corinna Schnitt und sie steht kurz vor dem Abschluss ihres Meisterschülerstudiums. Literatur Der Spiegel, 2021. Klimawandel in Ballungsräumen: Bäume kühlen Städte besser als Grünflächen, 23.11.2021. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klima-krise-baeume-kuehlen-staedte-besser-alsgruenflaeche n-a-3de265ae-8a0e-4521-a2d1-1560841e1220 (abgerufen am 29.03.2023) Fischer, Hubertus, 2003. „Draußen vom Walde ...“ – Die Einstellung zum Wald im Wandel der Geschichte. In: NNA-Berichte, Bd. 4/2, S. 92–100. https://nna.niedersachsen.de . Nemeczek, Alfred, 2014. Klimawandel im Beuysland. Stiftung 7000 Eichen. http://www.7000eichen.de/?id=29 (abgerufen am 31.03.2023) Stiftung 7000 Eichen, 2014. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung. https://www.7000eichen.de/index.php?id=37 (abgerufen am 31.03.2023) Evans, Sam, 2023. Der Wald als kunstvermittlerischer Raum
- Issue 5 Editorial | appropriate!
Issue 5 Editorial | appropriate! Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Editorial Lena Götzinger, Martin Krenn Issue 5 von appropriate! beschäftigt sich im Anschluss an die Tagung „Kunst im Klimanotstand“, die am 6. Dezember 2023 an der HBK Braunschweig stattfand, mit der Rolle von Kunst, Künstler:innen und Kunstinstitutionen im Klimaschutz und setzt sich mit der Frage auseinander, was der Leugnung der menschen-gemachten Erderhitzung entgegengesetzt werden kann. Schon lange gibt es wissenschaftliche Daten, die belegen, dass Klimaschutz und ungehindertes Wirtschaftswachstum nicht miteinander vereinbar sind, da Zweiteres mit der Ausbeutung des Planeten einhergeht: Wohlstand und Wachstum haben ein Ende, wenn die Ressourcen, auf denen sie aufbauen, knapp werden. Brennende Wälder, zunehmende Wasserknappheit und der zur Neige gehende Vorrat an fossilen Brennstoffen gekoppelt mit der globalen Erderhitzung machen es notwendig, die Wirtschaft und damit verbunden auch den Kunstbetrieb anders zu organisieren, als dies bisher der Fall war. 2019 riefen die Tate-Museen den Klimanotstand aus. Sie wollten mit diesem Schritt vor der globalen Erderhitzung warnen und zugleich ihre CO 2 -Bilanz senken. Unter Künstler:innen und Aktivist:innen war dieses Thema kein neues: Bereits in den 1990ern arbeiteten viele von ihnen zum Klima-wandel. Zu diesen Künstler:innen zählt Oliver Ressler, der von Lena Götzinger zur Verschränkung von Kunst und Aktivismus, die man in den letzten Jahren innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegungen zunehmend beobachten kann, befragt wird. Ihr Text „Über Kunst und Klimaaktivismus“ beschäftigt sich mit den Potenzialen, die von dieser Liaison ausgehen – sei es durch das Imaginieren greifbarer Zukunftsperspektiven oder durch die Entwicklung neuer Formen des Protests und zivilen Ungehorsams. Doch wird im Gespräch auch ersichtlich, dass es neben der Einbeziehung von Kunst- und Kulturproduzent:innen vielfältige Allianzen mit einer Bandbreite an gesellschaftlichen Akteur:innen braucht, damit der Kampf für Klimagerechtigkeit gelingen kann. Pinar Doğantekin befasst sich in ihrem Text „Artistic Resistance“ mit der Ausstellung „Invasive Species“ der Künstler:innen Agnė Stirnė, Oskaras Stirna und Eglė Plytnikaitė, die ein Bewusstsein für die verheerenden Auswirkungen von Krieg und Militäroffensiven auf die Umwelt schaffen wollen. Anhand des russischen Angriffs-kriegs gegen die Ukraine analysiert der Text, wie ein gezielter Ökozid betrieben wird, um die Lebensgrundlage der ukrainischen Bevölkerung sowie die lokale Biodiversität zu zerstören und das Land auf lange Sicht unbewohnbar zu machen. Hye Hyun Kim und Paul-Can Atlama sprechen in ihrem Interview mit Christoph Platz-Gallus über den Kunstverein als grüne Institution. Platz-Gallus ist seit 2022 der neue Direktor des Kunstvereins Hannover und somit dafür verantwortlich, die 2023 beschlossene Nachhaltigkeitsstrategie des Kunstvereins an-zuleiten. Rita Macedo wird von Genady Arkhipau über ihren Film „Farewell recording for an observer of an unknown time and place“ und über die Rolle, die zeitgenössische Kunst und verschiedene Kunstmedien im Klimaaktivismus spielen, befragt. Macedos Film ist ein essayistischer Exkurs über Kapitalismus, Umwelt, Technologie und Tod und schafft eine „teils spekulative Geschichte der Zukunft und Darstellung der Weltbildung“. Der Apfel im Zusammenhang mit Kunst und Klimawandel steht im Zentrum des Gesprächs, das Selin Aksu, Anika Ammermann und Jonna Baumann mit Antje Majewski geführt haben. In ihrer Arbeit zeigt die Künstlerin konkrete Handlungsmöglichkeiten auf, wie den vielschichtigen Problemen des Klimanotstandes begegnet werden kann. Zentraler Bestandteil eines Ausstellungsprojektes, das Majewski mit Paweł Freisler an unterschiedlichen Orten durchgeführt hat, ist das Pflanzen von alten Apfelbaumsorten. Die alten Sorten sind laut Majewski insofern relevant, da sie aufgrund ihrer weniger intensiven Nutzung noch Resistenzen haben. Ursula Ströbele analysiert in ihrem Text „Natur als Versprechen? Pflanzen als skulpturale Elemente in der Architektur der Moderne und Gegenwart“ die Funktion von vegetabilen Fassaden anhand historischer und aktueller Beispiele. „[Sie] agieren wie eine schützende Mauer, die Blicke ebenso abhält wie Lärm- und Luftverschmutzung. Anstatt konturierter Stasis präsentieren diese Gebäude in ihrer Ästhetik des Transitorischen eine veränderliche, wachsende Silhouette mit jahreszeiten- und witterungsbedingter Zeitlichkeit.“ Ströbele merkt jedoch kritisch an, dass bei vielen preisgekrönten Bauten dieser ökologische Anspruch nur oberflächlich eingelöst werde und das „Versprechen eines Rückgriffs auf die Erste Natur“ zu „einem illustrativen Green Washing“ verkommen würde. Sam Evans beleuchtet in ihrem Text „Von Natur und Kultur“ mögliche Positionen, die Kunst und Vermittlung in der Klimakrise einnehmen können, um das ökologische Bewusstsein sowie die Verbundenheit zur Natur zu stärken. Als geeignete Bühne für die Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe wählt sie den Wald, in dem wir oft unmittelbar mit den Auswirkungen des menschen-gemachten Klimawandels konfrontiert sind und der zugleich erlebnisorientierte Perspektivenwechsel ermöglichen kann. In ausgewählten Beispielen wird ersichtlich, wie der Wald als politischer Raum eröffnet werden kann. Sarah Hegenbart wurde von der Redaktion eingeladen, die Publikation „Demokratieplattform: Platz_nehmen“, die wie dieses Journal von der Kunstvermittlung der HBK Braunschweig herausgegeben wurde, unter die Lupe zu nehmen. Sie kritisiert, dass in der Publikation unklar bleibt, auf welchen Demokratiebegriff die Demokratieplattform: Platz_nehmen rekurrieren würde, und führt aus, wie wichtig es ist, ein „demokratische[s] Referenzmodell“ zu haben, um Demokratisierung voranzutreiben. Anna Niemann rezensiert „Saving Democracy“, die zweite Publikation, die dieses Jahr von der Kunstvermittlung der HBK herausgegeben wurde. Sie hebt die „Symbiose aus (wissenschaftlicher) Theorie und (künstlerischer) Praxis“ positiv hervor und merkt an, dass sich diese auch in dem kunst- vermittlerischen Projekt „Enlightening the Parliament“, das im zweiten Teil des Buches dokumentiert wird, manifestieren würde. Der Band sei „mit seinen umfangreichen Positionen – theoretischer und künstlerischer Art – in sich bereits ein demokratisches Projekt“ und rege „nicht nur zum Mit- und Weiterdenken, sondern zu demokratischer Partizipation an“. Benno Hauswaldt rezensiert „Roadside Picnics – Encounters with the Uncanny“, eine Anthologie, die von Victor Muñoz Sanz und Alkistis Thomidou im Kontext eines Aufenthaltsstipendiums an der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, herausgegeben wurde. Lena Götzinger, Martin Krenn Die Redaktion des Issue 5: Klimanotstand Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, ist Studentin der Freien Kunst und Kunstvermittlung bei Professor Lutz Braun und Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Als freiberufliche Mitarbeiterin leitet sie Führungen und Workshops im Kunstmuseum Wolfsburg. Martin Krenn , PhD, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig sowie Dozent im Vienna Master of Arts in Applied Human Rights an der Universität für angewandte Kunst Wien. Krenn verschränkt in seiner Praxis Kunst mit sozialem Engagement. Seine dialogischen Vermittlungsprojekte, Fotoarbeiten und Filme widmen sich schwer-punktmäßig der Rassismuskritik sowie der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. Er ist Herausgeber diverser Kunstpublikationen und Autor zahlreicher Texte zu sozialer Kunst und Kunstvermittlung. 01
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Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz Nanna Lüth Ausgehend von einem Vermittlungsexperiment, das im Rahmen eines meiner Kunstdidaktikseminare stattfand, wendet sich dieser Text Potenzialen von Unsinn bzw. Ironie für Demokratiebildung zu. Argumente von Anja Besand, Gerd Koch, Paul Mecheril und Karl-Josef Pazzini stützen meine These, dass die un_ernste Befragung institutioneller Rahmungen und der eigenen professionellen Perspektive die Reflexivität und die Handlungsspielräume von zukünftigen Kunstlehrer*innen erhöht und vergrößert und eine politische Bedeutung hat. Komisch-werden Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“, um das es weiter unten geht, steht für einen Ansatz, (diskriminierungs-)kritische Kunstpädagogik[1 ] durch den Einbezug von Humor zu unterstützen und zu erleichtern. Humor steht dabei nicht nur für eine offene und konfliktfähige Haltung von Pädagog*innen, sondern er kann auch Konzepte für den Kunstunterricht inspirieren. Humor wird hier als Schirmbegriff verwendet. Man kann unterscheiden zwischen Humor als Haltung oder Persönlichkeitseigenschaft und „Komik als ästhetische[r], dramaturgische[r], mediale[r] Ausdrucksform“ (Hartung 2005: 10). Die Tatsache, dass Komik auf Unstimmigkeit (bzw. Inkongruenz) basiert und somit auf Kontraste oder Überraschungen angewiesen ist, zeigt Parallelen zu künstlerischen Verfahren des Verschiebens und Irritierens auf. Übliche Verfahren der Unterbrechung von tradierten Formen sind Kontextverschiebung, Übertreibung oder Umkehrung. Es ist also naheliegend, dass in künstlerischen oder theoretischen Projekten, die mit normalitätskritischer Agenda Komik einsetzen, etwas für die pädagogische Praxis zu lernen ist. Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ wurde bisher zweimal durchgeführt – einmal an einer Kunsthochschule und einmal an einer Universität. Das Seminarkonzept beruht darauf, sich ausgehend von künstlerischen Arbeiten, praktischen Übungen und theoretischen Texten mit der Relation von gesellschaftlichen Anliegen und Humor zu beschäftigen. Dabei werden verschiedene soziale Zuschreibungen und Ungleichheiten thematisiert. Diese Kombination ist kein Zufall, denn bevorzugte Angriffspunkte von Witzen sind häufig die vermeintlichen Schwachstellen der Anderen. Damit sind Sexualisierung, Rassifizierung/Ethnisierung und andere abwertende Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen – allgemein gesagt das Prinzip des Othering – zentrale Bausteine der Regimes des Lächerlichen. Insbesondere minorisierte Schüler*innen und Lehrer*innen erleben das verstärkt in der Schule (vgl. Klocke 2012; Beigang, Fetz, Kalkum, Otto 2017). Als Gegenmaßnahmen sind das Zurücklachen oder auch ein Umlenken der Aufmerksamkeit auf angeblich normale Umstände denkbar. Manchmal wirkt die Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Mehrheitsphänomene aus der Distanz nämlich auch lächerlich. In welchem Verhältnis aber stehen Humor und Demokratie? Oder: Was hat Komisch-werden mit Demokratiebildung zu tun? Im Folgenden gehe ich auf einige Pädagog*innen ein, die über Verbindungen zwischen Pädagogik, produktiver Verunsicherung und politischer Bildung schreiben. Explizit bezieht sich hierbei nur der Migrationspädagoge Paul Mecheril auf Humor, sprich Ironie. Aus kunstpädagogischer Perspektive werden diese Gedankengänge später ergänzt durch einen Aufsatz von Karl-Josef Pazzini, der sich jedoch nicht ausdrücklich auf Ausdrücke wie politische oder Demokratiebildung bezieht. Die Verunsicherung, auch Be- oder Verfremdung genannt, die durch uneindeutige oder widersprüchliche Momente in pädagogischen Settings bewusst herbeigeführt oder zumindest positiv aufgegriffen wird, dient in den Argumentationen von Paul Mecheril, Anja Besand und Gerd Koch dazu, sich in unbekannte Perspektiven hineinzuversetzen, ohne dabei auf ein vollständiges Verstehen abzuzielen. Damit lässt sich – so formuliert es die Politikdidaktikerin Besand – die demokratische Tugend Ambiguitätstoleranz trainieren. Ambiguitätstoleranz ermöglicht das Agieren unter unbekannten Umständen, für die die Menschen oder die Gesellschaft noch keine Spielregeln oder Lösungswege kennen: „In Demokratien geht es um den Interessenausgleich, um revidierbare Entscheidungen, die Teilung von Gewalt und um den Schutz von Minderheiten, auch wenn sie abwegiger Meinung sind und seltsame Gebräuche pflegen. Ambiguität ist also in der Politik sichtbar, wohin man auch schaut“ (Besand 2020: o.S.). Die Instrumentalisierung von nur scheinbarer Schüler*innenbeteiligung sieht Besand für die Entwicklung von deren Demokratieverständnis als schädlich an. Bei politischer Bildung in der Schule geht es ihrer Ansicht nach nämlich nicht um die Vermittlung von Faktenwissen allein, sondern um das Erleben demokratischer Verfahren und die Übung der Fähigkeit zum Dissens. Zum „Politisch-Werden und Politisch-Sein“ (Besand 2020: o.S.) gehöre es demnach, der eigenen Sichtweise auf die Spur zu kommen, hegemoniale Wertmaßstäbe zu hinterfragen und unterschiedliche Perspektiven anzuerkennen. Mit Mecheril lässt sich an die Relativierung des Diktats vorgegebener Wissensbestände anschließen. Er plädiert aus bildungstheoretischer Perspektive dafür, Entscheidungen über Inhalte und Prozesse des Lernens „in einem radikalen Sinne dem Gegenüber zu überantworten“ (Mecheril 2009: 2). Insofern fordert er von Pädagog*innen Offenheit gegenüber Fremdheitserfahrungen und Verunsicherungen. Das hierfür erforderliche Absehen eines „schwachen“ (Mecheril 2009: 13) und dennoch verantwortungsvollen Subjekts von sich selbst bezeichnet er als ironische Perspektive: „Ironie ist ein Mittel der Wahrnehmung und Artikulation von Ambivalenz, des Sicheinlassens auf Verhältnisse, für die die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein konstitutiv ist. […] Sie lebt von einem Gefallen an dem Disparaten, dem Mehrwertigen und Spannungsreichen, das sie anzeigt, nicht um das Disparate zu belächeln, vielmehr: um es in einem Modus zu erkennen, der sich seiner Kontingenz und Grenzen bewusst ist. Dies kann als Selbstironie bezeichnet werden“ (ebd.). Mit Dieter Baacke nennt Mecheril Ironie „antitotalitär“, da sie ausgleichend wirke und fanatische Stimmen relativiere (vgl. Baacke 1985: 210). Entsprechend weist Mecheril der Ironie eine grundlegende Bedeutung für Demokratie zu. Einen dialektischen Ansatz vertritt der Sozial- und Theaterpädagoge Gerd Koch, der für ein Fremd-Werden eintritt. Mit Bertolt Brecht argumentiert er dafür, „[verbessernd in] gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit [einzugreifen]“ (Koch 2002: o.S.). Das Fremdmachen von vorgefundenen Entfremdungen aufgrund von Herrschaftsverhältnissen kann „in der Form der Kritik geschehen, aber auch in der Weise des positiven Umformens“ (ebd.). Die Destruktion von traditionellen Rollenauffassungen, Weltbildern und Wissensbeständen soll laut Koch durch ein Training im „neuen Sehen“ (ebd.) ergänzt werden. Er interessiert sich darüber hinaus besonders für Unterricht als „artifizielles Gefüge, dessen Konstruktion ständig auf ihren Realitätsbezug hin zu prüfen ist“ (ebd.). Das Komisch-Werden kann mit diesen Positionen also als Förderung bzw. Erprobung von Ambiguitätstoleranz, von Ironie oder auch als Variante des Fremd-Werdens mit dem Ziel der Förderung von demokratischen Fähigkeiten verstanden werden. „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ Dieses Seminar fand im Winter 2017/18 an der Universität der Künste (UdK) Berlin statt und richtete sich an Masterstudierende, die Kunst auf Lehramt studierten. Zentrale Elemente der Veranstaltung waren Vermittlungsexperimente, die meistens von zwei Studierenden für die Mitstudierenden entwickelt, durchgeführt und reflektiert wurden. In der ersten Sitzung stellte ich den Studierenden 17 künstlerische Arbeiten und 13 Texte zur Wahl, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Humor, Differenz und Kritik befassen. Fünf künstlerische Positionen und fünf Texte dienten schließlich als Ausgangspunkte für die studentischen Experimente. An zwei Terminen übernahm eine Person alleine die Vermittlung, so auch im folgenden Beispiel. Über die Produktivität von Unsinn … Ein zur Vermittlung ausgewählter Text heißt „Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären“; er wurde 1999 von Karl-Josef Pazzini geschrieben. In diesem Artikel erhebt Pazzini anhand eines Berichts über den Bildhauer Roman Signer und dessen vergängliche Arbeiten Einspruch gegen die Verengung und Vereindeutigung von Sinnproduktionen. Die zwanghafte Wiederholung, das Festhalten an der immer gleichen Verbindung von Phänomenen mit festen Bedeutungen erzeuge Einbildungen. Diese Fixierung steht Pazzinis Verständnis von Bildung entgegen. Bei seinem Konzept von Bildung muss das Entbilden mit dem Bilden einhergehen: „Bildung kann man nicht haben, lediglich einige [S]ets als Voraussetzung, um bildende Relationen einzugehen, Bereitschaften. Bildung als Eigenschaft ist nichts anderes als Einbildung. […] Bildung lebt von der Beeindruckbarkeit, von der Irritierbarkeit, von Haltung und Stil“ (Pazzini 1999: 2). In diesem Zusammenhang wirbt er für Unsinn als „kleinen Bestandteil dieser Relation“: „Die Produktion von Unsinn und die Produktivität von Unsinn sind Phasen jeglicher Bildung […]. Diese Phase ist von erheblicher Unsicherheit und Angst gekennzeichnet, aber auch von Lust“ (ebd.). Pazzini thematisiert die Gefühle, die für Bildung charakteristisch sind, und schreibt gegen die Gewohnheit an, dass von pädagogischem Handeln verlangt werde, es solle einen bestimmten Sinn bloß rekonstruieren (vgl. Pazzini 1999: 3). Experiment in Edutainment Von Pazzinis Thesen ausgehend entwickelte die Studentin Rosa Kasper einen halbstündigen Seminarteil. Zehn Tage vor der angepeilten Sitzung erhielt ich eine Skizze. Kasper formulierte, ausgehend von dem Text und seinem zentralen Begriff, dem Unsinn, eine Reihe von Ideen, haderte jedoch mit ihrem Anspruch der Wissensvermittlung. Sie schrieb: „Mir fällt noch keine Aufgabe ein, die Sinn macht, also man kann ja alles mögliche machen, um Unsinn zu produzieren, aber wo bleibt dann der Wissensgehalt für die Schüler?“ (Kasper per E-Mail, 8.1.2018). Ihr Anspruch richtete sich auf Schüler*innen, die ja gar nicht anwesend sein würden. Ich wies darauf hin, dass es um ein Angebot für Mitstudierende ginge, und bat sie außerdem, Pazzinis Plädoyer für Unsinn ernst zu nehmen. Daraufhin erhielt ich eine überarbeitete Planung, die mit der Frage endete: „Denken Sie das ist genug Unsinn?“ (ebd.)[2 ] Ich stimmte ihr zu. Wir vereinbarten außerdem, dass ich das Vermittlungsexperiment mit Einverständnis der Teilnehmenden auf Video dokumentieren würde. Die Beschreibung der Seminarsitzung basiert auf diesem Material. Sie hatte die Vermittlung von Pazzini aus in drei Teile gegliedert: 1) eine TV-Sendung mit Expert*inneninterviews zum Thema Unsinn 2) ein Frage-Antwort-Quiz – plus Werbepause 3) eine Livetanzshow Zentrale Passagen von „Über die Produktivität von Unsinn“ wurden per Video in die Form eines Fernsehmagazins übersetzt. In dem Einspieler treten drei Expertinnen auf, die Pazzini zitieren: eine Psychologin mit Fellmütze an einem Ententeich, eine Nonne in einer Kirche sowie eine Passantin, die in einer Fußgängerzone Pizza isst. Die Kamera wandert ins Off und bleibt an Enten und Weihnachtsbaumkerzen hängen. Auf diese Einführung folgte das Quiz, bei dem die Anwesenden schnell auf unernste Fragen antworten sollten. Kasper bewegte sich schleichend zwischen den Studierenden hin und her und ging auf einzelne zu, um sie zum Mitmachen zu bewegen. Jede Antwort wurde bejubelt mit dem Ruf: „Das ist Unsinn!“ Den Antwortenden wurde ein Stoffbeutel als Gewinn überreicht. Darin befand sich ein Objekt für den Tanz im dritten Teil. Kasper leitete über zur Tanzshow, für die die Teilnehmenden sich einen Tanz mit ihrem Objekt ausdenken sollten. Die Anweisung dazu lautete: „Sie können den Gegenstand tanzen, ihn als Tanzpartner haben, seine Form als Inspiration eines Tanzmoves nutzen etc.“ Nach einer kurzen Zeit für die Beschäftigung mit den Objekten hockte sich Kasper in die Mitte des Raumes. Sie kündigte lächelnd an: „Dann fordere ich einfach einen nach dem anderen auf, mit mir auf die Bühne zu kommen. Wir sind in – 3, 2, 1 – auf Sendung!“ Lautes Lachen. Sie startete das unter Einsatz von Silberoutfits und Tiermasken vor einem surrealen Wüstenhintergrund produzierte Musikvideo „Crying at the Discoteque“ (2001). Nacheinander begaben sich die Anwesenden auf die Tanzfläche. Nur zwei Studierende blieben mit ihren Dingen am Rand stehen. Nach zwei Minuten stoppte Kasper die Musik und beendete das Ganze mit „Das war … Unsinn!“ Nach kurzem Luftholen stiegen wir in die Diskussion des Erlebten ein. Das Gespräch drehte sich schnell um den vermuteten Autoritätsverlust, den ein solcher Auftritt im schulischen Rahmen erzeugen könnte. Es wurde also über den Transfer in die Unterrichtspraxis nachgedacht.[3 ] Kasper wurde die Nonchalance für eine solche Übertragung zuerkannt. Ein artifizielles Gefüge aus Methoden, Medien und Ironie – kein Standard Mit den oben vorgestellten pädagogisch-politischen Begriffen stellt sich die Frage, ob und wie hier demokratische Fähigkeiten trainiert wurden. Die von Kasper realisierte pädagogische Einheit war eng getaktet und trotz Methodenvielfalt durch klare Anweisungen und Rollenverteilungen charakterisiert. Also betrachten wir etwas, das eher an handlungsorientierten, aber direktiven Unterricht erinnert. Während der Inszenierung stand Kasper im Zentrum der Aktion. Sie leitete das Ganze an und motivierte die Anwesenden dazu, mitzumachen. Dabei deutete Kasper zu Beginn des Ratespiels durch ein raubtierhaftes Anpirschen an, dass sie etwas Gefährliches vorhatte. So führte sie die Rolle der animierenden (Kunst-)Lehrperson überspitzt auf. An dieser Nachahmung wurde ein ironisches Selbstverhältnis der anleitenden Studentin deutlich. Dies war schon im Einspielervideo zu sehen, wo sie sich hintereinander in eine Psychiaterin, eine Nonne und eine Passantin verwandelt, die Pazzinis Text unterschiedlich interpretieren – als Ratgeber, als Gebet und als unverständliches Schmatzen. Das Interesse der Kamera an unpassenden Situationen – wie den Enten auf dem Teich – erzeugte eine komische Unstimmigkeit zwischen Text und medialem Format. Die schrägen Übersetzungen lassen eine ungewöhnlich lockere Annäherung an den wissenschaftlichen Text erkennen. Die übertriebene, verkürzte und verschobene Wiederaufführung von medialen Unterhaltungsformaten mit Education-Anteilen (die Expertinnenstimmen, die Prüfungssituation im Quiz und im Tanz mit den Alltagsobjekten), das heißt der hier hervorgebrachte Unsinn, zerlegte „das Gewohnte in Teile“ und „zeigte [uns], daß das Gewohnte [wie z. B. eine Seminarsituation] auch nur aus Unsinn zusammengesetzt ist“ (Pazzini 1999: 6). Dadurch, dass Kasper selbst in Vorleistung ging und demonstrierte, dass es im gegebenen Rahmen möglich und erwünscht war, unsinnig zu sprechen und zu handeln, baute sie Vertrauen auf und erweiterte die Handlungslogik auch für die anderen Seminarteilnehmer*innen. Die Erweiterung lässt sich mit Mecheril verstehen als „[typisch pädagogische] Praxis der Befremdung alltagsweltlich vertrauter Handlungsformen, Wissensbestände und normativer Praxen“ (Mecheril 2009: 5). Dies geschah jedoch in einem gewissen Maße, das heißt, die Beteiligung basierte auf der Ethik der Freiwilligkeit (vgl. Hölscher 2015: 223 f.). Die Aufforderung zum expressiven körperlichen Mitmachen und Sich-Zeigen erzeugte bewusst eine lächerlich anmutende Situation. Ob diese mit einem möglichen Verlust sozialen Ansehens assoziiert wurde oder eher mit Spaß, wie sie also bewertet wurde, hatte Einfluss darauf, wie die Studierenden reagierten. Ambiguitätstoleranzerfahrung im Kollektiv So entstand die entscheidende Unsinnproduktion erst im Kollektiv. Der Höhepunkt der Lehr-Lern-Situation, der Tanz mit den Alltagsgegenständen, schuf Raum für die Fantasien der Mitstudierenden. Ohne die individuellen Reaktionen auf Kaspers Aufgabe wäre die ganze Vorbereitung letztlich umsonst gewesen. Die vermeintliche Machtposition der Lehrperson ging in diesem Moment in das Angewiesensein der Pädagogin auf die Teilnehmenden über. Beteiligung beinhaltete hier diejenigen, die sich nicht einverstanden zeigten und das Mittanzen bestreikten. Kasper ließ auf einem für sie selbst unsicheren Terrain Raum für kritisches, beispielsweise passives Verhalten. Diese Flexibilität von Kasper in Bezug auf die Nichttänzer*innen lässt sich als Ambiguitätstoleranz verstehen. Auch die Tanzenden bearbeiteten Unsicherheiten, als sie zum Tanzen aufgefordert wurden. Die Nichttänzer*innen wiederum begegneten der Ambivalenz dadurch, dass sie sich nicht dem Verhalten der Gruppe anschlossen. Die Aufforderung, im Rahmen der akademischen Lehre spontan in eine Art Partysituation einzusteigen, erzeugte Unbehagen. Das absurde Seminarsetting verunsicherte zunächst alle, später nur noch einige, soweit es Körpersprache und Mimik im Dokumentationsvideo erkennen lassen. Anstelle der an Schulen verbreiteten Simulation von demokratischer Beteiligung (vgl. Besand 2020) wurde hier an einer Umkehrung gebaut. Simuliert wurde eine autoritäre Didaktik, die jedoch Erwartungen an herkömmlichen Kompetenz- und Wissenserwerb und also die Standardisierbarkeit künstlerischer Bildung unterlief.[4 ] Stattdessen wurde eine Inszenierung aufgeführt, die die eigene Auffassung des Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnisses und institutionelle Vorgaben austesten und reflektieren ließ. Die Regeln der Institution und ein theoretisch konturiertes Kunstverständnis können dabei in Bewegung geraten – die rahmenden Standards erweisen sich in Bezug auf Reflexionswissen (vgl. Sturm 2005) als erweiterbar. Nanna Lüth, Dr. phil., arbeitet und forscht in den Bereichen Kunst, Kunstpädagogik und Medienbildung. Arbeitsschwerpunkte sind kunst- und theoriebasierte Methodenentwicklung, die Öffnung und Diversifizierung von Bildungsinstitutionen sowie Diskriminierungskritik und Humor. 2021 neu erschienen: Lüth, Nanna (Hg.). Schule, Körper, Social Media. Differenzen reflektieren aus kunstpädagogischer Perspektive. München: kopaed. www.nannalueth.de Literatur Baacke, Dieter, 1985. Bewegungen beweglich machen – Oder: Plädoyer für mehr Ironie. In: Ders., Frank, Andrea, Frese, Jürgen, Nonne, Friedhelm (Hg.): Am Ende postmodern? Next Wave in der Pädagogik. Weinheim und München: Juventa. S. 190–216 Beigang, Steffen, Fetz, Karolina, Kalkum, Dorina, Otto, Magdalena, 2017. Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Hg. von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos Besand, Anja, 2020. Die Krise als Lerngelegenheit. Oder: Kollaterales politisches Lernen im Kontext von COVID-19. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/studium/lehrveranstaltungen/die-krise-als-lerngelegenheit (abgerufen 15.10.2021) Hartung, Anja, 2005. Was ist Humor? Zur Ideengeschichte und theoretischen Fundierung des Humorbegriffs. In: merz. Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 2005-04 Humor. S. 9–15 Hohenbüchler, Irene, Hohenbüchler, Christine, 2020. … Verhalten zu … sich in Verbindung setzen. In: Böhme, Katja, Engel, Birgit, Lömke, Tobias (Hg.): Im Wahrnehmen Beziehungs- und Erkenntnisräume öffnen. Ästhetische Wahrnehmung in Kunst, Bildung und Forschung. München: kopaed. S. 177–187 Hölscher, Stefan, 2015. Unbestimmtheitsrelationen. Impulse zum kunstdidaktischen Verhältnis von Rahmung und Prozess. In: Engel, Birgit, Böhme, Katja (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen. München: kopaed. S. 214–232 Klocke, Ulrich, 2012. Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Im Auftrag des Berliner Senats Kultusministerkonferenz, 2008. Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf (abgerufen 15.10.2021) Koch, Gerd, 2002. Bekanntes fremd machen und Fremdes bekannt machen. In: Special zum 60. Geburtstag Britta Haye. http://www.ibs-networld.de/ferkel/Archiv/koch-g-02-01_geb_haye-bekannt-fremd.html (abgerufen 01.05.2014, aktuell nicht mehr auffindbar) Lüth, Nanna, 2017. Kunstvermittlung als Bewegung. In: Fritzsche, Marc, Schnurr, Ansgar (Hg.): Fokussierte Komplexität – Ebenen von Kunst und Bildung. Festschrift für Carl-Peter Buschkühle. Oberhausen: Athena. S. 229–241 Mecheril, Paul, 2009. „Wie viele Pädagogen braucht man …“ Ironie und Unbestimmtheit. als Grundlage pädagogischen Handelns. http://www.staff.uni-oldenburg.de/paul.mecheril/download/mittagsvorlesung_mecheril2010.pdf (abgerufen 15.10.2021) Pazzini, Karl-Josef, 1999. Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären. In: Warzecha, Birgit (Hg.): Hamburger Vorlesungen über Psychoanalyse und Erziehung. Hamburg: Lit. S. 137–158 Sturm, Eva, 2005. Vom Schnüffeln, vom Schießen und von der Vermittlung. Sprechen über zeitgenössische Kunst. Vortrag am O.K. Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 06.06.2005. In: artmediation #5 Tier. http://www.artmediation.org/sturm.html (abgerufen 15.10.2021) Video Alcazar, 2000. Crying at the Discoteque (Official Video). https://www.youtube.com/watch?v=7CiOWcUVGJM (abgerufen 15.10.2021) Rosa Kasper: „Explossion“, Screenshot von Video (2018) Endnoten [1] In diesem Text kommen Diskriminierungen nicht explizit vor. Im Gesamtseminar spielte Diskriminierungskritik, u. a. in theoretischen und künstlerischen Arbeiten, jedoch eine wichtige Rolle. [Zurück] [2] Das ist ein typisch paradoxer Moment im pädagogischen Rahmen, wenn Dozent*innen um Erlaubnis gefragt werden, Unsinn machen zu dürfen, also gegen die übliche Zielsetzung von universitärer Lehre zu verstoßen. Indem die Lehrperson in diesem Fall zustimmte, wurde eine Ziel- und Verhaltensnorm verschoben. Studierende und Lehrperson trafen eine verändernde Absprache. [Zurück] [3] Im universitären Raum muss offenbleiben, ob sich eine Seminareinheit in der Schule mit Schüler*innen nachvollziehen ließe oder nicht. Die Probe aufs Exempel ist in Seminaren, die zugleich Schulkooperationen sind, möglich. Vgl. u. a. Lüth (2017), Hohenbüchler, Hohenbüchler (2020) [Zurück] [4] In den KMK-Standards für das Lehramtsstudium Kunst ist als fachdidaktischer Studieninhalt u. a. aufgeführt: „Planung, Erprobung und Reflexion von Unterricht, der kunst- und wissenschaftspropädeutische Ziele verfolgt“. An dieser Vorgabe orientierte sich Kasper wahrscheinlich unbewusst, als sie in ihrer E-Mail danach fragte, welcher Wissensgehalt im Rahmen ihres Experiments am Ende erreichbar sei. [Zurück] 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Ank 1 Ank 2 Ank 3 Ank 4
- Artistic Resistance: Lithuanian Installation Sheds Light on Ecological Warfare in Ukraine
Pinar Dogantekin in conversation with Christian Kehrt, Agnė Stirnė, Oskaras Stirna and Eglė Plytnikaitė Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Artistic Resistance: Lithuanian Installation Sheds Light on Ecological Warfare in Ukraine Pinar Doğantekin The installation Invasive Species was first exhibited at the NATO Summit in Lithuania in 2023. © Denis Veja Close-up of the Invasive Species installation. © Denis Veja The ongoing Russian war of aggression in Ukraine is not only having a devastating impact on the human population but is also leading to unprecedented ecocide. A Lithuanian artists' collective wants to use its art to draw attention to the destruction of the environment. The war against Ukraine could possibly be the first war in which environmental crimes are almost completely documented. Normally, armed conflicts focus almost exclusively on human issues. It remains a mystery how many trees go up in flames as a result of bombing, how much oil leaks into the ground from war machines and how many wild animals starve to death. Such details often remain unknown. "Environmental warfare aims to destroy the enemy's livelihood" A look at past wars gives an idea of the long-term consequences that ecosystems in Ukraine could experience as a result of the current situation and possible future conflicts. "During the First World War, entire landscapes were destroyed for decades by continuous bombardment with conventional artillery ammunition, some hills were even eroded by several meters. These former lunar landscapes and battlefields are so contaminated with arsenic, lead, zinc and other heavy metals from shells and ordnance that even more than 100 years later, only a few grasses still grow here”, explains Dr. Christian Kehrt, Professor for the History of Science and Technology at the Technical University of Braunschweig. According to Kehrt, there were efforts during the Cold War to research the artificial manipulation of rain and cloud formations and use it for military purposes. "The aim of environmental warfare is to destroy the enemy's livelihood", explains the expert. The use of Agent Orange in the Vietnam War is also a well-known and drastic example of a modern and devastating form of environmental warfare. Unfortunately, Russian warfare in Ukraine fits seamlessly into this form of warfare, too. Dimensions of the environmental damage in the Ukraine war The Ukrainian government estimates the environmental damage caused by the destruction of the Nova Kakhovka dam alone at almost 1.4 billion euros. The destruction of the dam caused tons of oil to flow into the Dnipro River and landmines to drift into the Black Sea. The ecocide caused by the dam disaster has too many dimensions to list them all individually. The commonly used term "negative impact" does not adequately capture the serious economic, humanitarian and ecological consequences of this unique war crime. There are several categories of serious and long-term environmental damage: loss of irrigation systems for farms, drying out of the landscape, loss of water supply and sanitation for cities and settlements, health problems related to cholera and other pollution-related diseases. And most importantly, massive habitat loss, long-term ecosystem degradation and the loss of numerous aquatic species and biodiversity, not only in the protected areas of the immediate river and estuary ecosystem, but also in the much larger areas associated with these ecosystems. Monitoring and measuring environmental damage in war zones is extremely difficult. However, much of the monitoring can be done indirectly through satellite monitoring systems, many of which focus on changes in the environment. For example, NASA's Earth Observing System (EOS) has a number of satellites that focus on measuring land use, agricultural production, forest growth and associated diseases, and water quality, also during the war in Ukraine. But it's not just about the costs for Ukraine. Ecosystems have no borders. The consequences of these environmental disasters reach the whole world. Installation “Invasive Species” visualizes the ecological consequences of occupation and ecocide In order to make this complex topic accessible to people in a different way, the Lithuanian artist trio consisting of Agnė Stirnė, Oskaras Stirna and Eglė Plytnikaitė have created a thought-provoking installation. Entitled "Invasive Species", the project aims to raise awareness of the devastating effects of military actions on biodiversity and native vegetation, while also drawing attention to the long-term consequences for occupied territories. The installation shows the Sosnowsky's hogweed, a highly poisonous invasive plant named after a Russian botanist, but also known as Stalin's grass or Stalin's revenge. ”This dangerous invasive plant, originally from the Caucasian mountains, was introduced to Lithuania, Ukraine and other countries occupied by Russia as a silage plant during the Second World War”, explains artist Agnė Stirnė. "However, Russian botanists did not foresee how invasive the plant would become once it was established in a warmer climate with much better growing conditions." The plant overwhelms and crowds out all other species growing nearby. “A Sosnowsky's head can produce over 100,000 seeds and is incredibly difficult to eradicate as it can regrow from a tiny piece of root”, explains Stirnė. The plant itself is on average 2.5 to 3 meters tall when fully grown, and these characteristics of the plant make it a dangerous occupier of nature. "A parallel between the Russian occupation and the invasiveness of Sosnowky is very vivid", says Stirnė. The installation aims to transport the viewer to an environment that has been devastated by war-related ecocide. The artists used dried Sosnovsky plants, which they painted black to simulate burnt Ukrainian trees and land destroyed by bombs. The dried hogweed hangs from a structure, allowing it to interact with the wind. This concept mirrors similar elements of environmental warfare by imperialist states. From certain perspectives, it becomes difficult to tell where is up and down in the installation. "This concept parallels the battlefield, where it is difficult to understand where the ground ends and the sky begins”, describes artist Eglė Plytnikaitė. "Currently, eight nature reserves and ten national parks in Ukraine are under Russian occupation”, says Plytnikaitė. The attack has reportedly affected 1.24 million hectares of environmental land, the equivalent of about 1.7 million soccer fields, with another 3 million hectares of forest devastated by the invasion, equivalent to 4.2 million soccer fields. In addition, Russian warfare on Ukrainian territory has brought 880 plant species and 600 animals to the brink of extinction. "Sosnovsky's hogweed is practicing its form of ecocide by eradicating all plant species growing under it and becoming a fitting symbol of Russian aggression”, says Plytnikaitė. Will Russia be charged with ecocide? Russia has deliberately and shamelessly violated all norms of the civilized world and attacked the Ukrainian population and the environment in the most heinous way. In Ukraine, criminal liability for ecocide exists in the form of a prison sentence of eight to fifteen years for "massive destruction of flora or fauna, poisoning of the atmosphere or water resources, as well as other actions that can cause an environmental disaster" (Article 441 of the Criminal Code of Ukraine). The destruction of the Kakhovka dam by the Russian armed forces is considered a clear case of ecocide. The question of whether Russia will be held responsible remains open. The jurisdiction of the International Criminal Court (ICC) currently includes genocide, crimes against humanity, war crimes and the crime of aggression. In March 2023, the European Parliament voted in favor of including the term "ecocide" in EU law, driven by the Kachovka Dam disaster. References Opanasenko, Oleksandr, 2022. Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Ukraine-Analyse Nr. 288. Bundeszentrale für Politische Bildung. Visited: 09.01.2024 https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-288/541010/analyse-die-oekologischen-folgen-des-russischen-angriffskrieges-in-der-ukraine/ Stakhiv, Eugene / Demydenko, Andriy, 2023. Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Ukraine-Analyse Nr. 288. Bundeszentrale für Politische Bildung Visited: 28.12.2023 https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-288/541011/analyse-oekozid-die- katastrophalen-folgen-der-zerstoerung-des-kachowka-staudamms/ Christian Kehrt is Professor of History of Science and Technology at the Technical University Braunschweig. He works in the fields of environmental history, military history, and the history of science and technology. Agnė Stirnė , Oskaras Stirna and Eglė Plytnikaitė are three Lithuanian artists shaping the art scene with their unique perspectives. Eglė excels in conceptual art and nature activism, Oskaras blends nature and technology in sculptural forms, while Agnė explores rare plants and artistic expressions with #experimentalbotanics. Together, they represent a fusion of conceptual art, spatial design, and experimental botany. Pinar Doğantekin studied Media and Art Sciences in her Bachelor's degree at the University of Fine Arts in Braunschweig. Additionally, she pursued a Master's degree in "Culture of the Technoscientific World" in Braunschweig, engaging in discussions on political issues at the intersection of humanities, natural sciences, and technology. She works as a reporter in radio, as a podcast host, and writes for the stern magazine. 01
- About | appropriate
About Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Zeit, in welcher das Verhältnis zwischen Kunst, Ästhetik, sozial engagierter Praxis und Aktivismus neu ausgehandelt wird. Kunstvermittlung, verstanden als vermittelnde, dialogische und künstlerische Praxis mit zivilgesellschaftlichem Anspruch, rückt hierbei ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Renommierte Institutionen verfolgen den Anspruch, Menschen außerhalb des üblichen Kunstpublikums zu erreichen und in Projekte mit gesellschaftspolitischer Ausrichtung einzubinden. Sozial engagierte Partizipationsprojekte von Künstler:innen und Kunstvermittler:innen werden im internationalen Museums- und Ausstellungsbetrieb immer gefragter. Parallel dazu organisieren sich Künstler:innen und Aktivist:innen weitgehend unabhängig vom etablierten Kunstbetrieb, besetzen öffentliche Räume, organisieren Demonstrationen, realisieren autonome Projekte und vermitteln auf diese Weise Kunst und Demokratie "von unten". Unser Verständnis von Kunstvermittlung endet somit nicht bei der Vermittlung künstlerischer Inhalte, sondern begreift darüber hinaus die Vermittlung selbst als Teil einer gesellschafts- und institutionskritischen Praxis. Kunstvermittlung ist für uns inklusiv, sie erkennt das soziale Potential der Kunst und vermittelt den Rezipent:innen die dialogische Aneignung derselben. Das halbjährlich erscheinende Webjournal appropriate! vertritt die Überzeugung, dass die aktuellen und in den letzten Jahrzehnten in diesem Zusammenhang gewonnen Erfahrungen von Kunstvermittler:innen, Künstler:innen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen zusammengeführt und auf ihre Wechselwirkungen hin analysiert werden müssen, damit daraus neue Formen der Wissens- und Kunstproduktion entwickelt werden können. Hierfür versammelt die Redaktion dieses Journals pro Ausgabe und entsprechend des jeweiligen Schwerpunktthemas unterschiedliche Postionen der Kunst, Vermittlung und Forschung. Der interdisziplinäre Ansatz des Journals erstreckt sich von der Kunst ausgehend über Bereiche der Inklusionsforschung, Queer-, Cultural-, Visual- und Postcolonial Studies, der Kritischen Sozialwissenschaft, Urbanismusforschung, Soziologie, Politikwissenschaft, bis hin zu Pädagogik und Bildungswissenschaft. Wir möchten durch diesen interdisziplinären Ansatz einen Beitrag zur Vertiefung der Bedeutung der Kunstvermittlung im 21. Jahrhundert leisten und dazu beitragen ihr Potential zur Demokratisierung der Gesellschaft weiter freizusetzen. Martin Krenn , Herausgeber und Redakteur, appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst, 22.04.2021 appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst ist eine Online-Publikation des Studienganges Kunstvermittlung des Instituts FREIE KUNST der HBK Braunschweig. Leitung: Martin Krenn, Professor für Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung appropriate.ifk@hbk-bs.de Mitwirkende anchor_mitwirkende Issue 7 | Frühjahr 2026 Redaktion Benno Hauswaldt, Martin Krenn Webdesign Gordon Endt Issue 6 | Frühjahr 2025 Redaktion Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn Lektorat Daniela Kaufmann Judith Kreiner Autor:innen Linn Bergmann, Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Moriz Hertel, Elena Korowin, Nastasia Schmidt, Daphne Schüttkemper, Dimitri Vilenski Interviews mit Saba-Nur Cheema, Markus Miessen, Henrike Naumann Webdesign Gordon Endt Issue 5 | Frühjahr 2024 Redaktion Lena Götzinger Martin Krenn Lektorat Daniela Kaufmann, Judith Kreiner Autor:innen Selin Aksu Anika Ammermann Genady Arkhipau Paul-Can Atlama Jonna Baumann Pinar Doğantekin Sam Evans Lena Götzinger Benno Hauswaldt Sarah Hegenbart Hye Hyun Kim Anna Maria Niemann Ursula Ströbele Interviews mit Christoph Platz-Gallus, Rita Macedo, Antje Majewski, Rita Macedo, Oliver Ressler Webdesign Gordon Endt Issue 4 | Winter 2022/2023 Redaktion Lena Götzinger Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Julika Teubert Mahlet Wolde Georgis Lektorat Daniela Kaufmann Autor:innen Anna Darmstädter Nicola Feuerhahn Johanna Franke Lena Götzinger Katrin Hassler Araba Evelyn Johnston-Arthur Lennart Koch Esra von Kornatzki Isabel Raabe Julika Teubert Mahlet Wolde Georgis Maja Zipf Issue 3 | Frühjahr 2022 Redaktion Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Julika Teubert Lektorat Daniela Kaufmann Autor:innen Lynhan Balatbat-Helbock Manuel Bendig Linus Jantzen Annika Niemann Xuan Qiao Karin Schneider Nora Sternfeld Dani-Lou Voigt Ye Xu Issue 2 | Herbst 2021 Redaktion Andreas Baumgartner Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Julika Teubert Lektorat Daniela Kaufmann Autor:innen Jonna Baumann Andreas Baumgartner Nano Bramkamp Pinar Dogantekin Cedric Gerke Constantin Heller Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Nanna Lüth Sarai Meyron Lily Pellaud Essi Pellikka Mirl Redmann Daphne Schüttkemper Julika Teubert Interview mit Jens Kastner Lea Susemichel Bożna Wydrowska Issue 1 | Frühjahr 2021 Redaktion Andreas Baumgartner Claas Busche Martin Krenn Marianna Schalbe Julika Teubert Lektorat Daniela Kaufmann Autor:innen Claas Busche Anna Darmstädter Martin Krenn Anna Miethe Suzana Milevska Franziska Peschel Marius Raatz Jana Roprecht Steffen Rudolph Eva Sturm Nick Schamborski Julika Teubert Interview mit Sebastian Bartel Gabriele Sand Jeanne-Marie CC Varain
- Open Call Issue 4
Anker 1 Open Call für Issue 4 Inhalt Anker 2 CLICK HERE FOR THE ENGLISH VERSION OF THE OPEN CALL KURZINFO Einreichen können: Studierende und Angehörige aller Institute der HBK Braunschweig Thema: Machtverhalten Abgabetermin (Abstract, ca. eine halbe Seite): 9 Oktober 2022 Sprachen: Deutsch, Englisch ISSUE 4: MACHTVERHALTEN Obwohl die Gegenwartskunst nach Autonomie strebt und über weite Strecken liberale Positionen vertritt, ist der globalisierte Kunstbetrieb von den vorherrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht ausgenommen. Sowohl Kunstschaffende, Kunstausstellende, Kunstvermittler:innen, Kunstkritiker:innen als auch Kunstkonsumierende sind von Neoliberalismus, Diskriminierung und ungleichen ökonomischen Verhältnissen betroffen. Auch zwischen diesen Gruppen lassen sich Abhängigkeitsverhältnisse erkennen, die zu einem komplexen Wechselspiel führen, in dem die Akteur:innen durch ihr Verhalten aufeinander Macht ausüben und selbst erfahren. Faktoren, wie beispielsweise die Vergabe von Stiftungsförderungen und Stipendien, öffentliche und private Ankäufe von Kunst, oder auch die Kunstvermittlung in Bildungsinstitutionen wie an Schulen oder Universitäten spielen hierbei eine tragende Rolle. Das Bewusstsein über die den Entscheidungen innewohnende Macht über die Verteilung und den Zugang von/zu Mitteln im Kunstbetrieb verändert das Machtverhalten der Akteur:innen. Aus diesem Grund ist es wichtig, in Projekten, Institutionen und Ausstellungssituationen zu reflektieren, wer in welcher Position agiert. Unter welchen Umständen sind diese wandelbar? Was passiert wenn sich die Rollen verändern, wenn etwa Künstler:innen zu Kurator:innen, oder Kunstvermittler:innen / Kurator:innen zu Künstler:innen werden? Welche Möglichkeiten, aber auch welche neuen Machtverhältnisse resultieren daraus? Bedacht werden sollte, dass der Austausch von Personen, Gruppen und Begriffen nicht zwangsläufig zu einer Verflachung von Hierarchien führen muss. Sowohl die Kunstproduktion, als auch die Kunstkritik, kuratorische Arbeit und der Kunsthandel sind immer von Macht geprägt. Macht kann nicht negiert werden, vielmehr erzeugt jede Veränderung im Kunstbetrieb neue Machtkreisläufe, die sich stetig reproduzieren und deshalb immer wieder neu kritisch bearbeitet werden müssen. Dieser Einsicht verschreiben sich kritische Theorie, Praxis und Vermittlung in der Kunst. Die Machtanalysen des französischen Philosophen Michel Foucault und der Literatur, die seine Ansätze weiterführt, bilden hierfür ein wichtiges Werkzeug, welches in der Konzeptkunst, institutionskritischen Kunst und kritischen Kunstvermittlung häufig zum Einsatz kommt. Macht wird als etwas begriffen, das sich einer eindeutigen Definition entzieht, prozesshaft wirkt und in der Gesellschaft zirkuliert. Das bedeutet, die Individuen einer Gesellschaft haben nicht einfach mehr oder weniger Macht, sondern sie sind dazu gezwungen, Macht auszuüben und diese zur selben Zeit zu erfahren. Das Machtverhalten einer Person, Gruppe oder Institution ist demnach keine individuelle Praxis mehr, sondern das Produkt und der Ausdruck eines Diskurses. Sprache selbst wird zu einer diskursiven Praxis und jede:r kann in sie und durch sie in vorherrschende Machtverhältnisse eingreifen. In heutigen, identitätspolitisch geprägten Diskursen bleibt jedoch die Frage offen, ob ein rein diskursives Machtverständnis tatsächlich ausreichend ist, um sich revolutionär verhalten zu können. Wenn etwa zum Umsturz aufgerufen wird, eine radikale Umverteilung von Macht und ökonomischen Mitteln gefordert wird, oder wenn die politische Praxis von konkreten Personen und Institutionen attackiert wird, widerspricht das dann nicht dem fluiden Machtverständnis Foucaults? Fest steht, dass das Prinzip von Macht im Allgemeinen und im Kontext von Kunst und ihrer Vermittlung vielschichtig ist. Macht zeigt sich in bewussten, sowie unbewussten Handlungen. Die Entscheidung des Individuums (das im selben Moment Teil einer Gruppe ist) wie es seine Macht einsetzt, spielt immer eine entscheidende Rolle. Dabei prägen unterschiedliche Formen von Diskriminierung die Machtverhältnisse, in welchen es sich bewegt. So reproduzieren bis heute, auch in der Kunst, patriarchale Strukturen ihre innewohnenden Verhältnisse von Macht. Nach wie vor dominieren weiße Cis[1] männliche Personen den globalen Kunstdiskurs, sowohl was die ausgestellten Werke als auch Ausstellungskonzeptionen und Institutionen betrifft. Im über weite Strecken prekären Kunstbetrieb kommt das Selbstverständnis von schlechter- oder gänzlich fehlender Bezahlung einer Abwertung der Arbeit von Kunstschaffenden und Kunstvermittelnden gleich. Auch hier sind es im Allgemeinen marginalisierte Personengruppen, die besonders schlecht bezahlt werden. Institutionen mit progressiven Ansätzen, die etwa Ausstellungen mit einem antirassistischen/antidiskriminierenden Anspruch zeigen, verstricken sich nicht selten in innere Widersprüche, wenn man die hierarchischen Verhältnisse dieser Häuser unter die Lupe nimmt. Manchmal stellt sich die Frage, ob es diesen Institutionen tatsächlich um das politische Anliegen geht, oder ob es sich nicht eher um eine Aufwertung ihrer selbst handelt, weil es mittlerweile „en vogue“ geworden ist, sich als möglichst antirassistisch, antidiskriminatorisch und divers zu präsentieren. Geht es um eine ernst gemeinte Wertschätzung von marginalisierten Gruppen oder werden diese für die Außenwirkung einer Institution instrumentalisiert? So führt letzteres dazu, dass BIPoC[2] oder queere[3] Personen in vielen Fällen zwar zu Ausstellungen eingeladen werden, die sich Themen wie kulturelle Zuschreibung, Sexualität, Geschlecht, und/oder Identität im Ganzen widmen, aber zugleich nicht nachhaltig in Entscheidungsprozesse mit einbezogen oder in Institutionen integriert werden. Diese Umstände stützen ein dauerhaftes Machtgefälle. Dabei ließe sich durch die Entscheidung darüber, mit wem und wie Institutionen und andere Akteur:innen des Kunstbetriebs zusammenarbeiten, jenen Personengruppen Raum und Wertschätzung schenken, denen beides, auch historisch gesehen, selten zugestanden wurde. ________________________________________ [1] Cis/ cisgender bezeichnet Personen deren Geschlechtsidentität mit dem, ihnen bei der Geburt zugewiesenen/ im Geburtsregister eingetragenen Geschlecht, übereinstimmt [2] BIPoC steht für die politischen Selbstbezeichnungen Black, Indigenous und People of Color [3] Queer - Sammelbegriff für Personen, deren Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung nicht der binären (zweigeschlechtlichen), cis-geschlechtlichen und/oder heterosexuellen Norm entspricht. TEXTTYPEN DES JOURNALS Praxisberichte: In den Praxisberichten haben Studierende die Möglichkeit, über ihre selbstentwickelten Vermittlungsprojekte zu schreiben. Dabei geht es jedoch nicht allein um eine Beschreibung der Projektumsetzung, denn ein elementarer Bestandteil der Praxisberichte ist auch, dass die Überlegungen, die der Umsetzung vorangegangen sind, sowie der Kontext, in dem das Projekt stattfand, den Leser:innen nahegebracht werden. Eine kritische Reflexion des Projekts und ein kurzes Fazit sollten enthalten sein. Wenn du gerne einen Praxisbericht verfassen möchtest, dann erkläre uns bitte auf einer halben Seite kurz, worum es sich bei deinem Projekt gedreht hat, und wie sich darin das Thema der Demokratisierung widerspiegelt. Buchrezensionen: Eine Buchrezension ist eine informative, aber auch kritische Buchvorstellung, in der die wichtigsten Inhalte des Buchs besprochen werden. Gleichzeitig bietet die Rezension Raum für eine persönliche Stellungnahme oder Empfehlung und ein begründetes Urteil über die Relevanz des Buchs. In unserem Journal möchten wir vorzugsweise aktuell erschienene Bücher vorstellen (2020/2021). Wenn du ein Buch rezensieren möchtest, dann nenne bitte auf einer halben Seite kurz, um welches Buch es sich genau handelt (Titel, Autor:in, Verlag, Jahr) und welchen Bezug es auf das Thema Demokratisierung hat. Gespräche und Interviews: Unter dieser Kategorie haben Studierende die Möglichkeit, eine Person zu einem Gespräch oder Interview einzuladen, die über eine Expertise oder besonderen Erfahrungswert in Bezug auf das aktuelle Thema des Journals verfügt, oder deren kunstvermittlerische Arbeit man in Hinblick auf das aktuelle Thema des Journals befragen möchte. Über das Gespräch soll im Anschluss ein Fließtext in eigenen Worten geschrieben werden, der dann im Journal erscheint. Wenn du ein Gespräch oder Interview im Rahmen des Webjournals führen möchtest, um deinen Gesprächsbericht anschließend in der aktuellen Ausgabe zu veröffentlichen, dann bitte fasse auf einer halben Seite kurz zusammen, wen du gern als Gesprächspartner:in interviewen möchtest und wieso diese Person deiner Meinung nach in Verbindung zum aktuellen Thema der Demokratisierung dafür geeignet ist. Für uns sind diese Informationen wichtig, damit wir sie in unsere Entscheidung über die Beitragsauswahl mit einbeziehen können. Theoriebeiträge: Zu jeder Ausgabe laden wir zwei bis drei Gäst:innen dazu ein, zum aktuellen Thema einen Text zu verfassen. Wir möchten durch diese Beiträge Aspekte unseres aktuellen Themas beleuchten, die wir über Praxisberichte, Gesprächsbeiträge oder Buchrezensionen möglicherweise nicht abdecken können, die für uns aber so relevant sind, dass sie nicht fehlen dürfen. Außerdem bietet sich so die Chance, der Expertise aus anderen Fachbereichen Raum zu geben. Wenn du einen Vorschlag hast, welche Person eine besonders interessante Position zum aktuellen Thema vertritt und einen wertvollen Beitrag zum Thema Demokratisierung verfassen könnte, freuen wir uns über einen kurzen Vorschlag. Redaktion Issue 4: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert SHORT INFO (ENGLISCH VERSION) The Open Call is open to students and members of all institutes of the HBK Braunschweig Topic: Machtverhalten (Power Behaviour/Power Relations) Deadline for abstract (half a page): 09 October 2022 Languages: German, English ISSUE 4: MACHTVERHALTEN (POWER BEHAVIOUR/POWER RELATIONS) Although contemporary art strives for autonomy and represents liberal positions, for the most part, the globalized art scene is not excepted from the prevailing social power relations. Artists, art exhibitors, art educators, art critics as well as art consumers are all more or less affected by neoliberalism, discrimination and unequal economic conditions. Relationships of dependency can also be discerned between these groups, leading to a complex interplay in which the respective individuals/groups exercise and experience power over one another. Factors such as the awarding of grants and scholarships, public and private purchases of art, or the teaching of art in educational institutions such as schools or universities play a key role in this context. To shift unjust power relations in the art world it is essential to improve the awareness of the role of power inherent in decisions about the distribution of funding and the supply of infrastructure in the art world as well as the question of who can access it on what terms. Who is acting in which position in projects, institutions and exhibitions and under which circumstances should the resulting power structures be changed? What happens, when roles change, and artists become curators and art educators/curators or visitors become artists? What possibilities but also what new power relations result from this? However, when people, groups and concepts are exchanged, this does not mean that this automatically flattens hierarchies. Art production, as well as art criticism, curatorial work as well as the art market, are always determined by power. Power cannot be negated; on the contrary, every change generates new power circuits that constantly reproduce themselves and must therefore be critically reworked again and again. Critical art theory and practice are dedicated to this insight (e.g. conceptual art, institution-critical art, and critical art education). The power analyses of the French philosopher Michel Foucault and the literature that develops his approach further, form an important tool to shift power relations in the art system. According to Foucault power is understood as something that cannot be defined completely, it operates processual, and circulates in different forms in society. This means that the individuals of a society do not simply own more or less power, rather they are forced to wield and experience power at the same time. Accordingly, to this drain of thoughts, the power behaviour of a person, group, or institution is not an individual practice, but the product and expression of a discourse. Language itself becomes a discursive practice. However, in today's discourses shaped by identity politics, the question remains open whether a purely discursive understanding of power is sufficient enough to make a real (revolutionary) change possible. For example, when there is a demand for a radical redistribution of power and economic resources, or when the political practices of specific individuals and institutions are attacked, does this not contradict Foucault's fluid understanding of power? The principle of power in general and in the context of art and its mediation/education is multi-layered. Power manifests itself in conscious, as well as unconscious actions. The decision of the individual (who is at the same time part of a group) on how to use his/her/their power always plays a decisive role. Thereby, different forms of discrimination shape power relations. Thus, even today, patriarchal structures reproduce their inherent relations of power in the art system. White cis[1] males still dominate the global art discourse, both in terms of the works exhibited as well as exhibition concepts and institutions. In the largely precarious art scene, the fact that artists/mediators are not paid well or not paid at all is tantamount to devaluing the work of artists and art mediators/educators. Here, too, are generally marginalized groups or people particularly poorly paid. Institutions with progressive approaches that, for example, show exhibitions with an anti-racist/anti-discriminatory claim, not infrequently become entangled in internal contradictions when the hierarchical relationships of these institutions are scrutinized. Sometimes the question arises whether they are really concerned with the political issue, or whether it is rather a matter of image cultivation because it has become "en vogue" to present themselves as being as much as anti-racist, anti-discriminatory and diverse as possible. Is it about the serious recognition and inclusion of marginalized groups or are they just instrumentalized for the prestige advertising of an institution? Thus, in many cases, the latter leads to BIPoC[2] or queer[3] individuals being invited to exhibitions dedicated to topics such as cultural attribution, sexuality, gender, and/or the questioning of identity as a whole, but at the same time they are not becoming sustainably part of an institution and are not included in the respective decision-making processes. These circumstances support an enduring power imbalance. Yet, by deciding with whom and how institutions and other players in the art world collaborate, space and recognition could be given to those groups of people who have been marginalized and more or less ignored by the western art world for centuries. ________________________________________ [1] Cis/ cisgender refers to persons whose gender identity matches the sex assigned to them at birth/ recorded in the birth registry [2] BIPoC refers to the political self-designations Black, Indigenous, and People of Color [3] Queer - collective term for individuals whose gender identity or sexual orientation does not conform to the binary (two-gender), cisgender, and/or heterosexual norm CONTRIBUTION TYPES Experience Report: In the experience report, students can write about their self-developed art mediation projects. However, it is not only about a description of the project realization. An elementary component of the experience report is that the considerations that preceded the realization, as well as the context in which the project took place, are made accessible to the reader. A critical reflection of the project and a short conclusion should be included. If you would like to write an experience report, please explain briefly in half a page what your project was about and how it reflects the topic of mediation. Book Reviews: A book review is an informative, yet critical, book introduction that discusses the main content of the book. At the same time, the review provides space for a personal statement or recommendation and a reasoned judgment about the relevance of the book. In our journal, we prefer to present books that have been recently published (2021/2022). If you would like to review a book, please state briefly on half a page exactly what the book is about (title, author, publisher, year) and how it relates to the topic of mediation. Conversations and Interviews: Under this category, students may invite a person/group to participate in a conversation or interview who has expertise or special experiential value related to the current topic of the journal, or whose art education work suits the current topic of the journal. A continuous text in your own words should then be written about the conversation, which will be published in the journal. If you would like to conduct a conversation and write an interview report to be published in the next issue, please summarize on half a page who you would like to interview and why you think this person is suitable concerning the current topic of mediation. Theory contributions: For each issue, we invite two to three guests to write a text on the current topic. By these contributions, we would like to shed light on aspects of our current issue that are not covered in the other types of text. It also provides an opportunity to give space to expertise from other disciplines. If you have a suggestion about which person holds a particularly interesting position on the current topic and could write a valuable contribution on the topic of mediation, we would be happy to receive a brief suggestion. Editorial Team Issue 4: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert
- Grüne Institution | appropriate!
Ein Gespräch mit Oliver Ressler, Interview von Lena Götzinger Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Grüne Institution Hye Hyun Kim und Paul-Can Atlama im Gespräch mit Christoph Platz-Gallus 1 Christoph Platz-Gallus, Direktor des Kunstvereins Hannover 2 Kunstverein Hannover Wenn es um den Klimawandel und Maßnahmen für einen zielführenden Klimaschutz geht, verschiebt sich der Fokus zunehmend von der Kritik individueller Konsumentscheidungen zur Kritik an Systemen und damit einhergehend an Institutionen, die ebenjene Systeme aufrechterhalten oder zumindest von ihnen profitieren. Kunstvereine nehmen in diesen Debatten eine außergewöhnliche Rolle ein. Sie haben meist den Anspruch an sich selbst, gesellschaftlich relevante Themen mit aktuellen Methoden aufzugreifen, und tragen damit zur Meinungsbildung ihrer Besucher:innen bei. Auch wenn sie nicht mit den Institutionen vergleichbar sind, die aktuell effektiven Klimaschutz verhindern, gerät ihr Handeln vermehrt in den öffentlichen Fokus. Dadurch steigt das Verlangen nach einer stärkeren Selbstreflektion der eigenen Klimabilanz genauso wie der in den Ausstellungen behandelten Themen. Christoph Platz-Gallus ist seit 2022 der neue Direktor des Kunstvereins Hannover und somit dafür verantwortlich, die 2023 beschlossene Nachhaltigkeitsstrategie des Kunstvereins Hannover anzuleiten. Bevor es jedoch um konkrete Maßnahmen geht, ist es ihm wichtig, dabei die Geschichte der Kunstvereine nicht aus den Augen zu verlieren. „Also grundsätzlich muss man sagen, dass natürlich Kunstvereine im Grunde einer der wichtigsten kulturellen Erbstränge sind, die die Institutionsgeschichte im deutschsprachigen Gebiet hergibt, weil sie im 19. Jahrhundert als Amateurzirkel gegründet wurden und zunehmend eine sehr deutliche Demokratisierungsrichtung angestoßen haben“, so Platz-Gallus. Er betrachtet die Kunstvereine in ihrem historischen Kontext – als Institutionen, die sich zu Beginn mit ihren bürgerlichen Idealen von selbstorganisierter Bildung gegen die hegemonialen Kräfte des Adels durchsetzten – und sieht darin eine historische Verantwortung. Daraus entspringt der Anspruch des Kunstvereins, als Ort des Diskurses über zeitgenössische Belange zu fungieren und damit weiterhin zu einer Demokratisierung öffentlicher Debatten beizutragen. Während Kunstvereine im 19. Jahrhundert noch klar die Interessen des Bildungsbürgertums vertraten, ist ihr Anspruch heute eine Verschiebung oder eher Erweiterung um unterrepräsentierte und marginalisierte Perspektiven. Kunstvereine nehmen in der Landschaft der Kunstinstitutionen eine besondere Rolle ein. Im Gegensatz zu Museen, die ihre Ausstellungen oftmals bereits drei bis vier Jahre im Voraus planen, haben Ausstellungen beim Kunstverein Hannover nur circa ein Jahr Vorlauf, wodurch es möglich wird, schneller und an vorderster Front auf Entwicklungen zu reagieren und innovativen künstlerischen Praktiken eine Plattform zu bieten. Die Erfahrungen und Einsichten aus der Teilnahme an Großausstellungen wie Biennalen und der documenta offenbaren für Christoph Platz-Gallus die Notwendigkeit einer institutionellen Nachhaltigkeit, die oft in der Fluktuation von Teams und der Diskontinuität von Wissensstrukturen verloren geht. Er skizziert seine Vision einer idealen, grünen Institution, die Nachhaltigkeit, langfristiges Engagement und interdisziplinäre Bildung in den Mittelpunkt stellt. Die ideale Institution zeichnet sich durch eine stabile Struktur aus, die finanzielle Sicherheit und längerfristige Beschäftigungsverhältnisse bietet. Ein Beispiel hierfür ist das Festival Steirischer Herbst. „Ich hatte in Österreich in Graz eine sehr luxuriöse institutionelle Aufgabe für fünf Jahre, wo im Grunde für vier Wochen Festival ein ständiges Team das ganze Jahr angestellt war. [...]Das war im Grunde eine vollständig unterstützte Struktur, weil man in der Lage war, ein bisschen langfristiger zu denken, langfristiger mit Leuten zusammenzuarbeiten“, so Christoph Platz-Gallus. Das beweist, wie ein permanentes Team, das das ganze Jahr über beschäftigt ist, langfristiges Denken und Zusammenarbeit fördert, was in Großausstellungen oft nicht möglich ist. Die Flexibilität, Teams je nach Bedarf zu erweitern, ohne die Kernstruktur zu verlieren, ist entscheidend für die Bewahrung der institutionellen und künstlerischen Nachhaltigkeit. Eine Schlüsselkomponente ist die Förderung langfristiger Arbeitsmodelle mit Künstler:innen. Dies steht im Gegensatz zu der kurzfristigen Natur vieler zeitgenössischer Kunstprojekte und ermöglicht eine tiefere künstlerische Entwicklung und Kooperation. Durch die Schaffung finanzieller Sicherheiten können Künstler:innen eingeladen werden, über längere Zeiträume hinweg mit der Institution zusammenzuarbeiten. „Wenn es die finanzielle Sicherheit und einen Förderrahmen gibt, kann man zum Beispiel auch, das haben wir in Graz über drei Jahre zumindest in einem Projekt gemacht, Künstler:innen einladen, mehrfach zu kommen und mehrfach mit einem dort zu arbeiten und weiterzuentwickeln. Also ein bisschen aus dieser Ökonomie, dieser Gastvorstellung auch rauszukommen. Einmal kurz da, Namen kurz bei E-Flux rausgehauen, ganz kurz kommt die Presse [...] und dann zum Nächsten sozusagen“, erzählt uns Christoph Platz-Gallus und erklärt, dass es eine interessante Strategie für Institutionen und Einrichtungen ist, langfristige Arbeitsmodelle mit Künstler:innen auszuprobieren, die möglicherweise eine nachhaltigere Zusammenarbeit ermöglichen. Diese hohen Ansprüche an sich selbst müssen jedoch stets mit den realen Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten der Kunstvereine in Einklang gebracht werden. Veranstaltungen weiter als ein Jahr im Voraus zu planen, wäre beispielsweise auch gar nicht möglich. „Darüber hinaus geht es eigentlich nicht wirklich, weil die Kapazität auch noch gar nicht da ist. [...] Wir sind schon einer der größeren Kunstvereine mit sieben Stellen, also sechs plus FSJlerin, und dann gibt es ganz viele Freelancer:innen.“ Hinzu kommt eine starke Abhängigkeit der Kunstvereine von der Akquise zusätzlicher Fördergelder. „Die Realität der Non-Profit-Institutionen ist eine wahnsinnige Abhängigkeit, was das Geld betrifft. Also ich muss hundert Prozent des Ausstellungsetats akquirieren. [...] Der Kunstverein ist die älteste Kunstinstitution der Stadt, aber ist in dem Rahmen gefördert, wie andere Vereine auch, dass man vielleicht gerade so wenige engagierte Mitarbeiter:innen beschäftigen und das Licht anschalten kann.“ Es müssen also für den tatsächlichen Betrieb zusätzliche Geldquellen in der Form von Spenden, privaten und öffentlichen Stiftungen und von internationalen Geldgeber:innen organisiert werden. Dadurch ist es laut Platz-Gallus auch nicht möglich, extra Personal für Klimafragen einzustellen: „Wir können uns gar keine Beauftragten innerhalb des Teams leisten, die nur den Footprint und Fragen der Nachhaltigkeit in der Institution checken [...]. Das müssen die Institutionen selbst machen.“ Letzten Endes sind es dann häufiger kleinteilige und weniger öffentlichkeitswirksame Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen muss. In einer Pressemitteilung vom 11. Januar 2023 wird beispielsweise unter Anderem auf den Papierverbrauch eingegangen: „Materialien für Werbe- oder Bildungszwecke überhaupt zu drucken, wird in jedem Falle sorgfältig geprüft, um Bedarf und Abfall zu begrenzen. Drucksachen werden, wann immer möglich, auf Recyclingpapier hergestellt, und die Mitglieder haben die Möglichkeit, sich gegen gedruckte Sendungen zu entscheiden. Gleichzeitig sind wir uns des CO2-Fußabdrucks der digitalen Kommunikation bewusst und verpflichten uns, auch in diesem Bereich auf einen nachhaltigen Verbrauch hinzuarbeiten.“ [1 ] Ebenso sollen, wenn möglich, bei Veranstaltungen vegetarische oder vegane Speisen von lokalen oder regionalen Anbieter:innen serviert werden. Wie stringent die eigens auferlegten Maßnahmen eingehalten werden, ist schwierig nachzuvollziehen. Manchmal sparen auch Maßnahmen, die ursprünglich aus anderen Gründen ergriffen wurden – etwa die verstärkte Zusammenarbeit mit lokalen Künster:innen oder Nachbarschaftsprojekten –, Emissionen ein. Ein Beispiel dafür ist die Kollaboration mit dem REAL DANCE Festival Hannover Anfang dieses Jahres, bei dem die beiden Choreograf:innen Tiago Manquinho aus Braunschweig und Manuela Bolegue aus Hannover den Kunstverein als während der Ausstellung begehbaren Proberaum nutzten.[2 ] Diese Projekte beschäftigen sich nicht unmittelbar mit dem Klimaschutz und tragen dennoch dazu bei, Emissionen zu vermeiden. Auf der anderen Seite werden ressourcenintensive Projekte kritischer hinterfragt, als es vor wenigen Jahren noch der Fall war. „[...] einer meiner Vorgänger, Eckhard Schneider [hat] zur Expo 2000 eines der größten stromintensivsten Projekte gemacht, eine Gerhard-März-Installation mit 17.000 Neonröhren [3 ], was eine Art überbordendes Licht-Projekt war, das natürlich eine Setzung ist und auch diese Gigantomanie der monumentalen Kunst so massiv befördert hat. Wir haben innerhalb unseres Bildenden-Kunst-Diskurses da schon seit langer Zeit doch eine andere Richtung,“ sagt Platz-Gallus. Doch die Situation ist nicht bei allen Kunstvereinen gleich. Gerade was die Infrastruktur und den Zustand der Gebäude angeht, gibt es große Diskrepanzen. „Die einen haben 500 Neonröhren aus den 80er-Jahren, die nächsten haben 25 und dafür andere Lichtquellen. Die einen haben Grünstrom, den sie über die Stadt beziehen, und die nächsten sind in einem städtischen Gebäude und sind sowieso an einen Anbieter gebunden. [...] Plötzlich kündigt der Stromanbieter den Vertrag und man ist irgendwie auf einem doppelten Strompreis. Und jetzt versucht man, irgendwie im laufenden Jahr so was auszugleichen. Das ist einfach für viele Institutionen massiv problematisch“, schildert Platz-Gallus. Deshalb würde sich der Dachverband Arbeitsgemeinschaft Deutsche Kunstvereine (ADKV) aktuell für zusätzliche Finanzierung vom Bund einsetzen, um bei Sanierungsmaßnahmen einen gewissen Ausgleich zwischen den Kunstvereinen gewährleisten zu können. Die Ideen sowie die Ambitionen für einen zukunftsweisenden und grünen Kunstverein sind vorhanden. Es gibt auch durchaus schon innovative Projekte, an denen man sich orientieren kann. Häufig läuft die alltägliche Realität dann jedoch wieder auf eine kleinteilige und langwierige Auseinandersetzung mit dem ständigen Finanzierungsbedarf hinaus. Christoph Platz-Gallus lässt sich davon dennoch nicht den Mut nehmen: „Es sind häufig die kleinen Schritte und nicht die großen Sprünge, um sich auf eine nachhaltigere Praxis einzulassen. [...] Deswegen glaube ich auch, dass die kleinen Institutionen, die auch in ihren Förderanträgen gefragt werden: ‚Wie ist denn eure Strategie?‘, durchaus sehr selbstbewusst damit umgehen sollten, was sie denn wirklich alles schon machen.“ [1] https://www.kunstverein-hannover.de/files/01_PM_KVH_Jahrespressekonferenz_2023_2023012.pdf (Zugriff 14.02.2024) [2] https://www.kunstverein-hannover.de/de/kalender/3931-for-real-1 (Zugriff 14.02.2024) [3] https://www.shortcut-film.de/referenzen/kunst/kunst_gerhard_merz/index.php (Zugriff 14.02.2024) Christoph Platz-Gallus , der studierte Kunsthistoriker und vergleichende Literaturwissenschafter, hat international Ausstellungs- und Biennaleformate verschiedener Größenordnungen konzipiert und realisiert. Er arbeitete für die Skulptur Projekte Münster 07, die Kunsthalle Münster sowie den Westfälischen Kunstverein und veröffentlichte die Publikation „Kunstverein im Umbruch“ über die Entwicklung der Institution im Nachkriegsdeutschland. Seit 2022 ist Platz-Gallus der neue Direktor des Kunstvereins Hannover. Hye Hyun Kim , geboren 1991 in Daegu, Südkorea, ist eine Künstlerin, die derzeit an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig unter der Anleitung von Professor Nasan Tur Freie Kunst und bei Prof. PhD Martin Krenn Kunstvermittlung studiert. In ihren Workshops und Projekten zeigt sie überzeugend auf, wie Kunstvermittlung als Brücke zwischen Kunst und Gemeinschaft fungieren kann, indem sie ein Umfeld schafft, das zu Dialog, Reflexion und gemeinsamem Schaffen einlädt. Paul-Can Atlama , geboren 1998 in Köln, absolvierte seinen B.A. Intermedia an der Universität zu Köln und studiert aktuell Freie Kunst in der Fachklasse für Erweiterte Fotografie, Media and Poetics bei Professorin Natalie Czech und Kunstvermittlung bei Prof. PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sein forschender Blick und die Faszination für Kommunikation und das transformative Potenzial von Medien informieren sowohl seine künstlerische als auch vermittlerische Praxis. Abbildungsverzeichnis (Bilder) 1. Porträt Christoph Platz-Gallus, Foto: Marija M. Kanižaj 2. Kunstverein Hannover, Foto: Andre Germar 01 02 03
- Issue 2 Platz_nehmen | appropriate
Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Platz_nehmen: Demokratieplattform Braunschweig auf dem Wollmarkt Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales und Martin Krenn Die Coronakrise hat die Gesellschaft tiefgehend verändert und ihre Polarisierung verschärft. So läuft die politische Debatte immer stärker entlang (scheinbarer) Gegensätze: individuelle Freiheit versus Solidarität, Skepsis versus wissenschaftlich fundierte Fakten und Meinungsmanipulation versus Querdenken. Diese Polarisierung hat die Kommunikation an sich umgeformt und gewandelt. Der auf Fakten basierende rationale Diskurs muss häufig irrationaler Meinungsmache rund um sogenannte alternative Fakten weichen. Die Pandemie beschleunigte die Digitalisierung in der Gesellschaft, klassische Formate wie etwa Workshops, Podiumsdiskussionen und Universitätslehre wurden ab März 2020 zu großen Teilen in den digitalen Raum verlegt. Zwar könnte man meinen, dass sich die Zugänglichkeit zur Lehre und anderen Veranstaltungen durch die Verlagerung ins Digitale leichter und einfacher darstellen würde, jedoch zeichnete sich in der Realität schnell ein anderes Bild ab. Die nahezu unausweichliche Zusammenlegung von Arbeit/Lehre mit dem privaten Alltag stellte die Gesellschaft vor bisher ungeahnte Herausforderungen. Ohne genügend technische Endgeräte für alle Haushaltsangehörigen (mit entsprechender Rechenleistung), eine Betreuungsmöglichkeit für die Kinder und die Freiheit, sich eine ruhige und abgesonderte Arbeitsumgebung im eigenen Wohnraum schaffen zu können, wurde die digitale Teilhabe aller für viele Menschen nur unter größten Schwierigkeiten möglich, die idealisierte Form des gemütlichen Homeoffice konnten nur die wenigsten unter ihnen in der Realität erleben. Neben akuten materiellen Nöten erschwerten finanzielle Zukunftsängste und Vereinsamung durch die Eindämmung sozialer Kontakte die allgemeine Situation. Es zeigte sich leider auch, dass trotz politischer Solidaritätsbekundungen fast alle Menschen, die bereits in prekären Umständen lebten, in einem anderen und wesentlich bedrohlicherem Maß von der Coronapandemie betroffen waren als Menschen aus den gesellschaftlich privilegierten Schichten. Als Antwort auf die aus all dem resultierende Polarisierung der Gesellschaft und aufgrund des Bedürfnisses nach Begegnungen im physischen Raum wurde am Freitag, dem 3. September 2021 eine künstlerisch-dialogische Installation eröffnet. [1] Auf dem Wollmarkt hinter der alten Waage konnten Braunschweiger:innen eine Woche lang in dieser aus mehreren Holzmodulen bestehenden künstlerischen Arbeit Platz nehmen und über verschiedene gesellschaftspolitische Themen in den Austausch treten. Das Projekt wurde von der Kunstvermittlung FREIE KUNST der HBK Braunschweig gemeinsam mit „Demokratie leben!” Braunschweig [2] konzipiert und realisiert. Nach einer von Studierenden gestalteten Eröffnungswoche organisierte „Demokratie leben!” Braunschweig gemeinsam mit Braunschweiger Akteur:innen weitere Veranstaltungen, die noch bis Ende 2021 stattfinden sollen. Öffentlicher Raum Dem Projekt voraus ging im Rahmen mehrerer Seminare der Kunstvermittlung der HBK Braunschweig eine Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum, Demokratie und Kunst. Der Begriff des öffentlichen Raums erfährt spätestens seit den 1990er-Jahren im Kunstdiskurs besondere Aufmerksamkeit. Doch was genau versteht man unter dem öffentlichen Raum? Oliver Marchart fasst einander widersprechende Annahmen dazu zusammen und zeigt auf, wie vielschichtig der öffentliche Raum verstanden wird und inwiefern er abhängig von der jeweiligen Perspektive gesehen wird: Ist es ein Raum offen politischer Agonalität, des Kampfes um die Bedeutung im Sinne etwa von „politics of signification” (Stuart Hall), oder ist es ein Raum vernunftgeleiteter rationaler und zwangloser Debatte, in Habermas' Sinne, oder ist es ein Raum, in dem „vor Ort” sogenannte konkrete Mißstände benannt und behoben werden sollen? Ist der öffentliche Raum ein Raum unter vielen anderen Räumen (privaten, nichtöffentlichen, halb-öffentlichen, lokalen), ist der öffentliche Raum überhaupt ein Raum oder handelt es sich um den Oberbegriff für eine Vielzahl öffentlicher Räume? Was genau macht ihn zu einem politischen Raum (im Unterschied zu sozialen Räumen)? Und was ist das Öffentliche am öffentlichen Raum, und – umgekehrt – was ist das Räumliche an der Öffentlichkeit? (Marchart 2013:1) Marcharts (2013:18) Conclusio lautet, dass der Raum in der „Öffentlichkeit Produkt und zugleich Möglichkeitsbedingung von Demokratie” ist, da Öffentlichkeit für die konstitutive Teilung der Gesellschaft stehe und diese Teilung qua konfliktueller, antagonistischer Debatte ständig neu herstelle. Als Plattform für unser Projekt entschieden wir uns deshalb für eine modulare Form, die es möglich machte, den öffentlichen Raum am Wollmarkt stetig neu zu interpretieren. Die Zusammensetzung der trapezartigen Module sollte anpassbar an die inhaltlichen Aspekte unserer Veranstaltungswoche bleiben. Der Ort blieb damit wandelbar und sollte sich den komplexen Strukturen und Bedürfnissen von Öffentlichkeit anpassen können. So war eine runde Anordnung mit einem Zentrum für Vorträge genauso möglich wie einzelne separierte Sitzmöglichkeiten, um mehr Freiräume und private Gespräche zu ermöglichen, oder auch eine große, zusammenhängende Plattform, die zum gemeinsamen Rumhängen und Spielen einlud. Der Entstehungsprozess Das Platz_nehmen Projekt auf dem Wollmarkt war ein Versuch, einen Ort im öffentlichen Raum zu gestalten, der zum Dialog über Demokratie einlud. Der theoretisierte und abstrakte Begriff Demokratie sollte durch die Installation physisch erfahrbar in die Lebensrealität der Braunschweiger:innen gerückt werden. Ähnlich wie der Kunstbegriff selbst einer ständigen Überprüfung, Verwerfung und Erweiterung ausgesetzt ist, galt es für uns, auch den Begriff Demokratie zu befragen und anhand seiner Grundpfeiler zu erweitern. Ist das Ausfüllen eines Wahlzettels bereits Demokratie? Wie demokratisch kann Arbeit im Kollektiv an einem gemeinsamen Projekt sein? Repräsentative Demokratie drückt sich in Verwaltung und Politik aus, in welcher Hinsicht steht diese im Widerspruch mit dem Politischen? Bleibt Demokratie offen und erweiterbar, erreicht sie alle Menschen oder wird sie zu einem geschlossenen Konstrukt, an dem nur privilegierte Mitglieder einer Gesellschaft partizipieren können? Und allen voran die Frage: Wie können wir als weiße, studierende und lehrende Menschen ein Demokratieprojekt umsetzen, das über unsere soziale Gruppe hinausreicht und gesellschaftliche Relevanz entwickeln kann? Wir einigten uns für das Projekt auf eine Art Plattform, die wir als künstlerische und kunstvermittelnde Installation aufbauen wollten. Ein Raum, der in der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit stattfinden sollte, um einen Austausch über Demokratie zu initiieren. In der Gruppe etablierte sich ein Selbstverständnis, das Teilhabe zu einer elementaren Bedingung unseres Verständnisses von Demokratie und des Platz_nehmen Projekts werden ließ. Wie sonst soll Demokratie stattfinden, wenn nicht mit den Stimmen aller? Innerhalb der Projektgruppe gab es eine Verständigung darauf, dass wir sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der praktischen Ebene möglichst sensibel gegenüber unterschiedlichen Formen von Diskriminierung agieren sollten. Inhaltlich in Bezug auf die Vorträge am Platz_nehmen Projekt und zudem in der praktischen Umsetzung, was zum Beispiel die Lesbarkeit von Plakaten oder die Zugänglichkeit zu den Veranstaltungen und die Nutzung der Installation für körperlich eingeschränkte Menschen betraf. Dass es für uns als relativ homogene Gruppe (die unter anderem zu den meisten Teilen weiß und able-bodied ist und einen akademischen Abschluss anstrebt oder bereits besitzt) schwierig sein würde, ein solches Projekt mit dem Anspruch der Teilhabe für marginalisierte Gruppen zu ermöglichen, wurde uns schon im Laufe der Projektkonzeption immer deutlicher bewusst. Wie sehr unsere Privilegien die Umsetzung dieses Vorhabens innerhalb des Projektes erschwerten, wurde uns besonders klar, als wir ein eintägiges Seminar der Gruppe Amo – Braunschweig Postkolonial e.V. besuchten. Es verdeutlichte uns unsere Privilegien, aber es schärfte auch unser Verständnis von Rassismus und Öffentlichkeit und zeigte uns, welche Rolle wir in diesem Zusammenhang spielen können. Zwischen Konfliktualität und Dialog Das Projekt Platz_nehmen thematisierte im öffentlichen Raum Formen der Unterdrückung und Marginalisierung, es war ein künstlerisches Vermittlungsprojekt, das auf Dialog setzte und dadurch im Gespräch mit Passant:innen und eingeladenen Akteur:innen die eigenen politischen Ansätze reflektierte. Die unterschiedlichen Vermittlungsmethoden und Formate, die hier erprobt wurden, aber auch die modulare und besetzbare Skulptur an sich verfolgten neben ihrer agitatorischen und konfliktuellen Herangehensweise einen dialogischen Ansatz, der dem Begriff der „Dialogical Aesthetics” (Kester 2004: 82–117) zugeordnet werden kann. In der dialogischen Kunst fallen künstlerische Praxis und Vermittlung ineinander. Dialogische Kunst geht von der ästhetischen Erfahrung des Alltags aus und interveniert konkret in sozialen Verhältnissen. In diesem Sinne entstehen Vermittlungsprojekte zu sozialen und politischen Themen, die sich von herkömmlichen politischen Veranstaltungen unterscheiden, da sie eine andere ästhetische Qualität aufweisen: Ihr Ziel ist es, in einen ergebnisoffenen Austausch über relevante und unseren Alltag betreffende Themen zu treten. Theoretisch gesprochen kann dieser Austausch als eine ästhetische Erfahrung an sich aufgefasst werden. Das einwöchige Programm füllte sich mit partizipatorischen Kunstaktionen, Performances sowie Gesprächsrunden, unter anderem mit Tatjana Schneider, Leiterin des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und der Stadt an der TU Braunschweig, mit der wir über demokratische Stadtgestaltung sprachen. Das Kollektiv cindy+cate bot in einer vierstündigen Performance die Möglichkeit, anonym Standpunkte und Fragen im öffentlichen Raum zu teilen. Mittel dafür war ein QR-Code, der an verschiedenen Positionen in der Nähe des Projektorts installiert worden war. Passant:innen und Besucher:innen der Performance konnten anonyme Nachrichten formulieren, die über eine Website live an das Kollektiv übermittelt wurden. Jeweils zwei der Performer:innen kontrollierten die Nachrichten, während zwei andere sie vorlasen. Weitere Performer:innen hatten die Möglichkeit, „Einspruch” zu erheben. Sollte diesem von genügend anderen Mitgliedern des Kollektivs stattgegeben werden, wurde ein Nagel in die Mitte der Installation eingeschlagen. Durch das spielerische, interaktive Setting der Aktion wurde die Frage nach Redefreiheit im digitalen und öffentlichen Raum gestellt. Wo beginnt Redefreiheit und wo hört sie auf? Ist es richtig, dass alle alles sagen dürfen, oder gibt es auch Situationen, wo Zensur notwendig wird? Wer wird eigentlich gehört und wer bestimmt, was gesagt werden kann? Das demokratische Momentum des gesamten Platz_nehmen Projekts lag für uns weniger in der politisch-philosophischen Analyse von Demokratie und Politik als vielmehr im gemeinsamen Miteinander und Handeln. Die Gespräche, das Kennenlernen und der Austausch, die aufgrund dieses Projekts erst möglich wurden, zeigten uns, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie wir heute und in der Zukunft solidarisch und demokratisch gestaltend auf die Gesellschaft einwirken können. Es ist geplant, dass die Kunstvermittlung der HBK mit der VHS Braunschweig auch in Zukunft das Projekt weiterführt und weitere Gruppen und Künstler:innen dazu einlädt, daran teilzuhaben. Die Module sind nachhaltig gebaut und mit der Installation könnte auch an anderen Orten über gesellschaftlich relevante Themen ins Gespräch gekommen werden. Die Möglichkeit, in den öffentlichen Raum einzugreifen, ihn umzugestalten und Räume des Zusammenkommens und des Austausches zu fördern, wollen wir weiter erhalten. Wir freuen uns auf die Weiterentwicklung des Projekts und darüber, unsere Erfahrungswerte in eine solche zukünftig einbringen zu können. Andreas Baumgartner studiert derzeit im siebten Semester Freie Kunst an der HBK in Braunschweig. Er absolviert dort zusätzlich den Studiengang zur Kunstvermittlung. Seit einem Jahr arbeitet er in der Redaktion des Webjournals appropriate!. Andreas Baumgartner möchte mit seiner kunstvermittlerischen Arbeit die Zugänge zur Kunst erleichtern. Nicht unbedingt das Kunstwerk steht hierbei im Vordergrund, sondern vor allem das künstlerische Denken und Handeln, um dadurch hegemoniale Denkstrukturen zu durchbrechen und eine künstlerische und multiperspektivische Denkweise zu fördern. Paula Andrea Knust Rosales studiert aktuell im Fünften Semester freie Kunst, mit Schwerpunkt Bildhauerei, an der HBK Braunschweig. Sie studiert im 3. Semester in der Zusatzqualifikation Kunstvermittlung. Eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Strukturen und das brechen dieser, mit kunstvermittlerischer Arbeit als Mittel, interessiert sie zunehmend. Seit der zweiten Ausgabe des appropriate! Webjournals, ist sie Teil der Redaktion. Martin Krenn , PhD, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig sowie Dozent im Vienna Master of Arts in Applied Human Rights an der Universität für angewandte Kunst Wien. Krenn verschränkt in seiner Praxis Kunst mit sozialem Engagement. Seine dialogischen Vermittlungsprojekte, Fotoarbeiten und Filme widmen sich schwerpunktmäßig der Rassismuskritik sowie der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. Er ist Herausgeber diverser Kunstpublikationen und Autor zahlreicher Texte zu sozialer Kunst und Kunstvermittlung. Literatur Bloch, E., 1976. Das Prinzip Hoffnung Band 1. Suhrkamp HBK Braunschweig, 2021. Platz_nehmen: Demokratieplattform Braunschweig. https://www.hbk-bs.de/aktuell/veranstaltungen/details/26237/ (Zugriff: 07.10.2021) Kester, G., 2004. Conversation Pieces: Community and Communication in Modern Art. University of California Press Marchart, Oliver, 2013. Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en). Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie. https://transversal.at/transversal/0102/marchart/de (Zugriff: 12.06.2021) Marchart, Oliver, 2019. Conflictual Aesthetics: Artistic Activism and the Public Sphere. Sternberg Press [1] Projektkonzeption und Realisation: Sophia-Marie Amato, Jonna Baumann, Andreas Baumgartner, Eileen Becker, Janis Binder, Nano Bramkamp, Anna Darmstädter, Charlotte Jostes, Martin Krenn, Clara Mannott, Melanie Prost, Paula Andrea Knust Rosales, Rubia Rose, Marianna Schalbe, Daphne Schüttkemper, Iris Wegner, Maja Zipf Mit Unterstützung der Holzwerkstatt der HBK Braunschweig, Leitung: Heinrich Kampani [Zurück] [2] Die Stadt Braunschweig wurde 2015 in das Bundesprogramm „Demokratie leben!” im Rahmen der bundesweiten Förderung lokaler Partnerschaften für Demokratie aufgenommen. Ziel des Bundesprojekts ist es, einen Prozess der lokalen Demokratieentwicklung auf Dauer zu verankern und zum Abbau von Gewalt und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie zur Förderung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie beizutragen. „Demokratie fördern. Vielfalt gestalten. Extremismus vorbeugen” sind die handlungsleitenden Kernziele des Bundesprogramms [Zurück] Eröffnung Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Sitzmodule, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Flyer, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, 2021 Eröffnung, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Eröffnung, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 cindy+cate: Sprechraum, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Talk mit Tatjana Schneider, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 cindy+cate: Sprechraum, Platz_nehmen, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Modell der modularen Skulptur, Foto: Platz_nehmen, Braunschweig 2021 Die Pappmodelle dienten als Beispiele einer möglichen Zusammenstellung der Module und wurden für das Genehmigungsverfahren mit der Stadt Braunschweig verwendet. Die höhere Pappwand im Hintergrund stellte die Kirche dar und diente zur Orientierung im Modell. Foto: Platz_nehmen, Braunschweig 2021 Eine mögliche Variante der verschraubten Skulptur mit Höhenangaben. Abbildung: Platz_nehmen, Braunschweig 2021 Mögliche Kombination der Module mit Kreppband am Wollmarkt vorgezeichnet, Foto: Platz_nehmen, Braunschweig 2021 Performance "OutsideIn", Charlotte Kremberg, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Wer wird Demokrat:in mit Marlene Raabe?, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Talk: 3D Forum, Foto Nizar Fahem, Wollmarkt, Braunschweig 2021 Demokratischer Ausklang 09-19 Uhr, Maxim Himmelspach, Wollmarkt, Braunschweig 2021 1 Anker 2 Ank1 Ank2
- Fossilis – durch Graben gewonnen Von Linn Bergmann
Fossilis – durch Graben gewonnen Von Linn Bergmann Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Fossilis – durch Graben gewonnen Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Vor ungefähr vier Jahren wurde bekannt, dass sich im Rehburger Forst ein Waldabschnitt befindet, in dem sowjetische Gefangene im Verlauf des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeit verrichten mussten. Insgesamt waren dort während der Kriegsjahre mindestens 261 Kriegsgefangene untergebracht. Kurz nachdem die Existenz dieses Lagers bekannt worden war, haben sich ehrenamtliche Helfer:innen zusammengeschlossen, um die Geschichte des Lagers im Rehburger Forst aufzuarbeiten und in Form einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Rahmen dieser Aufarbeitung wurden im Forst archäologische Grabungen durchgeführt, bei denen viele Gegenstände aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden wurden. Neben aussagekräftigen Objekten wie zum Beispiel einer Kamera, Knöpfen und Schuhen waren zahlreiche andere Funde dabei, die keinen direkten archäologischen Wert haben, etwa Dachpappe, Glasscherben, Drähte und vieles mehr. Vor knapp drei Jahren wurde ich gefragt, ob ich gemeinsam mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum eine Ausstellung konzipieren möchte, um neben den wissenschaftlichen Aspekten auch der künstlerischen Aufarbeitung Raum zu geben und somit für noch mehr Sichtbarkeit zu sorgen. Anfangs hatte ich enormen Respekt vor der Verantwortung, die so eine Aufgabe mit sich bringt. Ich fragte mich, wie ich diesem großen, wichtigen Thema überhaupt gerecht werden könnte – ich als junge Künstlerin, die zunächst keine direkten Berührungspunkte mit der NS-Zeit hatte. Was gibt mir das Recht, mich laut und öffentlich künstlerisch dazu zu äußern? Meine größte Angst war – und ist es noch immer –, den Opfern dieses Lagers und ihrem Leid nicht gerecht werden zu können. Ich habe Sorge, das Thema mehr plakativ als sensibel aufgegriffen und vor allem aufgearbeitet zu haben. Ein weiterer Punkt, mit dem ich vor allem zu Beginn haderte, war der inhaltliche Kontrast zwischen der Auseinandersetzung mit dem Kriegsgefangenenlager und meiner eigentlichen künstlerischen Arbeit, die höchstens sehr subtil politisch ist und sich eher als forschend und intuitiv einordnen oder beschreiben lässt. Ich hatte Probleme, diese beiden Pole für mich zu vereinbaren, weil ich dadurch an der Authentizität meiner Arbeit im Rehburger Forst zweifelte. Bin ich wirklich die richtige Person, um dieses Thema zu bearbeiten, oder sollte nicht vielmehr jemand damit betraut werden, der oder die schon mehr Erfahrung mit politischer Kunst hat? Ein paar dieser Zweifel verflogen und mit der Zeit erkannte ich, dass die Arbeit in der Ausstellung vor allem eine große Chance war, meinen Teil zur Erinnerungskultur beizutragen, die ich heute als wichtiger denn je empfinde. Die Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe hatte zur Folge, dass ich mich mit der Zeit des Nationalsozialismus so intensiv wie nie zuvor auseinandersetzte. Ich war häufig im Wald, im Forst – dort, wo das ehemalige Lager war. Ab und an konnte ich auch bei den Ausgrabungen helfen. Für mich war es immer wieder erschütternd, dort zu sein. Der Wald und die gesamte Umgebung des Lagers sind sehr schön und idyllisch, und genau diese Idylle machte es für mich lange schwer greifbar, was sich an dieser Stelle wohl zugetragen haben mochte. Die Ruhe des Waldes und die schreckliche Geschichte dieses Ortes ließen sich für mich kaum miteinander vereinbaren. Gleichzeitig wurde mir immer klarer, was dieser Ort alles gesehen haben musste und welche Erinnerungen er in sich speichert. Der Wald ist wie ein großes, die Zeit überdauerndes Gedächtnis und bildet für mich eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Mir war es wichtig, diesen Aspekt in die Ausstellung zu integrieren, um einen direkten Bezug zwischen den Zeiten herzustellen und zu verdeutlichen, wie eng sie miteinander verbunden sind. Der Wald im ehemaligen Kriegsgefangenenlager vermittelt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Geräusche des Waldes, die ich aufgenommen habe, sind in der gesamten Ausstellung zu hören und bringen die Umgebung des Lagers akustisch in den Ausstellungsraum. Ein weiterer Aspekt meiner künstlerischen Auseinandersetzung sind die vielen Gegenstände, die im ehemaligen Lager gefunden wurden und nicht in Vitrinen gezeigt werden, die aber dennoch einen großen inhaltlichen Wert haben. Ich hatte die Möglichkeit, einen Raum mit den Funden zu bespielen, und habe aus ihnen sieben bildhauerische Arbeiten gefertigt. Es war für mich sehr eindrücklich und berührend, all die Fundstücke in meinen Händen zu halten und dadurch eine haptische Erfahrung mit dem Ort und seiner Geschichte zu gewinnen. Während ich die Arbeiten konzipierte, musste ich mir immer wieder vor Augen führen, was ich in den Händen hielt, vor allem, wenn es Fragmente von Waffen waren, wie die Überreste von Kartuschen für Granaten oder Patronenhülsen. Es war stets ein sehr befremdliches Gefühl, diese Dinge, die mir so fern sind, zu berühren. Das konfrontierte mich unausweichlich mit der Vergangenheit Deutschlands, für die ich keine Worte finde – und doch wären sie notwendig, um mit dieser Vergangenheit adäquat umzugehen. Mit den bildhauerischen Arbeiten hadere ich am meisten. Es war für mich sehr schwierig, eine passende Herangehensweise zu den Objekten zu finden. Wie kann man künstlerisch und skulptural Gegenstände aus der NS-Zeit so präsentieren, dass es durchdacht, aber nicht plakativ und oberflächlich ist? Wie kann man Militaria zeigen, ohne sie zu ästhetisieren? Auf diese Fragen habe ich weiterhin keine klaren Antworten parat und es fällt mir schwer zu entscheiden, ob ich eine gute oder eine eher problematische Form des Umgangs mit den Funden gewählt habe. Ich habe die Skulpturen weitestgehend nüchtern und schlicht gehalten und nur das Nötigste hinzugefügt. Dennoch würde ich sie als ästhetisch bezeichnen und ich frage mich, ob das im Kontrast zu einer respektvollen Auseinandersetzung mit dem Lager und mit der NS-Zeit steht. Gleichzeitig kann eine andere Form der Präsentation der Funde als eine wissenschaftliche, beispielsweise in Form von künstlerischen Arbeiten, neue Aspekte in der Betrachtung und der Sichtbarkeit erzielen. Und darum geht es im Grunde: eine Zeit wieder sichtbar werden zu lassen, die in Vergessenheit zu geraten droht. Dies gilt auch für die dritte künstlerische Arbeit der Ausstellung. Im Zentrum des gesamten Ausstellungsraumes wird ein zwölf Meter langes Leinentuch präsentiert, auf dem im Kollektiv die Namen der 261 bekannten Opfer des Kriegsgefangenenlagers im Rehburger Forst gestickt wurden. Anfang 2024 öffneten wir dafür einen Raum, in dem jede:r willkommen war, sich am Besticken des Tuches zu beteiligen. Es war ein Versuch, die Vergangenheit wieder etwas näher an die Gegenwart zu rücken, und somit ein Zeichen gegen das Vergessen. Diese 261 Namen stehen in erster Linie für sich selbst, aber auch für die vielen Menschen, die ihr Leben im Zweiten Weltkrieg während der nationalsozialistischen Diktatur verloren haben und die niemals vergessen werden dürfen. Für diese Arbeit war es von großer Bedeutung, dass das Besticken des Lakens öffentlich erfolgte. Es ist wichtig, dass alle Menschen in Deutschland ihre Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit der Vergangenheit erkennen und sich so, wie es ihnen möglich ist, an der Erinnerungskultur beteiligen. Dafür steht auch dieses Laken. Die kollektive Arbeit war für mich eine ganz neue Erfahrung und es hat mich sehr gefreut, dass es viele verschiedene Menschen gab, die sich an dem großen Vorhaben beteiligen wollten. Es war eine neue Art der Annäherung an die internierten Kriegsgefangenen: Bei jedem Namen, den ich stickte, überlegte ich, wie der Mensch, der hinter diesem Namen steht, wohl gewesen war, wer er vor dem Krieg war und was mit ihm geschah – eine unweigerliche Folge der langwierigen Arbeit des Stickens. Ich denke, dass es ein wichtiger Aspekt einer guten Erinnerungskultur ist, sich auch den Einzelfällen zu widmen und zu erkennen, dass hinter all den Zahlen und Fakten schließlich Menschen stehen. Dieses Laken ist für mich somit auch ein Symbol für Menschlichkeit und Empathie. In meiner Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum habe ich sehr viel über die deutsche Geschichte gelernt, die immer noch so eng mit der Gegenwart verbunden ist. Mehr denn je wurde mir bewusst, wie tiefgreifend die Spuren sind, die die Diktatur des Nationalsozialismus auf allen Ebenen der Gesellschaft hinterlassen hat. Ich durfte die Funde in meinen eigenen Händen halten, jeden einzelnen Namen derer lesen und schreiben, die Opfer dieses Lagers im Forst waren. Dadurch erhielt ich die Möglichkeit, ihnen und ihrer Zeit näherzukommen, und das empfinde ich als großes Privileg. Ich dachte auch viel über die ehrenamtliche Arbeit meiner Kolleg:innen nach. Die Menschen, mit denen ich die Ausstellung gemeinsam konzipierte, sind großteils zwischen 60 und 70 Jahre alt; somit war ich die jüngste Person in dieser Gruppe. Es war für mich eine sehr bereichernde Erfahrung, an so einem generationenübergreifenden Projekt mitwirken zu können, doch sie warf auch Fragen auf: Wieso war ich als einzige Person aus meiner Altersgruppe an dieser Ausstellung beteiligt? Wo verorten sich junge Menschen in Bezug auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus? Die Erinnerungen an diese Zeit scheinen von Generation zu Generation immer mehr zu verwässern und ich kenne kaum Personen in meinem Alter, die sich noch aktiv mit dieser Zeit beschäftigen. Natürlich sind viele Menschen politisch aktiv und setzen sich gegen diskriminierende Strukturen jeglicher Art in unserer Gesellschaft ein. Meine Generation ist durchaus politisch. Doch manchmal scheint die Betrachtung der Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart an Relevanz zu verlieren, was teilweise auch verständlich ist. Die vielen Krisen unserer Zeit verlangen uns unsere ganze Aufmerksamkeit ab und lassen es deshalb kaum zu, sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Allerdings sind diese beiden Zeiten so eng miteinander verbunden, dass es kaum möglich ist, sie getrennt voneinander zu betrachten. Wir haben als letzte Generation noch die Möglichkeit, mit Zeitzeug:innen zu sprechen und von ihnen zu lernen. Meine Altersgruppe trägt dadurch maßgeblich die Verantwortung mit, wie wir in Deutschland weiterhin mit den kostbaren Erinnerungen der vorherigen Generationen umgehen: Ob wir sie vergessen oder ob wir sie sicher verwahren, um immer und immer wieder zu erinnern, dass sich die Geschichte auf keinen Fall wiederholen darf. Wenn ich hier über die Zeit des Nationalsozialismus spreche, komme ich nicht umhin, sie mit der Gegenwart in Kontext zu setzen. Ein globaler Rechtsruck ist nicht mehr zu leugnen. Die erneute Wahl Donald Trumps, der erschreckende Aufschwung der AfD, die illiberale, rechte Regierung Ungarns im Herzen Europas sind nur ein paar Beispiele, die ich hier anführen kann. Die Liste ist bedeutend länger, und je umfangreicher sie wird, desto unbegreiflicher ist es für mich, wie es dazu kommen konnte. Wie kann es sein, dass in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, eine rechtsextreme Partei eine derartige Zustimmung erfährt? Ausgerechnet in Deutschland? Die Zeit des Nationalsozialismus darf nicht in Vergessenheit geraten und es liegt in der Verantwortung einer jeden Person in unserem Land sich dafür einzusetzen. Umso wichtiger ist die Arbeit von Gruppen wie der des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum, die sich ehrenamtlich und auf vielen Ebenen für eine gute Erinnerungskultur und eine bessere Gesellschaft engagieren. Ihre Arbeit schenkt mir Mut und Zuversicht und lässt mich daran glauben, dass es hier viele Menschen gibt, die sich gegen diskriminierende Strukturen in unserer Gesellschaft einsetzen. Sie machen mir Hoffnung für unsere Zukunft. Linn Bergmann , aufgewachsen in Berlin, studiert Freie Kunst an der HBK Braunschweig in der Fachklasse für Bildhauerei bei Thomas Rentmeister. Mit einem suchenden Blick erforscht sie die Zusammenhänge unserer Gesellschaft und Umwelt. In ihrer Einzelausstellung “Fossilis - Durch Graben gewonnen” nähert sie sich künstlerisch der Zeit des Nationalsozialismus an, wobei die Erinnerungskultur ein zentrales Thema ist. 01
- Illumination des Landtages
English version KUNSTPROJEKT IM RAHMEN DES 75. JUBILÄUMS AM NIEDERSÄCHSISCHEN LANDTAG Projektion von Videostatements https://enlightening-the-parliament.de










