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  • Issue 3 Night Audition | appropriate

    Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Night Audition – das Recht auf OpazitĂ€t Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Foto: Victoria Tomaschko (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Bild: Bendig, Jantzen, Niemann (c) 2022 Wie passen Vermittlung und UnverstĂ€ndlichkeit / Undurchdringlichkeit zusammen? Auf welche Grenzen, welche WiderstĂ€nde stoßen wir, wenn wir das Recht auf OpazitĂ€t[1] in Kunstvermittlungskontexten zur Disposition stellen? Der folgende Text reflektiert einen experimentellen Vermittlungsworkshop, der im Februar 2022 von den Autor:innen dieses Beitrags im Rahmen der Ausstellung „Gods Moving in Places“ in der ifa-Galerie Berlin (2022) realisiert wurde. Der experimentelle Workshop „Night Audition“ eröffnete einen spielerischen Einstieg zum Konzept der OpazitĂ€t, um dem dekolonialen Anspruch auf Intransparenz und UnverstĂ€ndlichkeit nĂ€herzukommen. Der Schriftsteller, Theoretiker, Aktivist und Philosoph Édouard Glissant (1928–2011), Referenz- und Bezugspunkt fĂŒr „Gods Moving in Places“, verteidigt dieses Recht auf OpazitĂ€t (das Undurchdringliche). Bringt jede:r das Recht darauf selbst mit? Wie können wir uns zu kĂŒnstlerischen Arbeiten in Beziehung setzen, ohne sie „verstehen“ zu wollen? Die zweiteilige Ausstellung „Gods Moving in Places“ ergrĂŒndete das politische Potenzial der karibischen und guyanischen Imagination. Die hier versammelten kĂŒnstlerischen Arbeiten beschĂ€ftigten sich mit den Erinnerungen, ErzĂ€hlungen und Geschichten, die diese Vorstellungswelt geprĂ€gt haben, mit indigenen Mythologien und der gewaltsamen Eroberung des sĂŒdamerikanischen Kontinents. Der von dem KĂŒnstler Mathieu Kleyebe Abbonenc gemeinsam mit Lea Altner zusammengestellte erste Teil der Ausstellung, in dessen Rahmen das Vermittlungsformat realisiert wurde, zeigte Arbeiten von Minia Biabiany, Karl Joseph, Mirtho Linguet, Beatriz Santiago Muñoz, Marcel Pinas, Pamela Colman-Smith und Apichatpong Weerasethakul und war vom 28.01. bis 13.03.2022 in der ifa-Galerie in Berlin zu sehen. Grundlegend fĂŒr erste Schritte der Vorbereitung – noch vor der Konzeption des Workshopformats – war es, den Kontext der Ausstellung „Gods Moving in Places“ kennenzulernen, um diesen in unserem Vermittlungsformat so gut es ging nahelegen und fĂŒr die Teilnehmer:innen nachvollziehbar machen zu können. Teil dieser Auseinandersetzung war es, die Konzepte zu OpazitĂ€t, Tropischer Nacht[2] und Kreolisierung[3] im Werk Glissants, einem der Vordenker des Postkolonialismusdiskurses, in den Denkprozess einzuladen. Édouard Glissant ist ein Name, um den sich Geschichte schreiben lĂ€sst: Édouard Glissant, politischer KĂ€mpfer des antikolonialen Widerstands. Édouard Glissant, geboren auf – und im Laufe seines Lebens aufgrund seiner politischen AktivitĂ€ten und Forderungen von seiner Heimat exiliert von – Martinique, einer jener karibischen Inseln, die heute, im 21. Jahrhundert, noch als sogenannte ÜberseedĂ©partements von Frankreich – als eine Fortwirkung des französischen Kolonialismus – fortbestehen. Im akademischen Umfeld, so auch der Kontext, in dem dieser Workshop entstanden ist, wurde Glissant in den Geistes- und Kulturwissenschaften und – etwas verspĂ€tet – auch in den Kunstwissenschaften im Diskurs durchaus angenommen. Konzepte der Kreolisierung und OpazitĂ€t wurden in vielen Formen produktiv gemacht, nicht nur im Bereich der Antirassismusforschung, sondern weit verzweigt in dekolonialen Praktiken. Praktiken, die sich auf unterschiedliche Weise als Empowerment-Strategien manifestieren wie auch eurozentrische Geschichtsschreibung relativieren. Kann daraus ein Beteiligtsein – im Sinne eines Sich-nicht-herausnehmen-Könnens aus einer rhizomatischen Vernetzung der Weltbeziehungen – initiiert werden? Im akademischen Kontext muss das als Frage formuliert werden. Denn in den mehrheitlich weiß[4] geprĂ€gten deutschen Wissenschaftseinrichtungen lĂ€sst sich eine LĂŒcke feststellen. Von der Auseinandersetzung mit den philosophischen Begriffen Glissants auf der einen Seite – dem Interesse daran, diese verstehen zu wollen und in theoretischer Arbeit produktiv zu machen – hin zu einer Entfaltung ihrer politischen Wirkung auf der anderen Seite – vergleichbar mit jener Vehemenz, wie sie sich etwa in aktivistischen KĂ€mpfen außerhalb der Institutionen Ă€ußert und als politisches Mittel eingesetzt wird – sind kaum Verbindungslinien gespannt. Glissant verband die OpazitĂ€t nicht ohne Grund mit einem Recht bzw. Anspruch der:des Einzelnen darauf, diese fĂŒr sich persönlich als eine solche Empowerment-Strategie geltend machen zu können. Den Workshop in die Tat umzusetzen, bot die Gelegenheit, eben diese LĂŒcke etwas anzuheben. Es konnten dabei ein Austausch entstehen und die eigene Positionierung mit Glissants Begriffen und literarischen Beschreibungen in Beziehung gesetzt werden. WorĂŒber schreibt Glissant? Sein ƒuvre ist vielseitig und ĂŒber die Zeit seiner schriftstellerischen TĂ€tigkeit sehr unterschiedlich ausgerichtet, dennoch gibt es zentrale Themen: Vielheit und Austausch. Unbewusste „Vermischung“[5] (Bevölkerung, kreolische Sprachen etc.). Nicht eine Wurzel der Geschichte. Vielmehr: Die Weltgesamtheit als ein verwobenes Geflecht von Beziehungen. Eine AnnĂ€herung: Tropische Nacht und OpazitĂ€t In der Ausstellung fĂŒhrte ein kurzes Video von Guy Deslauriers[6] in Glissants Denken ein. In diesem FilmportrĂ€t entwickelt Glissant seine Gedanken zur „tropischen Nacht", ein Konzept, das sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht: „I think that... the tropical night, for the people who were once deprived, colonised and oppressed, is the time when we challenge history, when we fundamentally challenge history.” Und weiter: „In the tropical night, waves of potpourri float on the air. There are waves of smells, and there are waves of shapes that move. They go away, they walk, they come to us and they speak to us.“[7] Er entwirft die tropische Nacht als einen Raum, der uns Zugang zu anderen Wissensformen und anderen Ebenen der Wirklichkeit ermöglicht. Der Ausstellungstitel „Gods Moving in Places“, einem Interview mit dem karibischen Autor Wilson Harris entlehnt, bezieht sich auf die Geister und Wesen, die aus der tropischen Nacht hervorgehen und uns auf andere Art und Weise „informieren". Die Undurchdringlichkeit der tropischen Nacht mit ihren Geistern fĂŒhrt uns zum Konzept der OpazitĂ€t, das ein zentraler Bestandteil von Glissants Weltsicht ist. Forderungen nach OpazitĂ€t beschreiben das Recht des Einzelnen, sich dem Zugriff, der Einordnung und der Kategorisierung von außen zu entziehen. Wir entfernen uns mithilfe der OpazitĂ€t (nach Glissant) von einer vor allem westlich geprĂ€gten Verwendung der „Transparenz“ (im Hinblick auf die Erfahrung der Sklaverei und der nachwirkenden Traumata), die jeden Aspekt des Lebens nach eigenen Klassifikationsmodellen zu beurteilen und einzuordnen versucht. Dadurch lernen wir, dass nicht alle Kategorien fixierbar sein mĂŒssen. Wichtig ist, dass es sich hierbei nicht um eine Kritik am BedĂŒrfnis nach VerstĂ€ndlichkeit per se handelt, sondern darum, diese VerstĂ€ndlichkeit als Voraussetzung fĂŒr ein Miteinander darzustellen. AusgefĂŒhrt: die Vermittlung FĂŒr das Vermittlungskonzept wurde ein Ablauf entworfen, der die Teilnehmer:innen in zwei Bewegungen des Sammelns und AusschwĂ€rmens im Galerieraum in ein Spiel der Handlungen und Interaktionen versetzen sollte. Auf ein Set von 50 Karten wurde jeweils ein Zitat von Glissant geschrieben und mit einem Handlungsimpuls in Verbindung gebracht. Diese Karten luden die Teilnehmer:innen ein, sich der Ausstellung aus einer bestimmten Perspektive – gewissermaßen durch die poetische Brille Glissants – zu nĂ€hern. „Mit dem Archipelischen Denken kennen wir die Steine in den BĂ€chen, bis zu den kleinsten von ihnen, und wir betrachten die Schattenlöcher, die sie zeigen oder verdecken.“[8] (Édouard Glissant) Aus diesen Perspektiven heraus kamen Handlungen und Interaktionen sowohl zwischen den Kunstwerken und den bereitgestellten Materialien als auch zwischen den Teilnehmenden des Workshops zustande. Dies ermöglichte eine neue, vielleicht im besten Sinne Glissants, chaotische Kontaktaufnahme innerhalb des Ausstellungsraums. Eine, die sich um die Beteiligten schlang und die sich zeigte, zwischen den Mitteln unserer Wahrnehmung und des aneinander und am Außen Festhaltens, des sich einander AusdrĂŒckens. Etwa, in dem ein:e Teilnehmer:in den Impuls, die Schattenlöcher im Raum zu skizzieren, in eine Markierung der von der Lichtregie der Ausstellungsarchitektur unberĂŒcksichtigten Raumnischen ĂŒbersetzte, wĂ€hrend ein:e andere:r eben diese Nischen mit der Frage nach den eigenen Intransparenzen kommentierte. Ein Akt der Durchmischung des Ausstellungsraums und seiner Konstellationen. All dies verĂ€nderte die Herangehensweise an die kĂŒnstlerischen Arbeiten im Raum. Zugleich wurde jede Karte in gewisser Weise zu einer Ansichtskarte, geschaffen in dem Moment, in dem sie in der Ausstellung in Beziehung gesetzt bzw. gelegt wurde. „Relation contaminates, sweetens, as a principle, or as flower dust.”[9] (Édouard Glissant) Von Sinnen im Raum Eine raumgreifende Installation der KĂŒnstlerin Minia Biabiany strukturierte den Galerieraum: Ein aus Erdlinien gewebtes Muster leitete die Besucher:innen durch die Ausstellung; darin kreisrunde, schwarze WasserflĂ€chen, die Bilder, Stimmungen, Bewegungen im Ausstellungsraum spiegelten und Blicke zurĂŒckwarfen. Auch die Projektion des Videos „PawĂČl sĂ© van“ (2020), in dem die KĂŒnstlerin die WiderstandsfĂ€higkeit der Natur der karibischen Inselgruppe Guadeloupe angesichts der fortwĂ€hrenden Ausbeutung durch die Plantagenwirtschaft und der Kontamination durch Pestizide poetisch untersucht. Nach der ersten Intervention der Teilnehmenden im Raum schwebt ein weißes Papierbötchen auf einer der Wasserstellen. Eine GrenzĂŒberschreitung? Darf man das? Tun wir der Arbeit der KĂŒnstlerin damit Gewalt an? Stören wir damit das kuratorische Konzept? Aber, wirft eine Teilnehmerin ein, will Kunst nicht genau das – eine Reaktion hervorrufen? Es geht darum, sagt eine andere, die Irritation auszuhalten, die Grenzverschiebung wahrzunehmen, anstatt zu bewerten. Und dennoch: Ist nicht ĂŒberhaupt die ganze durch das Vermittlungskonzept vorgeschlagene Lesart einer Ausstellung durch Zitate eine gewaltvolle Brille, die den kuratorischen Gestus verfĂ€lscht? Und tun wir Glissants Arbeit Gewalt an, wenn wir Zitate ihrem Kontext entreißen? In der zweiten Durchmischung werden Zitatkarten zerrissen, transformiert, in den Raum gestreut. Ich möchte das Recht auf OpazitĂ€t willkommen heißen. Ich möchte meine und die Wahrheiten meiner Mitmenschen nicht auf das Maß einer einzigen Transparenz reduzieren. Denn das, was nicht zu durchschauen ist und verborgen bleibt, kann ĂŒber Klarheit verfĂŒgen. UnverstĂ€ndliches besitzt UnmissverstĂ€ndlichkeit. Dahingehend vermittelt uns die OpazitĂ€t keine Gesetzlosigkeit, sondern jedes Individuum bestimmt den eigenen Rahmen dessen, was preisgegeben werden soll. Somit kann dieser Grundgedanke oberflĂ€chlich divergente, jedoch gleichwertige Details von den Orten der Welt versammeln, ohne einige von ihnen herabzusetzen und andere aufzuwerten. Aufgrund dessen entstehen im zugĂ€nglichen Raum der Möglichkeiten facettenreiche Dimensionen des Seienden, wodurch die Reduktion auf eine allumfassende sowie kategorisierende Logik ĂŒberflĂŒssig wird. „Die Spur ist auch gangbare Form dieses Wissens. Man folgt ihr nicht, um auf bequeme Wege zu gelangen, sie bestimmt zu der ihr eigenen Wahrheit, nĂ€mlich der Explosion, die verfĂŒhrerische Norm in Alles aufzulösen.“[10] (Édouard Glissant) Das Einfordern eines Rechts auf OpazitĂ€t stĂ¶ĂŸt auf Widerstand. Das Verstehen-Wollen, das Nachvollziehen-Wollen, das Wissen-Wollen, der Wunsch nach Durchschauen und Begreifen ist mĂ€chtig. Plötzlich steht unsere westliche Monstranz – die AufklĂ€rung – zur Disposition. Ein:e Teilnehmer:in ist besorgt: MĂŒssen wir jetzt unseren Herder vergessen? Die Verteidigungsrhetorik wird in Stellung gebracht, das einst mĂŒhsam gelernte und anerkannte Vokabular ausgepackt. Wir antworten mit eben jenen Schattenlöchern. WĂ€hrend sie in der Phase der Durchmischung den Blick dahin lenkten, wo die Ausstellungsmacher:innen ihn nicht haben wollen – in die versteckten Winkel; in die dunklen Ecken; auf die RĂŒckseite des Displays –, lenken wir nun den Blick auf die Schattenlöcher der AufklĂ€rung. Auf ihre AbgrĂŒnde, ohne die sie nicht zu denken ist. Auf ihre Verstrickung in „Praktiken kolonialer Vermessung, Eroberung und Unterwerfung der Welt“[11] . Auf die mit der AufklĂ€rung verbundene wissenschaftliche Einordnung, Kategorisierung und Hierarchisierung von WissensbestĂ€nden, die den Weg zu ihrer gewaltvollen Aneignung und Ausbeutung ebneten. Die AufklĂ€rung verlernen? Verlernen bedeutet Verlust. Und Verlust schmerzt. Schmerz fĂŒhrt zu Widerstand. Widerstand ist also ein Zeichen, dass etwas in Bewegung gerĂ€t. Widerstand kann sich zeigen, indem sich Teilnehmer:innen entziehen und verweigern. Auch darin liegt ein Recht auf OpazitĂ€t, das anzuerkennen ist. „Denn du hast das Recht unverstĂ€ndlich zu sein, zuallererst fĂŒr dich selbst.“[12] (Édouard Glissant) Manuel Bendig, Linus Jantzen und Annika Niemann interessieren sich fĂŒr machtkritische, kollaborative Denkprozesse und Vermittlungspraktiken in Form von kĂŒnstlerischer Forschung. Manuel Bendig studiert im MA Kunstwissenschaften an der HBK Braunschweig. In seinen Arbeiten geht es um intersektionale, kĂŒnstlerische Forschung an den Schnittstellen zu dekolonialen Praktiken, Institutionskritik, queer studies und Fototheorie. Linus Jantzen studiert im MA Kunstwissenschaften mit einem fototheoretischen Schwerpunkt an der HBK Braunschweig und beschĂ€ftigt sich in seiner eigenen kĂŒnstlerischen Praxis mit Motiven des Vergessens und „Vergessenwerdens“. Annika Niemann ist Kunstvermittlerin, Kulturagentin fĂŒr kreative Schulen Berlin und zurzeit Verwaltungsprofessorin fĂŒr Kunstvermittlung am Institut fĂŒr Performative Praxis, Kunst und Bildung der HBK Braunschweig. Endnoten [1] Das „Recht auf OpazitĂ€t“ wird von Édouard Glissant benannt und eingefordert, vgl. Glissant, Édouard, 1997. Poetics of Relation. Michigan Press. S. 187 ff. [2] weiterfĂŒhrend zu Tropischer Nacht siehe S. 3 [3] Zu Kreolisierung schreibt Glissant – ĂŒbersetzt ins Deutsche – wie folgt: „Sie ist eine Mischung, insbesondere eine Mischung der Kulturen, die Unvorhersehbares herstellt.“ Glissant, Édouard, 2005. Kultur und IdentitĂ€t. AnsĂ€tze zu einer Poetik der Vielheit. Wunderhorn. S. 81 [4] weiß ist hier als politischer Begriff kursiv gesetzt, um diese soziale Konstruktion, die strukturell mit Privilegien und rassistischen Hierarchien verbunden ist, klar zu markieren. [5] „Vermischung“ als eine Erfahrung von Kreolisierung, die nur als unbewusste, mit einem ungewissen Ausgang, geschieht. [6] Deslauriers, Guy/Glissant, Édouard, 1996. Édouard Glissant. Un siĂšcle dÂŽĂ©crivains. Film director: Guy Deslaurier. Video, 4 min. [7] ebd. English subtitle [8] Glissant, Édouard, 2021. Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite. Wunderhorn. S. 38 [9] Glissant, Édouard, 1997. Poetics of Relation. Michigan Press. S. 185 [10] Glissant, Édouard, 2005. Kultur und IdentitĂ€t. AnsĂ€tze zu einer Poetik der Vielheit. Wunderhorn. S. 52 [11] Broeck, Sabine, 2011. AufklĂ€rung. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.). (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache – Ein kritisches Nachschlagewerk. Unrast Verlag. S. 232 [12] Glissant, Édouard, 2021. Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite. Wunderhorn, S. 58 1

  • Issue 2 Wydrowska | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Queer Activism in Poland's split society Political education through Bożna Wydrowska's performance artworks Pinar Dogantekin "Everyone has to take the side, you can feel it in everyday life." With the assumption of power by law and justice in Poland, society has become more polarized. The current government, led by president Andrzej Duda, controls the state media only showing news and shows with an undemocratic view on the LGBT+ community but also a traditional picture of what a Polish woman ought to be like. "The medial situation is making citizens' views more extreme", the young artist Bożna Wydrowska explains. Today, a growing number of journalists seeks political and economic refuge on the internet. Due to the increasing censorship of government privatizing media and preventing journalists and civilians from criticizing its actions Poland has a problem with freedom of opinion. Right-wing conservative politics appeals to a part of society but the other half is completely against it. Bożna Wydrowksa describes a national feeling of being pressurized. “Everyone has to take the side, you can feel it in everyday life“, she explains. Being gender fluid themself, Bożna Wydrowska deals a lot with the situation of Polish LGBT+ community being targeted by law and justice which promote the traditional and catholic family model. The current government not only excludes the entire LGBT+ community. Creating so-called LGBT+ -free zones, the president gave a statement regarding the LGBT+ community calling them an ideology more harmful than communism. But the government also bends women's rights by considering declarations regarding the withdrawal from the Istanbul Convention, enforcing a near-total abortion law and not protecting women when experiencing physical violence. “Ballroom and voguing led me to the topic of redefining gender.“ Not only as a political activist but also as a political artist Bożna Wydrowska knows about the influence artworks can have in and on society. Most Polish artists are now politically involved in the fight against the current system while law and justice have been taking over and censoring cultural institutions for some time now promoting its right-wing ideology. “The world of arts is very much needed now because it is the only way to directly reach and communicate with recipients from various environments“, Bożna Wydrowska says. Wydrowska expresses feelings and thoughts by performing art. As a ballroom and voguing dancer and teacher they integrates her knowledge about these powerful themes. Ballroom culture originated in the 1970s among the underground BIPoC queer community of New York City. The first mentions of drag balls appeared in the second half of the twenthieth century; at that time they were huge shows for several thousand people. But although this was a place of integration for the queer community, it was still subject to strong racial inequalities. After some time, the black queer community decided to create balls on its own terms. Ballroom consists of categories that reflect its lived experiences through performance and dance. Voguing is a dance form that comes from improvisation; it also emerged in the community in the 1970s. Inspired by the style of ancient Egyptian hieroglyphs and the famous images of models in Vogue magazine, voguing is characterized by striking a series of poses as if one is modeling for a photo shoot. Arm and leg movements are angular, linear, rigid, and move swiftly from one static position to another. The story of voguing starts with ballroom icon Paris Dupree. “One day as he was listening to music while flipping through a Vogue magazine, he noticed the different poses that the models were doing and took them and decided to imitate those poses to music. Sometimes holding different poses to the music. He began doing this new dance at the clubs and at the balls. That is how Vogue was introduced into the ballroom scene.“ (Jamal, 2017) Voguing offers a chance for a broader exploration of gender identity and articulation of sexuality. In 2012 Bożna Wydrowska was one of the first artists who introduced this culture to the wider public in Poland by teaching classes, organizing workshops, and giving lectures. “Ballroom culture has given me not only a new chosen family but also a new perspective and strategies on examining machinery of the social relations beyond the culture. It led me to the topic of reclaiming and redefining masculinity and femininity regardless of gender and also pushed me to experiment with different images, transforming my body to become my own fantasy and that of others“, the young artist explains. In 2016 Bożna decided to start organizing balls in Warsaw into which she engaged Polish DJs and dancers as well as guests from abroad. The goal was not only to popularize the ballroom culture in Poland and the local club scene but also to create a safe space for everybody who feels excluded from society. As ballroom culture and voguing have always been a form of protest fighting against race, class, gender and sexual oppression Bożna Wydrowska has begun adopting a similar strategy in the Polish ballroom community after the intensification of homophobic and nationalist movements related to the change of the ruling party in Poland. It became a creative response to the dangers against the political and social background. After strong repressions against the Polish LGBT+ community and women's rights ballroom has become a form of performing resistance and rebellion against the system. How everyone's body can help to reshape the understanding of the world As the body itself is the basis for Bożna Wydrowska‘s artwork they interprets it as the “essential ground of human identity“. The message of the artwork achieves to have a real impact on social life: “Our bodily encounters with the physical environment shape and reshape our understanding of the world. I believe our bodies are as public and important as our thoughts and opinions. Body in motion is a powerful tool to fight against social and political oppression.“ Currently artists are facing big challenges in Poland's political situation. Artistic institutions become more and more controlled. The current censorship does not allow many young artists to speak up in the public discourse. “The consent to fascist behavior in the Polish public sphere is disturbing“, Bożna Wydrowska says. Unfortunately, especially female artists suffer from financial stress. The art market itself reproduces this poverty, often refusing to pay artists for work, or proposing really small budgets. Also the government’s subsidies for artistic activities are very small. “That is why it is so important to create bottom-up mechanisms of solidarity and mutual support, to set up cooperatives and collectives, and to enable them to join work outside institutions“, Bożna Wydrowska appeals. 27- year-old performance artist, dancer and model Bożna Wydrowska is a socio-political activist fighting against political oppression and hierarchies in Poland. The graduate of Warsaw Academy of Fine Arts expresses herself as a sometimes more fluid, sometimes more unidentified and sometimes more feminine experimental identity in a society that is controlled by a conservative party. References Amnesty Journal, 2021. Polen- Gehen oder bleiben? https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/polen-gehen-oder-bleiben (visited September 25, 2021) Hämäläinen, Janita, 2020. Dudas homophober Endspurt. Polens Präsident und sein Anti-LGBT Wahlkampf. https://www.spiegel.de/ausland/polen-im-anti-lgbt-wahlkampf-andrzej-dudas-homophober-endspurt-a- 3bb97ad3-5746-46cd-8134-84b9f1a4554c (visited September 25, 2021) BBC, 2012. Istanbul Convention: Poland to leave European treaty on violence against women. https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-53538205.amp (visited September 25, 2021)Milan, Jamal, 2017. The History of Vogue. http://www.jamalmilan.com/439287344 (visited September 25, 2021) Queer Activism, photo by Piotr KƂad Queer Activism, photo by Marta Kaczmarek

  • Issue 1 Milevska | appropriate

    Issue 1 │ ZugĂ€nglichkeit Anker 1 Accessibility, Access, and Affordance: The Amplitude of Participatory Art Suzana Milevska The issue of accessibility has been already addressed in many different discussions about the reasoning behind the phenomenon of participatory art. Accessibility together with inclusivity and democratisation of museums is regarded as one of the most pertinent motivations and goals that prompted the emergence and development of various participatory art practices that aim to induce social change. (Milevska 2016: 19–20) This essay intends to make clearer the links between the issues of accessibility, lack of access and affordance through several theoretical arguments, personal empirical observations and with one example of a participatory art project that focused on accessibility and access. I want to argue that while the hindered accessibility to art institutions is inevitably interwoven within the main rationale of participatory art practices, the lack of access to societal and political means, infrastructures and protocols is even more relevant for the emergence of participatory art, such are representation and participation in decision making via voting, deliberation, and other democratic processes. However, although the ultimate amplitude of such art projects is undisputed, I also aim to challenge the assumption that participatory art could resolve such complex socio-political, economic and gender issues by default. The fact that the aims of participatory art projects are not related to the need to openly discuss and change only art institutions and their limitations, but are also deeply rooted in the need to analyse and criticise the socio-political systemic structures and contexts underlines the challenges, contradictions and obstacles that are generated when participatory artists create participatory art which is supposedly not confined to elitist and professional goals but is yet produced within that very system. (Gregorič and Milevska 2017: 10–27) Let’s now look closer at some of these conundrums starting from Irit Rogoff’s contentious distinction between access and accessibility. Rogoff detected a certain tension between these two while aiming to clarify at least some of these contradictions and she assertively argued in favour of shifting the focus from the term accessibility towards access: For some time now I have struggled with trying to understand how we, in the art world, might be able to shift from a dictated imperative to provide accessibility to displayed culture, to another possibility, one of forging through it, some form of access to the culture at large. (Rogoff 2013: 71) In Rogoff’s view the notion of access is more productive than accessibility. According to her, accessibility rather hinders one of the key motives for trying to involve more people in the arts in the first place – to turn them into active agents in the conversations about art and culture. In part this has followed on from a democratizing impulse of inclusiveness, of trying to find ways in which ‘everyone’, regardless of origins or particularities, might have an entrĂ©e into culture. This has gone hand in hand with the politics of representation and the desire to bring into representation those who might have not seen themselves easily mirrored within mainstream or hegemonic culture. (Rogoff 2013: 71) The main reason for the need to focus on access rather than on accessibility according to Rogoff is that accessibility assumes that inclusion and representation necessarily mean ‘this kind of process by which one sees oneself and one’s identity group reflected in culture and therefore taking up a rightful place within it’ (Rogoff 2013: 71) and that it’s concerning the assumption that art needs mediation and translation because these groups seem to be undermined as they are regarded as less knowledgeable of contemporary art by default: Accessibility also assumes that beyond the politics of representation we also have a commitment to translate that which goes on outside the spaces of display directly into them – that we need to ensure, through these strategies of inclusion, translation, representation, and easy access, that our visitor numbers and visitor satisfaction measurements meet the required targets. At the heart of accessibility is the model of a client-based relationship with consumers who know what they want and can evaluate their satisfaction from it. Within such a set of relations there is no room for the unexpected, the speculative, or the seductive. (Rogoff 2013: 71) Therefore, for Rogoff the tension between accessibility and access results from the fact that the ‘first instrumentalizes the second, turning it into a simple system by which you can consume rather than experience’. (Rogoff 2013: 72) For this she blames the ‘nostalgic desire that persists through conventional opposition between creativity and institutions in a classical modernist mode’. (Rogoff 2013: 72) and continues with even harsher criticism of the instrumentalization of accessibility: While there is probably not much harm in such backward-looking approaches, they block any newly forged understanding that we are living out a complex entanglement of practices in which it is almost impossible to chart the boundaries between imagining, making, theorizing, questioning, displaying, being enthralled by, administrating, and translating. (Rogoff 2013: 72) Regardless of how convincingly Rogoff issues her calls for shifting of the paradigms through and within the work in joint experiences of the makers, displayers, and viewers and regardless of how relevant her warnings are that such shifts are entirely lost by overemphasising the calls to accessibility[1 ] , such theoretical and high-brow discussion about the semantic difference between the two terms might sound patronising and tone-deaf. Discussing the issue of accessibility with individuals and communities that struggle to gain not only accessibility but also any visibility, recognition and representation in the art context and cultural institutions would be particularly problematic. This is not the same as saying that Rogoff’s arguments are not compelling and valid for the self-indulgent art world. However, given the current institutional conditionality that is a result of the hierarchical systemic structures and the unchallenged contentious historic, material and narrative heritage all too many individuals and communities are not entitled and/or capable to join end enjoy ‘the unexpected, the speculative, or the seductive’ (Rogoff 2013: 71). Rather even if they joined the discussion could be futile and the tension between accessibility and access cannot occur simply because neither of them exists from the outset.[2 ] In this respect, what is lacking from Rogoff’s generalised analysis is the contextualisation of her critique and how the issue of accessibility differs depending on different ethnic, gender, class or other contexts such as disability, sexuality, citizenship status, etc. A more precise socio-political positioning is needed of such a critical analysis of the emancipatory potentials of art projects that focus on accessibility, and not only in cultural terms, but also in the context of education, art production, decision making of cultural policies, etc. In context of the discussion of the intertwinement and the tensions between accessibility and access due to the neoliberal crisis of identity politics and the limitations that it imposes to accidental encounters and enthusiastic relations necessary for creative artistic processes the acknowledgement of the class, ethnic and gender hierarchies that prevent such reciprocal processes from happening at first place makes Rogoff’s analysis only a one-way street and does not explain the various stages of emancipation of the different groups in need of accessibility and eventually access to art debates and production. Jacques RanciĂšre’s definition of emancipation as an ‘encounter between two heterogeneous processes’ (RanciĂšre 1995: 63) could be helpful for an understanding of the more complex but relevant tension, the one between accessibility and emancipation. The first process for RanciĂšre is the one of governance. It assumes a creation of community that relies on distribution of shares, hierarchies of positions and functions. This is what RanciĂšre calls ‘policy’. The second process is the one of equality, multitude of practices that starts from the assumption that everybody is equal and aims to prove this assumption. (RanciĂšre 1995: 63) Undoubtedly ignoring or undermining the pre-existing societal hierarchies doesn’t help and the access would be futile anyway. Therefore, the acknowledgement that there are many participatory art projects that think together the issues of accessibility and access could help in overcoming the generalised theoretical discussion about the tension between the two. (Tunali 2017: 67-75) Artists as Tania Bruguera, Tanja Ostojić, Tadej Pogačar, Alfred Ulrich, Carmen Papalia, the collectives Chto Delat, Etcetera and Assemble, or the Project Row Houses have all engaged with issues as accessibility and access to art, education, freedom of movement and citizenship in the context of different communities – e. g. refugees, sex-workers, African-Americans or Roma, homeless, etc. However, without any prejudices they also address how different socio-political contexts that determine the hierarchical relations and intersections of gender, ethnicity, sexuality, race, or capability hinder the access to otherwise available contents. Thus, accessibility and access are reciprocal and mutually co-dependent. One of the art projects that in my view addressed both aspects in a subtle and suggestible way was Dan Perjovschi’s Room Drawing from 2006 – a project that was ‘installed’ in the Members’ Room at Tate Modern.[3 ] This particular project is close to my heart not only because of its hands-on approach and potentials to reveal the existing hierarchies in different corners of the art world but also because as a PhD student in London while already being an experienced curator in my home country, North Macedonia, I’ve been experiencing these hierarchies exactly during that period (between 2001 and 2006) – and most directly and paradoxically I’ve found out that my curatorial credentials were not valid in the UK. While the openings back home were free of charge and accessible to everybody (it was the period of a slow transition between socialist and neoliberal economy, so culture was completely non-commercial) and were publicised without any privileges and hidden agendas, in London I could hardly attend any art event.[4 ] Without a special personal invitation, paid institutional membership, or expensive tickets for which the long waiting list was also an obstacle it was simply impossible to attend any official opening of an exhibition, conference, performance, etc. Thus, the unique and successful participatory effect of Perjovschi’s project, at least in my view, consisted exactly of the given opportunity to non-members to enter this elitist and prestigious membership-based ‘club’ (the single annual membership costs ÂŁ90). For the duration of the exhibition, Perjovschi turned the walls of the Members’ Room into surfaces for his renowned signature ‘murals’ – black and white graffiti consisting of many combined cartoon-like drawings and texts. Perjovschi’s project was a rare opportunity for the artist not only to meet the professionals and members of Tate Modern but also to mingle with the members of the general audience. However, even today all you can read on Tate Modern’s web site about the project is: ‘Treating the walls of Tate Modern’s Members’ Room as a blank canvas, Dan Perjovschi creates a witty, provocative and occasionally cutting social commentary, using drawing to deal with socially relevant issues. His work follows the tradition of political cartoonists’ drawings which link humorous observations of everyday life with ironic commentary.’ (https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006) No mention of the open doors of the otherwise secluded space, nor about the new protocols of communication and relationships that were forged in the course of the project.[5 ] In the centre of the discussion about accessibility and access is the urgent need to challenge the received assumption that art is not obliged to deliver truth, but it rather constructs it. Even when it aspires toward grasping certain truths art’s main role is not necessarily linked to ontology, gnoseology, epistemology, and critical thinking in general. Art rather clings to its hermeneutical, representational and creative role. Such definitions of art imply that neither art aims to reveal some kind of absolute truth, nor it is about delivering truthful facts regarding various world phenomena. The main rationale behind this argument is the paradox stemming from such a definition of art that still prevails in different contexts in contrast to the social-practice based art and the political activist art that dominate the current non-commercial art scene. According to Trenton Merricks’ critique of the theory of ‘Truthmaker’ its assumption that each truth has a truthmaker is problematic because it assumes that ‘for each claim that is true, there is some entity that, by its mere existence, makes that claim true’.[6 ] (Merricks 2007: xiii) For Merricks not each truth depends substantively on being, but rather ‘making true’ means that: x makes p true only if, necessarily, if both x and p exist, then p is true. (Merricks 2007: xiv) Merricks therefore introduces a certain ‘conditional necessitarianism’ and explores the question of whether and how the truth ‘depends on the world’. (Merricks 2007: xiii) In this respect one could conclude that truth exists and can be revealed and accessed as long as the accessibility and access to it exist for all: for the artists, the institutions and for all sorts of different audiences, either individuals or communities that are at various stages of understanding of art, and this is true regardless to how complex and opaque the meaning of art is. For various reasons, art comprises and is capable of powers that are not affordable to the state and political centres of power. I want to argue that truth as a social construct that is controlled by the societal structures of power can and should be tackled by various artistic strategies, but it takes a carefully extrapolated and targeted approach towards the stratified audiences and communities. The amplitude and affordance of art for addressing even the most uncomfortable truths about our society are relational.[7 ] (Gibson 1979: 127) It’s safe to state that the affordance of art depends on accessibility. Unfortunately, the inaccessibility of art is definitely one of these uncomfortable truths and both accessibility and access to art and its institutions should be rethought and reassessed time and again. Participatory art is definitely one of the artistic practices that aims to such reassessment and does it with bigger or lesser success. The current deceptive mechanisms that grind and shape truth on levels that were extremely difficult to anticipate and imagine in the pre-internet and pre-social networks era are mechanisms that are and have been affordable to artists by default. Moreover, by questioning the offered and received truths and by producing new truths and knowledges the participatory art and artistic research are capable of drawing relevant intersections between the ontological, epistemological and gnoseological role of art and thus redefining it. The promise of participatory art is fundamentally based on the need to surpass and overcome this misgiving between the general audience and the art world. However, while on the one hand aiming to open the art institutions towards a more profound involvement of art audiences in the process of artistic practices and productions, on the other hand such tendency towards participation can produce new distinctions and ’elites’ because of the too general invitation to the audiences in different levels of direct involvement without taking into account the multi-layered and stratified audience. Such differentiation of audiences can lead towards developing more diversified art and cultural policies among curators and art administrators but also towards a greater awareness among the ‘elitist’ museum and gallery audiences of the existence of other publics and participants. Yet the issues of access and accessibility remain fundamental for even starting to think the diverse structure of the audience exactly because the accessibility is as complex as the audiences that need the access. Suzana Milevska is a visual culture theorist and curator. Her theoretical and curatorial interests include postcolonial critique of the hegemonic power regimes of representation, gender theory and feminism as well as participatory, collaborative and research-based art practices. Currently she is Principal Investigator at the Politecnico di Milano (TRACES, Horizon 2020). From 2013 to 2015 she was the Endowed Professor for Central and South Eastern European Art Histories at the Academy of Fine Arts Vienna, where she also taught at the Visual Culture Unit of the Technical University. Milevska was Fulbright Senior Research Scholar at the Library of Congress (2004). In 2012, Milevska won the Igor Zabel Award for Culture and Theory. References Gibson, James J., 1979. The Ecological Approach to Visual Perception. Boston: Houghton Mifflin Harcourt Gregorič, Alenka and Milevska, Suzana, 2017. Inside Out: Critical Art Practices That Challenge the Art System and Its Institutions. In: Gregorič, Alenka and Milevska, Suzana (eds.): Inside-Out Critical Discourses Concerning Institutions. Ljubljana: City Art Gallery Heller, Hannah, 2017. Whiteness and Museum Education. In: Best Practices, Culture, Heritage, & Identity, Educational Environment. The Incluseum - Inclusion | Museums. December 14, 2017, https://incluseum.com/2017/12/14/whiteness-and-museum-education/ (visited 23 March 2021) McLean Ferris, Lana, 2014. Visual Cultures as Seriousness by Gavin Butt and Irit Rogoff. In: Art Review. 10 July 2014 https://artreview.com/april-2014-book-review-visual-cultures-as-seriousness-by-gavin-buttirit-rogoff/ (visited 23 March 2021) Merricks, Trenton, 2007. Truth and Ontology. Oxford: Oxford Clarendon Press Milevska, Suzana, 2018. Infelicitous: Participatory Acts on the Neoliberal Stage. In: P/art/icipate: Kulturaktiv gestalten, Vol. 7, October 2016. www.p-art-icipate.net/cms/infelicitous-participatory-acts-on-the-neoliberal-stage, pp. 19-30 (visited 23 March 2021) Perjovschi, Dan, 2006. The Room Drawing, curator: Maeve Polkinhorn, 25 March-23 June 2006, London, Tate Modern. https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006 (visited 23 March 2021) RanciĂšre, Jacques, 1995. Politics, Identification and Subjectivization. In: Rajchman, John (ed.): The Identity in Question. New York and London: Routledge Rogoff, Irit, 2013. On Being Serious in the Art World. In: Butt, Gavin and Rogoff, Irit: Visual Cultures as Seriousness. Berlin: StenbergPress Tunalı, Tijen, 2017. The Paradoxical Engagement of Contemporary Art with Activism and Protest. In: Bonham-Carter, Charlotte and Mann, Nicola (eds.): Rhetoric, Social Value and the Arts. But How Does it Work? London: Palgrave McMillan Image above and below: Dan Perjovschi, The Room Drawing, 2006, Members' Room, TATE Modern, London, 25 March-23 June, 2006, Courtesy of the artist Endnotes [1] The Art Review published a very positive, but short review of the book ‘Visual Cultures as Seriousness’ that didn’t question the contentiousness of some of Rogoff’s claims: McLean Ferris, Lana, 2014. Visual Cultures as Seriousness by Gavin Butt and Irit Rogoff. In: Art Review. 10 July 2014visited 20.03.2021 https://artreview.com/april-2014-book-review-visual-cultures-as-seriousness-by-gavin-buttirit-rogoff/ (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [2] Heller, Hannah, 2017. Whiteness and Museum Education. In: Best Practices, Culture, Heritage, & Identity, Educational Environment, The Incluseum - Inclusion | Museums. December 14, 2017 https://incluseum.com/2017/12/14/whiteness-and-museum-education/ (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [3] The short description of the project and a video recording of the talk with the artist are still accessible online: Perjovschi, Dan, 2006. The Room Drawing, curator Maeve Polkinhorn, 25 March-23 June 2006, London, Tate Modern. https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006 (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [4] Perhaps this doesn’t apply to Perjovschi as a native Romanian, but for a completely other reason: The National Museum of Contemporary Art in Bucharest is based in the Palace of the Parliament or People’s Palace – Nicolae Ceausescu’s building that is one of the largest and most guarded and inaccessible museum buildings in the world. [back to the passage in the text] [5] In one of the several emails during the correspondence I had with the artist about this project for this particular essay Perjovschi wrote: ‘Members’ Room is exclusive to the 80.000 members, but they do not come all at once [...] and it's basically a coffee shop (coffee, sandwiches and sweets and champagne) not open for everybody. And here was the deal. I asked and got permission to open the Members’ Room (5th floor I think but not sure) for everybody the whole week (except on Saturday and Sunday when usually it is full because of the splendid terrace). I had to talk with the Tate director of flux of people (can u believe it?) because of opening for the public to the floor (and elevator) reserved usually for members card holders.’ (email from Dan Perjovschi, 26 March 2021) [back to the passage in the text] [6] For a more precise definition of the concept ‘Truthmaker’ as it is defined in philosophy see: Merricks, Trenton, 2007. Truth and Ontology. Oxford: Oxford Clarendon Press. [back to the passage in the text] [7] The concept of affordance in art and culture was coined by James J. Gibson and first appeared in his 1966 book ‘The Senses Considered as Perceptual Systems’. [back to the passage in the text] Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14 Anker 15

  • Defekte Debatten und ein Piefke in Wien | appropriate!

    Eine Buchrezension von Moriz Hertel Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Defekte Debatten und ein Piefke in Wien You say „Yes“, I say “No” Eine Buchrezension von Moriz Hertel Buchcover Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten mĂŒssen , Foto: Moriz Hertel 
 sangen die Beatles 1967 und antizipierten damit den Sound der Ampelkoalition. Freilich, das ist eine Vereinfachung. Und gerade am Anfang hat die Koalition in Anbetracht des Ukrainekrieges und der Energiekrise zusammengearbeitet, um den Schaden fĂŒr Deutschland zu minimieren – am Ende hat es trotzdem geknallt. Hier und jenseits des Atlantiks. Man fragt sich jetzt: Was passiert hier eigentlich? Und vor allem: Hat das jetzt wirklich sein mĂŒssen? Und die Antwort, meinen Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel, ist „Nein“. Als die Politikwissenschaftlerin und der Journalist im September 2024 ihr gemeinsames Buch Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten mĂŒssen bei Suhrkamp veröffentlichten, kriselte es zwar in der Ampel immer deutlicher und auch die Wahl in Amerika rĂŒckte immer nĂ€her. Den Doppelwumms der anderen Art am 6. November sah aber vermutlich niemand kommen. Dass Reuschenbachs und Frenzels Überlegungen zur Debattenkultur damit umso prĂ€senter werden, ist traurig und erbaulich zugleich, denn: So lange es zwei Menschen gibt, die ihren Mund aufmachen, lĂ€sst es sich vorzĂŒglich streiten. Angesichts der gravierenden Differenzen der Ampelparteien wĂ€re es vermessen zu behaupten, die Ampel sei an der Debattenkultur gescheitert. Auf der anderen Seite fehlt es Deutschland jedoch vielerorts an einer angemessenen Streitkultur – Redebedarf gibt es genug, es scheint nur keine verbindliche Form mehr zu existieren. Reuschenbach und Frenzel liefern mit ihrem Buch einen guten Überblick: Aufmerksamkeitsökonomie, GrundsĂ€tzlichkeit, Populismus, Machtspiele, soziale Medien und andere Themen werden problematisiert und zusammengefĂŒhrt. So ĂŒberrascht es dann nicht, dass die beiden den Status quo einer egoistischen, nicht wohlwollenden, stark polarisierten Debattenkultur skizzieren. Aber irgendwie kommt einem das bekannt vor, und in dieser Diagnose, das schreiben sie auch, sind wir uns ja grundlegend einig. Wer dieses „wir“ allerdings genau ist, bleibt stets unbeantwortet. Aus diesem Grund kann das Buch auch nicht mehr sein als ein Ideengeber oder Arbeitsheft. Es scheint, als stĂŒnde hinter diesem „wir“ immer noch der Geist des HabermasÂŽschen BĂŒrgertums, mĂŒndig und rational, das sich mittels öffentlicher Medien und anderer Produktionsmittel vom Feudalismus emanzipierte. Wo aber bei Habermas die Binnendifferenzierung von sprachlichem Kapital und damit der WĂ€hrung des Diskurses fehlt, fehlt sie dann auch bei Reuschenbach und Frenzel. Produktiver wĂ€ren Einzelanalysen der Felder Politik, Medien und persönliche Begegnung, mit anschließender Bezugnahme aufeinander. Dass das in einem immerhin 300-seitigen Sachbuch nicht einmal skizziert wird, ist schade. Stattdessen liest man zwischen den Zeilen immer wieder einen sensus communis heraus: Alle sind unzufrieden, alle wissen es, keiner weiß, was er machen soll. Meine gekĂŒrzte Interpretation aus 300 Seiten: im Streit besser zuhören, die eigene Fehlbarkeit erwĂ€gen, grundsĂ€tzliche Haltungen relativieren lernen und kompromissbereiter sein. Es geht darum, Ambivalenzen auszuhalten. You say „Yes“, I say „Well, maybe“. Was hier als Allgemeinplatz oder Basiswissen-Grundschul-pĂ€dagogik daherkommt, ist den Autor:innen jedoch nicht unbedingt zur Last zu legen. Die Krise der Debattenkultur, so lese ich Hartmut Rosa, ist nĂ€mlich viel mehr das Symptom einer Demokratiekrise, die sich vor allem dadurch Ă€ußert, dass „Welt und Zukunft [
] unter den herrschenden Bedingungen kaum politisch gestaltbar [sind]“, weil „die Lebenswelt verĂ€ndernden Imperative struktureller und systemischer Natur sind“ (Rosa 2019: 175). Das gilt natĂŒrlich vor allem fĂŒr die „einfachen“ BĂŒrger, die weder dem Feld der Medien noch der Politik angehören. Aber auch Reuschenbach und Frenzel haben trotz ihrer medialen Stellung nur bedingt Einfluss – Stichwort: Binnendifferenzierung. Die Frage verschĂ€rft sich also: Was soll man denn tun, wenn die defekte Debattenkultur Nebenkriegsschauplatz einer Demokratiekrise ist, in der selbst Akteur:innen des medialen Establishments die Probleme „nur“ zusammenfĂŒhren und verstĂ€ndlich machen können? Und ferner: Welchen Beitrag kann die Kunst leisten? Die Antwort: Die Kunst hat ihn schon exemplarisch geleistet. Und daraus lassen sich Imperative demokratischen Handelns ableiten. Als sich im Jahr 2000 die Österreichische Volkspartei (ÖVP) auf eine Koalition mit der wegen Fremdenfeindlichkeit in der Kritik stehenden Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) einließ, baute Christoph Schlingensief im Rahmen der Wiener Festwochen neben der Staatsoper ein Containerdorf auf, das Asylsuchende beherbergte, die im Stil von Big Brother ĂŒberwacht wurden und per Anruf rausgevotet, d.h. abgeschoben werden konnten. Auf den Containern thronte ein Banner mit dem Schriftzug „AuslĂ€nder raus“. NatĂŒrlich wurden die Asylsuchenden nicht wirklich von den Österreicher:innen abgeschoben. Im Laufe der Woche wurde der Aktion jedoch immer mehr Aufmerksamkeit zuteil, und Diskussionen und Streit ĂŒber die Aktion und die Asylpolitik Österreichs brachen sich Bahn. Dabei nahm Schlingensief jedoch ebenso wenig Einfluss auf die Institutionen, wie die versammelten BĂŒrger:innen auf die Institution Schlingensief Einfluss nehmen konnten. Das lag vor allem daran, dass Schlingensief selbst nie wissen konnte, was passierte. Er schuf zwar eine Ausgangs-situation und ein loses Programm, die Reaktionen der Politik und der österreichischen BĂŒrger:innen konnte er aber nicht absehen. Mark Siemons (2000: 120) beschreibt diesen Umstand mit dem Begriff Selbstprovokation: die Notwendigkeit, sich durch das Entsagen eines klaren Zieles und einer festen Strategie immer wieder herauszufordern. Die Aktion wurde dadurch mehr als eine plumpe Provokation, die zwei Konfliktparteien herstellt. Was heißt es fĂŒr Österreich, wenn Schlingensief behauptet, die Forderungen der FPÖ nur in die RealitĂ€t umzusetzen? Und was, wenn eine linke Demo das Containerdorf stĂŒrmt, um die Asylsuchenden zu befreien, diese sich aber vor ihnen fĂŒrchten und gar nicht befreit werden wollen? Wo Felder moralischer Redlichkeit klar abgesteckt sind, fĂ€llt eine Positionierung in der Regel. leicht. Wo der Zweifel herrscht, treibt er den Diskurs. Indem Schlingensief nach Selbst-aussage im Handumdrehen das realisiert, was die FPÖ fordert, ĂŒberfordert er damit natĂŒrlich die Bevölkerung, weil der ĂŒbliche Ablauf von Diskussion, Kompromiss, Realisierung außer Kraft gesetzt ist. Es ist ein Quasi-Szenario: „Die FPÖ ist in der Regierung, hierfĂŒr steht die FPÖ, verhaltet euch dazu.“ Man kann sich der Aktion also nicht entziehen, denn auch Entzug ist eine Haltung: die Entscheidung, wegzuschauen. Wo bei Reuschenbach und Frenzel von „man“ und „wir“ die Rede ist, ist es bei Schlingensief konkret die österreichische Bevölkerung. Das bedeutet, dass dort vor den Containern nicht nur ein Metadiskurs gefĂŒhrt wird, es handelt sich im Gegenteil um die Keimzellen demokratischer Handlungsmacht: den öffentlichen Austausch, die Bildung öffentlicher Meinung(en) und dann auch deren Ableitung zu demokratischem Handeln. Gerade deshalb sehe ich Schlingensiefs Aktion von so zentraler Bedeutung fĂŒr die Debatten-kultur und die Demokratie. Wir mĂŒssen nicht noch mehr darĂŒber reden, wie wir besser miteinander reden, wir mĂŒssen es machen. You say „Yes“, I say „No, because
“ Literatur Rosa, Hartmut, 2019. Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung. In: Hanna Ketterer, Karina Becker (Hrsg.), Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, S. 160–188. Berlin: Suhrkamp. Siemons, Mark, 2000. Der Augenblick, in dem sich das Reale zeigt: Über Selbstprovokation und Leere. In: Matthias Lilienthal (Hrsg.), Schlingensiefs „AuslĂ€nder raus“: Bitte liebt Österreich, S. 120–127. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Moriz Hertel , geboren 1998 in Bamberg, studiert Kunstwissenschaft im Master und Freie Kunst im Diplom. In seiner Arbeit befasst er sich aktuell mit Olfaktorik und performativen Praktiken. 01

  • Greifbarkeiten – Gedanken zu Ritualen in Kunst und Kunstvermittlung | Issue 4 | appropriate!

    Maja Zipf Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstvermittlung in der Praxis Maja Zipf Kreatives Arbeiten im Workshop / Auseinandersetzung mit dem Thema Widerstand durch Papier/Material. © Maja Zipf 2022 Freies Arbeiten im Workshop / Schulklasse im Workshop, © Maja Zipf 2023 Kunstvermittlung im öffentlichen Raum © Maja Zipf 2023 „Wieso soll ich das denn jetzt kaputt machen?“ fragte mich Lena mit großen Augen. Lena hatte mit ihrer Schule einen Ausflug in den Kunstverein WolfenbĂŒttel gemacht und befand sich in einem meiner Workshops ĂŒber die gezeigte Ausstellung „Eigentum und Sicherheit“ von Nadine Fecht. Sie saß an einem Tisch und vor ihr lagen verschiedene Papiere und Pappen, Scheren, Bleistifte und Cutter. Die SchĂŒler:innen waren dazu eingeladen sich dem Thema Widerstand anzunĂ€hern. Sie konnten beispielsweise ausprobieren, wie nachgiebig oder robust ein Material ist, wie sich Widerstand anfĂŒhlt oder welche eigenen WiderstĂ€nde in einem vorhanden sein können, wenn etwas absichtlich zerstört wird. Lena wirkte irritiert. Als Kunstvermittlerin fragte ich mich, wie ich mit Lenas Frage umgehen werde. Die Situation mit den SchĂŒler:innen zeigte mir mal wieder, wie eng unser Bildungssystem gestrickt ist und wie wenig Spielraum fĂŒr Experimente in den Schulen existiert. In der Schule sind wir es gewohnt, nach vorne zur Tafel zu schauen, einer Stimme zuzuhören, die uns erklĂ€rt was richtig und was falsch ist. Es werden Aufgaben gestellt, Abgabetermine festgesetzt und Zensuren verteilt. Neben dem affirmativen Unterricht sollen Gruppenaufgaben, Referate und Projekte einen Ausgleich darstellen. Aber eins haben all diese Lernformen gemeinsam, nĂ€mlich den klaren Arbeitsauftrag, den Erwartungshorizont und die Zensur am Ende. Dadurch wird den SchĂŒler:innen stark vorgegeben, was gemacht werden soll. Solche MachtverhĂ€ltnisse existieren nicht nur in den Schulen, wie beispielsweise die Hierarchie zwischen Lehrer:innen und SchĂŒler:innen, sondern auch in der Kunst, in den Museen und in der Kunstvermittlung selbst. Umso wichtiger ist eine emanzipierte und kritische Kunstvermittlung, die solche impliziten MachtverhĂ€ltnisse widerspiegelt und kritisch hinterfragt. Auch in meiner eigenen Praxis erlebe ich hĂ€ufig implizite Machtverteilungen. Vor allem in Workshops mit SchĂŒler:innen, die durch die Schule einen affirmativen Unterricht gewohnt sind. Durch das Verhalten der SchĂŒler:innen wird deutlich, dass diese davon ausgehen, dass ich als Vermittlerin eine höhere Machtposition habe, da ich den Workshop anleite. Doch genau solche Rollenverteilungen dĂŒrfen hinterfragt und gebrochen werden. Denn in einer kritischen Kunstvermittlung spielt nicht die vermittelnde Person oder ausschließlich die Kunst eine zentrale Rolle, sondern alle Beteiligten. Durch gemeinsames reflektieren, erfahren und sich austauschen können sowohl die SchĂŒler:innen, als auch die Vermittler:innen zu neuen DenkanstĂ¶ĂŸen gelangen. Unsere Möglichkeiten zu Lernen sind vielfĂ€ltig. Selbstbestimmte Herangehensweisen, die eigenen Erfahrungen und ein spielerischer Umgang sind ebenso wichtig, wie die ErklĂ€rungen im Frontalunterricht. Der Mensch lernt durch beobachten, ausprobieren und Fehler machen. In der Schule bezieht sich unser Lernen vor allem auf das „was“ und nicht auf das „wie“ (Gompertz, 2016, S. 201). Lernen scheint fĂŒr die Wiedergabe von Wissen zu stehen und sich weniger mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das Lernen gelernt werden kann. Die Folgen sind ein zu hohes Lernpensum und ein Verlust an Neugierde, SpontanitĂ€t und FlexibilitĂ€t. So saß Lena da und ich versuchte sie zu motivieren sich dem Thema anzunĂ€hern. Ich setzte mich neben sie und fragte, was genau sie gerade schwierig findet. Als Kunstvermittlerin benutze ich gerne die Frage als Möglichkeit ein GesprĂ€ch zu eröffnen. Wenn jemand eine Frage stellt, wird im besten Fall nach einer Antwort gesucht. Durch dieses Suchen wird die Urteilsbildung angeregt. Es braucht dabei nicht immer eine klare Antwort. Allein die eigenen Überlegungen oder die Feststellung, dass man sich unsicher ist, können aufschlussreich sein und zu neuen Erkenntnissen fĂŒhren. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage wird sich einem Sachverhalt angenĂ€hert. Die Kunstvermittlung versucht dem Individuum einen gedanklichen Raum zu eröffnen, in dem beispielsweise eigene ZugĂ€nge zu einer kĂŒnstlerischen Arbeit thematisiert werden. Neben dem spielt Ă€sthetische Bildung eine relevante Rolle fĂŒr die Kunstvermittlung. Ästhetische Bildung beschreibt vereinfacht gesagt ein sinnlich orientiertes Wahrnehmen und Deuten von Wirklichkeit (Schiefer 2006, S. 11). Somit beschreibt die Vermittlung von Ă€sthetischer Bildung einen Gegenpol zu einem rein logischen und begrifflich orientierten Weltzugang. Ästhetische Bildung verstĂ€rkt nicht nur die SensibilitĂ€t des Individuums, sondern auch die KreativitĂ€t, FantasiefĂ€higkeit und die eigene Urteilsbildung, die wiederum einen Einfluss auf die IdentitĂ€tsbildung haben kann (Schiefer 2006, S. 17). Dementsprechend wird in der Kunstvermittlung nicht nur der Inhalt einer kĂŒnstlerischen Arbeit thematisiert, sondern auch die Frage was das Individuum sehen, wahrnehmen und fĂŒhlen kann. Die Frage: „Was hat diese Arbeit mit mir zu tun?“ kann helfen individuelle ZugĂ€nge zur kĂŒnstlerischen Arbeit herzustellen. In meiner Praxis wird deutlich, dass die GeschmĂ€cker und Ansichten ĂŒber Kunst nicht unterschiedlicher sein können. Daher spielt Kommunikation und Partizipation eine entscheidende Rolle. Denn durch einen gemeinsamen und kritischen Diskurs ĂŒber Kunst, können wir aufgrund unserer unterschiedlichen Meinungen, GeschmĂ€cker und Erfahrungen voneinander lernen und profitieren. Lena antwortete: „Ich weiß nicht, was genau ich jetzt machen soll und verstehe den Sinn dahinter nicht. Das ist komisch?“ Ich sagte zu ihr, dass diese GefĂŒhle, die sich in ihr eröffnen, die ersten Schritte sein können sich dem Thema Widerstand anzunĂ€hern. Sie kann selbst gerade erleben, dass sie WiderstĂ€nde in sich spĂŒrt. Irritation kann eine Chance sein neue EindrĂŒcke zu bekommen. Die daraus resultierenden AnstĂ¶ĂŸe, Anregungen und Impulse, können zu einer Erweiterung der eigenen Vorstellungskraft fĂŒhren (Schiefer 2006, S. 12). Durch ungewohnte Situationen können wir uns selbst auf eine bisher unbekannte Art und Weise erleben. Durch den Abgleich zwischen dem Subjekt und den Ă€ußeren EinflĂŒssen entsteht die Frage „Wer bin ich im VerhĂ€ltnis zum Anderen, zum Fremden, zum Neuen etc.?“. Dabei ist die Reflexion der eigenen Wahrnehmung ein wichtiger Bestandteil, um die persönliche Urteilsbildung anzuregen (Schiefer 2006, S. 12). Lena wirkte etwas verdutzt, als sie feststellte, dass sie wirklich diesen Widerstand in sich fĂŒhlte. Ich bot ihr an, die GefĂŒhle, die in ihr ausgelöst wurden zum Ausdruck zu bringen und erklĂ€rte ihr, dass sie jetzt die Möglichkeit hat etwas auszuprobieren, was sie sonst nicht tun wĂŒrde. In einem Nebensatz sagte ich zu ihr: „Mach dir keine Sorgen, es gibt hier keine Noten und auch kein richtig oder falsch.“ In den Workshops mit SchĂŒler:innen wird deutlich, dass der freie Umgang mit Kunst zu neuen Perspektiven ĂŒber einen selbst und der eigenen Umgebung fĂŒhren kann, die losgelöst sind von den MaßstĂ€ben, Regulatorien und Zensuren des Schulbetriebes. Neben der Frage, was die Kunstvermittlung vermitteln soll, steht immer auch die Frage im Raum wie eine erfolgreiche, kritische Kunstvermittlung gestaltet werden kann. In meinem zweiten Beispiel thematisiere ich das Potenzial von Kunst im öffentlichen Raum und der damit einhergehenden Vermittlung. In meinem Praktikum im Kunstverein WolfenbĂŒttel habe ich die Ausstellung KiöR- Bestandaufgabe als Kunstvermittlerin begleitet. In dieser Ausstellung haben regionale KĂŒnstler:innen unterschiedliche PlĂ€tze innerhalb und außerhalb der Stadt WolfenbĂŒttel bespielt. Das Thema der Ausstellung bezog sich auf die Frage, wie mit alten BestĂ€nden umgegangen wird, wie neuer Bestand entstehen kann und wie die KĂŒnstler:innen die Stadt widerspiegeln. Neben dem Vorteil, dass der Außenraum wĂ€hren der Covid-19 Pandemie eine gute Möglichkeit darstellte Kunst zu rezipieren, wollte der Kunstverein auch Menschen erreichen, die sich sonst weniger fĂŒr Kunst interessieren. FĂŒr die Ausstellung KiöR wurden KĂŒnstler:innengesprĂ€che und Workshops angeboten. ZusĂ€tzlich sollten Kunstvermittler:innen sich bei ausgewĂ€hlten Orten platzieren und versuchen mit den vorbeikommenden Menschen ins GesprĂ€ch zu kommen. Ausgestattet mit einem beschrifteten T-Shirt, ein paar Flyern und StadtplĂ€nen ging ich zu meiner Tagesstation, die in einem kleinen Stadtpark lag. Als ich dort ankam wusste ich nicht, wie ich mich am besten platzieren sollte. Die kĂŒnstlerische Arbeit stand auf einer Wiese, die hinter ein paar BĂŒschen und BĂ€umen versteckt lag. Um die Arbeit betrachten zu können, musste erst einem kleinen Weg gefolgt werden. Die zweite Möglichkeit bestand darin weiter in den Park zu gehen und von einer BrĂŒcke aus auf die kĂŒnstlerische Arbeit zu schauen. Der Nachteil daran war, dass die Arbeit dann nur aus der Distanz betrachtet werden konnte. So musste ich mich zwischen diesen beiden Positionen entscheiden, die ihre Vor- und Nachteile beinhalteten. Ich entschied mich fĂŒr den kleinen Weg, in der Hoffnung ein paar Menschen zu motivieren sich die gezeigte Arbeit von Nahem anzuschauen. Neben der Frage nach einer geeigneten Platzierung, war auch meine Sichtbarkeit schwierig. Da wir keine StĂ€nde oder Tische hatten, musste das bedruckte T-shirt ausreichen, um meine Funktion als Kunstvermittlerin erkennbar zu machen. Die Flyer legte ich auf die Erde. In diesem Moment fĂŒhlte ich mich wenig professionell. So stand ich am Wiesenrand und wartete darauf, dass Leute vorbeikamen. Nach einer Weile fuhren ein paar Fahrradfahrer:innen vorbei, die ich natĂŒrlich nicht anhalten konnte. Es folgten SpaziergĂ€nger:innen, die allerdings hĂ€ufig in einem GesprĂ€ch vertieft waren, wodurch sich bei mir Hemmschwellen aufbauten. Ich wollte nicht unhöflich sein und die Menschen in ihrem GesprĂ€ch unterbrechen. Dazu kam, dass die kĂŒnstlerische Arbeit nicht direkt gesehen werden konnte, was es zusĂ€tzlich schwieriger machte die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Es wurde deutlich, dass ich die Initiative ergreifen musste, um ein GesprĂ€ch zu initiieren. Am besten gelang es mir Personen anzusprechen, die neugierig schauten. Dann fragte ich sie, ob sie von der aktuellen Ausstellung KioR vom Kunstverein WolfenbĂŒttel gehört hĂ€tten. Mit einigen ging ich anschließend gemeinsam zur Wiese um die kĂŒnstlerische Arbeit zu betrachten. Anderen gab ich nur ein paar Informationen zu den bespielten PlĂ€tzen in der Stadt und verwies auf den Kunstverein. Im Kontrast zu der Situation im Park war die Vermittlung in der Stadt eine ganz andere. Am nĂ€chsten Tag stand ich in der NĂ€he des Stadtzentrums direkt neben der kĂŒnstlerischen Arbeit. Dort traf ich Menschen, die etwas von der Ausstellung gehört hatten und sich diese bewusst ansehen wollten. Durch das Interesse der Besucher:innen war es einfacher ein GesprĂ€ch zu eröffnen. Ein interessanter Aspekt des KiöRs war die Tatsache, dass Hemmschwellen nicht nur bei den Betrachter:innen abgebaut werden mussten, sondern auch bei den Vermittler:innen selbst. Im Kontrast zur Kunstvermittlung im Museum braucht die Vermittlung im öffentlichen Raum andere Herangehensweisen. Im Museum mĂŒssen die Kunstvermittler:innen nicht spontan Personen ansprechen, wodurch Momente der Störung entstehen, sondern kommunizieren mit einer Gruppe, die sich im Vorfeld fĂŒr eine FĂŒhrung oder Ă€hnliches entschieden hat. Das impliziert eine bewusste Entscheidung und Erwartungshaltung von den Besucher:innen und schafft somit den Rahmen fĂŒr einen Diskurs. Trotz der HĂŒrde ein GesprĂ€ch zu eröffnen, bekommt die Kunstvermittlung in der Konstellation vom KiöR eine Chance, genau die Menschen zu erreichen, die sich sonst wenig bis gar nicht aus sich heraus fĂŒr Kunst interessieren und nur zufĂ€llig an einer kĂŒnstlerischen Arbeit vorbei kamen. Durch diese SpontanitĂ€t können beispielsweise mögliche SchwellenĂ€ngste ĂŒberwunden werden. Es gibt keine Eintrittskosten, keine einschĂŒchternde GebĂ€ude und kein fein gekleidetes Personal. Dazu kann Kunst im öffentlichen Raum teilweise berĂŒhrt oder verĂ€ndert werden und spiegelt gesellschaftliche Prozesse wider. Es können Anregungen fĂŒr ein GesprĂ€ch mit Freunden und Familie entstehen, die wiederum zu neue Perspektiven und Gedanken fĂŒhren. Kunst im öffentlichen Raum ist ein mĂ€chtiges Werkzeug um MissstĂ€nde zu visualisieren, Orte zu verĂ€ndern und dadurch einen Einfluss auf den Alltag vieler Menschen zu haben. Kunst im öffentlichen Raum ist nicht nur fĂŒr ein fachspezifisches Publikum da, sondern fĂŒr all diejenigen, die sich damit beschĂ€ftigen wollen. Egal, wo wir der Kunst begegnen, entscheidend ist unsere eigene Haltung zu ihr. Der Mehrwert von Kunst und Kunstvermittlung wird erst erfahrbar, wenn wir die Bereitschaft haben uns der Kunst zu öffnen und uns mit ihr auseinandersetzen. Durch eine kritische Kunstvermittlung können wir uns der Kunst annĂ€hern und existierende, implizite Machtverteilungen hinterfragen und neu verhandeln. So kann ein Status Quo einer kritisch, emanzipierten Kunstvermittlung etabliert werden, die durch die Partizipation der Beteiligten geprĂ€gt wird. Kunstvermittlung tritt in Interaktion mit den Beteiligten und schafft verbindende Erlebnisse, die wiederum Einfluss haben können auf die subjektiven Empfindungen und Gedanken ĂŒber und zur Kunst. Referenzen (1) Gompertz, Will: „Denken wie ein KĂŒnstler: Wie Sie Ihr Leben kreativer machen.“ Dumont, 2016. (2) Schiefer Ferrari, Markus, Kirchner Constanze, and Spinner, Kaspar H.: „Ästhetische Bildung und IdentitĂ€t.“ Kontext KunstpĂ€dagogik Band 8, 2006. Maja Zipf ist KĂŒnstlerin und Kunstvermittlerin. In ihrer kĂŒnstlerischen Arbeit arbeitet sie multimedial mit dem Schwerpunkt auf Video und Malerei. Thematisch beschĂ€ftigt sie sich mit Körper(idealen), Selbstoptimierung und der Visualisierung von GefĂŒhlszustĂ€nden. Neben dem Studium an der HBK Braunschweig bei Wolfgang Ellenrieder, begleitet sie Workshops und Ausstellungen im Kunstverein WolfenbĂŒttel. 1

  • Editorial | Issue 4 | appropriate!

    Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Editorial Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis Obwohl die Gegenwartskunst nach Autonomie strebt und ĂŒber weite Strecken liberale Positionen vertritt, ist der globalisierte Kunstbetrieb von den vorherrschenden gesellschaftlichen MachtverhĂ€ltnissen nicht ausgenommen. Sowohl Kunstschaffende, Kunstausstellende, Kunstvermittler:innen, Kunstkritiker:innen als auch Kunstrezipient:innen sind von Neoliberalismus, Diskriminierung und ungleichen ökonomischen VerhĂ€ltnissen in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Innerhalb von und zwischen diesen Gruppen existieren AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnisse und die Akteur:innen sind gezwungen, sich in diesem komplexen Wechselspiel der Macht zu bewegen und zu positionieren. Entscheidungen ĂŒber die Verteilung von und den Zugang zu Mitteln im Kunstbetrieb – wie beispielsweise die Vergabe von Stiftungsförderungen und Stipendien, öffentliche und private AnkĂ€ufe von Kunst – oder auch die Kunstvermittlung in Bildungsinstitutionen wie Schulen oder UniversitĂ€ten sind als zentrale Faktoren dafĂŒr (mit-)verantwortlich, wer welche Kunst machen kann und welche Kunstpraktiken sich etablieren können. Aus diesem Grund ist es wichtig, in Projekten, Institutionen und Ausstellungssituationen zu reflektieren, wer in welcher Position agiert, und zu fragen, unter welchen UmstĂ€nden diese Positionen verĂ€ndert oder erweitert werden sollten. Was passiert, wenn etwa KĂŒnstler:innen zu Kurator:innen oder Kunstvermittler:innen/Kurator:innen zu KĂŒnstler:innen werden? Welche Möglichkeiten, aber auch welche neuen MachtverhĂ€ltnisse resultieren daraus? Die Machtanalysen des französischen Philosophen Michel Foucault und der Literatur, die seine AnsĂ€tze weiterfĂŒhrt, haben die Konzeptkunst, institutionskritische Kunst und kritische Kunstvermittlung maßgeblich beeinflusst. Macht wird als etwas begriffen, das sich einer eindeutigen Definition entzieht, prozesshaft wirkt und in der Gesellschaft zirkuliert. Das bedeutet: Die Individuen einer Gesellschaft haben nicht einfach mehr oder weniger Macht, sondern sie sind dazu gezwungen, Macht auszuĂŒben und diese zur selben Zeit zu erfahren. Das Machtverhalten einer Person, Gruppe oder Institution ist demnach keine individuelle Praxis mehr, sondern das Produkt und der Ausdruck eines Diskurses. Sprache selbst wird zu einer diskursiven Praxis und jede:r kann in sie und durch sie in vorherrschende MachtverhĂ€ltnisse eingreifen. In heutigen identitĂ€tspolitisch geprĂ€gten Diskursen bleibt jedoch die Frage offen, ob ein rein diskursives MachtverstĂ€ndnis tatsĂ€chlich ausreichend ist, um politisch etwas zu bewegen. Wenn etwa die konkrete Umverteilung von Macht und ökonomischen Mitteln in einer Institution angestrebt wird, dann mĂŒssen die engagierten Akteur:innen die „akademische Komfortzone” verlassen und meist auch ein persönliches Risiko eingehen, damit das jeweilige Ziel erreicht werden kann. Politisches Engagement kann schließlich auch zu einer Verschlechterung der eigenen Situation fĂŒhren und politische KĂ€mpfe erfordern von den Akteur:innen Durchhaltevermögen. KĂ€mpfe gegen Diskriminierung ziehen sich meist ĂŒber mehrere Generationen. In diesem Issue des Webjournals „appropriate!“ werden deshalb auch historische KĂ€mpfe gegen Rassismus thematisiert und welche Bedeutung sie fĂŒr den Aktivismus von heute haben. Insgesamt neun BeitrĂ€ge beschĂ€ftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Thema Machtverhalten. Unter anderem wurden zwei GesprĂ€che gefĂŒhrt, die sich mit der documenta fifteen befassen: Die letzte documenta wurde erstmals von einem Kollektiv, der indonesischen Gruppe ruangrupa, kuratiert, die mit lumbung eine neue kuratorische und kĂŒnstlerische Praxis in den Fokus der Weltöffentlichkeit rĂŒckte. Ziel war es, neue Verteilungsmodelle von Ressourcen einzufĂŒhren, die SolidaritĂ€t zwischen allen beteiligten KĂŒnstler:innen zu stĂ€rken und Sichtbarkeit fĂŒr kĂŒnstlerische Positionen des globalen SĂŒdens zu schaffen. DarĂŒber, ob diese Ambitionen erfolgreich umgesetzt wurden und wertvolle Perspektiven fĂŒr Möglichkeiten der Umgestaltung von Kunstinstitutionen und Machtstrukturen liefern, haben Lena Götzinger und Mahlet Wolde Georgis mit dem KĂŒnstler Dan Perjovschi gesprochen, der in seiner eigenen Praxis politische, institutionelle und soziale Machtstrukturen reflektiert und auf der documenta fifteen ausstellte. Anna DarmstĂ€dter und Julika Teubert sprachen mit Nick Schamborski, ehemalige:r sobat, ĂŒber den Konflikt zwischen dem Konzept ruangrupas und den durch die documenta gGmbH vorgegebenen Rahmen- und Arbeitsbedingungen der sobat-sobat genannten Kunstvermittler:innen auf der documenta fifteen. Außerdem sprachen sie darĂŒber, wie sich die organisierten sobat-sobat das lumbung-Konzept aneigneten. Schließlich teilte Nick Schamborski mit uns Gedanken und Ideen dazu, wie sich die Situation fĂŒr Kunstvermittler:innen auf zukĂŒnftigen Ausstellungen verbessern ließe. Im Praxisteil finden sich drei BeitrĂ€ge, die in unterschiedlichen Kontexten Aspekte von Machtverhalten untersuchen. Maja Zipf beschĂ€ftigt sich aus ihrer Erfahrung als Kunstvermittlerin mit der Frage, wie sich nicht nur mittels kritischer Kunstvermittlung der Kunst Ă€sthetisch angenĂ€hert werden kann, sondern auch wie existierende, implizite Machtverteilungen im Kunstbetrieb hinterfragt und ĂŒber die BeschĂ€ftigung mit Kunst neu verhandelt werden können. Rituale können fĂŒr Nicola Feuerhahn Formen von SelbstermĂ€chtigung sein. In ihrem Text, der von Ritualen in der Kunst und ihrer Vermittlung handelt, untersucht sie, wie Wertesysteme und Machtzuschreibungen ein StĂŒck weit unabhĂ€ngig vom strukturell Vorgegebenen gemacht werden können. Lennart Koch und Esra von Konatzki berichten von einer kollaborativen Fotoarbeit und einer in diesem Kontext konzipierten Ausstellung, die in BĂŒrorĂ€umen des Kunstvereins Braunschweig zu sehen sein wird. Durch das Einbeziehen von vertraulichem Archivmaterial des Kunstvereins bilden sie einen Dialog zwischen dem Objekt und dem Ort der Ausstellung und untersuchen diese Partner auf ihre jeweiligen Inhalte und VerhĂ€ltnisse. Das Private und das Öffentliche im Kontext von ProfessionalitĂ€t, Arbeitsumfeld und der DiversitĂ€t von Macht stehen dabei im Fokus ihrer Analyse. Neben einer Besprechung der vor Kurzem von den sobat-sobat der documenta fifteen herausgegebenen Publikation „Ever Been Friendzoned by an Institution?” finden sich in dieser Ausgabe drei GastbeitrĂ€ge: von Johanna Franke und Katrin Hassler, von Araba Evelyn Johnston-Arthur sowie von Isabel Raabe. Johanna Franke und Katrin Hassler untersuchen in ihrem gemeinsamen Textbeitrag geschlechts- und herkunftsabhĂ€ngige MachtverhĂ€ltnisse im Kunstfeld anhand der empirischen Auswertung von Statistiken zur Vergabe dreier renommierter deutscher Museumspreise. Dabei decken sie nicht nur bemerkenswerte Geschlechterasymmetrien auf, sondern ermitteln außerdem, wie intersektionale VerschrĂ€nkungen zwischen Geschlecht, Herkunft und dem Aufenthaltsort von KĂŒnstler:innen die Vergabe von Kunstpreisen beeinflussen. Die Autorin Araba Evelyn Johnston-Arthur bezieht sich in ihrem Beitrag auf ihre Forschungen zu den antikolonialen WiderstĂ€nden im postnazistischen Österreich, die antikoloniale Rassismuskritik von PASUA (Pan African Students Union of Austria) und ihrer Vorsitzenden Unokanma Okonjo, die bereits in den frĂŒhen 1960er-Jahre aktiv war, und darauf, wie diese KĂ€mpfe ihre eigene Arbeit und aktivistische Praxis bereichern bzw. wie historische antirassistischen KĂ€mpfe in Wien in der Gegenwart weitergefĂŒhrt werden können. Isabel Raabe schreibt darĂŒber, welche Rolle die Dekolonisierung von Wissen spielt, um kolonial geprĂ€gte eurozentristische, weiße Machtstrukturen aufzubrechen. Dabei spricht sie unter anderem ĂŒber das von ihr mit initiierte Projekt „TALKING OBJECTS – Decolonizing Knowledge“, das nach dem Prinzip der PolyperspektivitĂ€t von einem Team aus Senegal, Kenia und Deutschland kuratiert wird. Sie erklĂ€rt, wie epistemische Gewalt von Museen und Institutionen in Europa ausgeĂŒbt wird, und widmet sich der Frage, was es braucht, um die herrschenden MachtverhĂ€ltnisse zu ĂŒberwinden. Die Redaktion des Issue 4: Machtverhalten setzt sich zusammen aus: Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis Lena Götzinger, geboren 1999 in Wolfsburg, ist seit 2020 Studentin der Freien Kunst sowie der Kunstvermittlung an der HBK Braunschweig und seit Issue 4 Teil der appropriate!-Redaktion. WĂ€hrend ihrer Schulzeit verbrachte sie ein Jahr als AustauschschĂŒlerin in den USA und absolvierte nach ihrem Abschluss ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Projekt "FĂŒr Demokratie Courage zeigen”. Paula A. Knust Rosales, geboren 1998, studiert Freie Kunst, aktuell in der Klasse der Professorin Natalie Czech sowie Kunstvermittlung bei Professor Martin Krenn. Seit der zweiten Ausgabe des „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“ ist sie bestĂ€ndiges Mitglied der Redaktion. Martin Krenn, PhD, geboren 1970 in Wien, ist KĂŒnstler, Kurator und Professor fĂŒr freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig sowie Dozent im Vienna Master of Arts in Applied Human Rights an der UniversitĂ€t fĂŒr angewandte Kunst Wien. Krenn verschrĂ€nkt in seiner Praxis Kunst mit sozialem Engagement. Seine dialogischen Vermittlungsprojekte, Fotoarbeiten und Filme widmen sich schwerpunktmĂ€ĂŸig der Rassismuskritik sowie der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. Er ist Herausgeber diverser Kunstpublikationen und Autor zahlreicher Texte zu sozialer Kunst und Kunstvermittlung. Julika Teubert, geboren 1995 in Berlin, ist sowohl KĂŒnstlerin als auch Kunstvermittlerin und studiert aktuell Freie Kunst bei der Professorin Isabel Nuño de Buen sowie Kunstvermittlung bei Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig. Sie ist MitbegrĂŒnderin des „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“ und arbeitet seit zwei Jahren als stĂ€ndiges Redaktionsmitglied und Autorin an der Entwicklung und Umsetzung der bisherigen vier Ausgaben des Webjournals. Mahlet Ketema Wolde Georgis (*1997) ist seit 2019 Studentin der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig und studiert Kunstwissenschaft mit dem Nebenfach Geschichte an der Technischen UniversitĂ€t Braunschweig. Ihr Ziel ist es, sich auf zeitgenössische afrikanische Kunst zu konzentrieren und mehr darĂŒber zu erfahren, wie Kunst und Kunstinstitutionen dazu beitragen können, Dialoge zwischen verschiedenen Welten einzufĂŒhren und RĂ€ume fĂŒr Begegnungen zu schaffen. 1

  • Issue 2 Kastner, Susemichel | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 IdentitĂ€tspolitiken: Im GesprĂ€ch mit Lea Susemichel und Jens Kastner Daphne SchĂŒttkemper, Nano Bramkamp, Jonna Sophie Baumann Lea Susemichel, Foto: Jens Kastner Jens Kastner, Foto: privat IdentitĂ€tspolitiken sind nicht nur in gegenwĂ€rtigen linken Diskursen ein wichtiges Streitthema, auch historisch reichen sie von der Arbeiter:innenbewegung ĂŒber die verschiedenen Formen des Feminismus bis zu den Schwarzen Befreiungsbewegungen. Lea Susemichel und Jens Kastner schreiben darĂŒber in ihrem Buch „IdentitĂ€tspolitiken – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken” und erlĂ€utern das partizipatorische Potenzial und die Problematiken diverser sozialpolitischer Bewegungen. Diese Bewegungen, so unterschiedlich sie sein mögen, eint, dass sie sich gegen Diskriminierung auf Basis ihrer IdentitĂ€t wehren. Was ist eigentlich IdentitĂ€t? IdentitĂ€t kann sehr unterschiedlich definiert werden, zum Beispiel aus psychologischen, soziologischen oder philosophischen Blickwinkeln, letztendlich wird IdentitĂ€t jedoch fast immer individualpsychologisch gefasst. Lea Susemichel hebt hervor, dass traditionell vor allem der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung betont und selten die IdentitĂ€t einer kollektiven Gruppe betrachtet wurde. „Die großen Probleme, die die entsprechenden Theoretiker:innen umgetrieben haben, sind natĂŒrlich KohĂ€renz und KontinuitĂ€t, also wie kann ein Individuum eine gleichbleibende IdentitĂ€t haben, wo doch so offensichtlich ist, dass es mehr Verschiedenes als Gleiches gibt im Laufe eines Lebens. Wie lĂ€sst sich dennoch von individueller IdentitĂ€t sprechen?” IdentitĂ€t zeichnet sich besonders durch ihren fluiden Charakter aus, es handelt sich also um einen Prozess, an dem permanent gearbeitet wird. Das gilt auch fĂŒr kollektive IdentitĂ€ten. Linke IdentitĂ€tspolitiken zeichnet aus, dass sie sich des konstruierten Charakters von IdentitĂ€t bewusst sind. IdentitĂ€t muss zunĂ€chst einmal hergestellt bzw. muss praktisch erzeugt werden. Sie versteht sich nicht von selbst und ist auch nicht in einem Wesen eines ,Volkes’ verankert. „Sie ist eben nichts NatĂŒrliches”, so Jens Kastner. IdentitĂ€t birgt auch verschiedene Ausschlussmechanismen. Mit jeder IdentitĂ€tsbildung geht das sogenannte Othering einher: Es bedarf immer eines konstitutiven Außen, eines Anderen, von dem sich abgegrenzt werden muss, um sich der eigenen IdentitĂ€t bewusst zu werden. Othering ist auch der Punkt, der IdentitĂ€t letztendlich so gefĂ€hrlich macht, da sie immer abschließend ist und ein Anderes benötigt, um sich der eigenen Grenze zu versichern. Wie unterscheidet sich IdentitĂ€tspolitik von anderen Politiken? Die große IdentitĂ€t, die Politik ansprechen will, ist das Volk. „Politik bezieht sich immer auf das Volk, das sie meint vertreten zu können. Das ist sozusagen das universelle Charakteristikum von Politik schlechthin und deshalb wird das nicht IdentitĂ€tspolitik genannt“, antwortet Kastner. Selbstbestimmt hervorgebracht wurde der Begriff IdentitĂ€tspolitik erstmals vom Combahee River Collective, einem Kollektiv schwarzer, lesbischer Feministinnen, die den Diskurs um MehrfachunterdrĂŒckung identitĂ€tspolitisch prĂ€gten. Sie wiesen in ihrem Kampf eben nicht auf etwas Universelles hin, sondern auf etwas ganz Spezifisches, Partikulares, was das Universelle nicht beinhaltet, berĂŒcksichtigt oder adressiert. Der Ursprung linker IdentitĂ€tspolitiken liegt also meist in der Reaktion auf Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen, um die eigenen Rechte einzuklagen. Und da sei auch der Knackpunkt, sagt Susemichel: „Es gibt eben das Privileg, sich als Universelles, Allgemeines setzen zu können, das diese Gruppen, die als identitĂ€tspolitische Gruppen gelabelt werden, nicht besitzen. Aber natĂŒrlich ist die Politik des viel zitierten hetero, alten, weißen Mannes auch IdentitĂ€tspolitik.” Die Annahme, es gebe „auf der einen Seite den Kampf fĂŒr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit und auf der anderen Seite eben diese identitĂ€tspolitischen Pille-Palle-KĂ€mpfe”, wird laut Susemichel auch im gegenwĂ€rtigen Diskurs gerne reproduziert. Susemichels und Kastners Ansatz ist es auch, u. a. aufzuzeigen, dass genau dieser Unterschied nicht so groß ist; letztendlich geht es immer um einen ganz singulĂ€ren Standpunkt, von dem aus fĂŒr Rechte und Interessen eingetreten wird. Rechte vs. linke IdentitĂ€tspolitik Wie unterscheiden sich dann linke von rechten IdentitĂ€tspolitiken? Das naheliegendste Beispiel ist die ultrarechte IdentitĂ€re Bewegung, die Konzepte wie den Ethnopluralismus vertritt, laut dem Kulturen und Ethnien unter sich bleiben sollten und vor einem „großen Austausch“ gewarnt wird. Die IdentitĂ€re Bewegung naturalisiert und essenzialisiert IdentitĂ€t und ist sich im Gegensatz zu linken IdentitĂ€tspolitiken nicht des Konstruktionscharakters von IdentitĂ€t bewusst oder leugnet ihn. Essenzialisierung liegt vor, wenn ein Wesensmerkmal einer Gruppe als elementar angesehen wird, um zu der Gruppe dazuzugehören. Die Abgrenzung zu dem Anderen erfolgt aggressiv und offensiv. Bei rechter IdentitĂ€tspolitik geht es laut Kastner und Susemichel um die Sicherung von eigenen Privilegien und nicht um partizipatorische Ziele. Linke IdentitĂ€tspolitiken dagegen sind sehr mit dem Gedanken der Partizipation verknĂŒpft und zielen auf eine Ausweitung der Demokratie ab. „Wir verteidigen ja auch nicht jede Form von linker IdentitĂ€tspolitik,” so Susemichel, „sondern versuchen zu analysieren, wann IdentitĂ€tspolitik emanzipatorisch ist. Wir sind ĂŒberzeugt, dass sie das sehr oft ist und dass IdentitĂ€tspolitik extrem wichtig war in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir weisen aber trotzdem auf die Gefahren hin, zum Beispiel, dass sie ins Essenzialistische kippt oder zu partikularistisch wird, sodass am Ende tatsĂ€chlich kein kollektiver Kampf mehr möglich ist.” Ist das Ziel von IdentitĂ€tspolitik, sich selbst zu ĂŒberwinden? In der Theoriegeschichte gibt es hĂ€ufig das Ziel, IdentitĂ€t aufzulösen bzw. ihre Nichtexistenz zu behaupten. Damit wĂŒrden es sich die Theoretiker:innen aber zu einfach machen, so Kastner. Kollektive IdentitĂ€ten entstehen meist durch gewaltsame Fremdzuschreibungen, auf die mit RĂŒckbezug auf die zugeschriebene IdentitĂ€t reagiert wird. Daher muss die zugeschriebene IdentitĂ€t erst mal affirmiert werden, um sie langfristig abschaffen zu können. Dieses Motiv gibt es schon, seitdem es IdentitĂ€tspolitiken von links gibt. „Diese Ambivalenz ist letztlich auch das, was emanzipatorische IdentitĂ€tspolitik im Kern ausmacht”, erklĂ€rt Susemichel. „Es ist immer diese Ambivalenz von Affirmation und Ablehnung von IdentitĂ€t, weil sie immer auch mit Abwertung, Leid und Unrechtserfahrungen einhergeht, weil sie der Grund fĂŒr Diskriminierung ist.” Ist also eine positive Bezugnahme auf IdentitĂ€t, wie zum Beispiel auf die konstruierte Kategorie Race, legitim, um sie zu ĂŒberwinden? Ein gewisser strategischer Essenzialismus nach Gayatri Chakravorty Spivak sei „alternativlos”, so Kastner. Historisch sei die soziale Gleichheit immer grĂ¶ĂŸer geworden, wenn sich Menschen auf ihre spezifischen Diskriminierungs- und Ausbeutungsformen bezogen hĂ€tten, wie auch bei der Black-Lives-Matter-Bewegung. Strategischer Essenzialismus am Beispiel der Black-Lives-Matter-Bewegung ist die politisch motivierte und kalkulierte Bejahung eines gruppenspezifischen Wesensmerkmals wie der Kategorie Race. Dabei ist der Bewegung sehr stark bewusst, dass IdentitĂ€t und Race konstruiert sind. Warum hat der Begriff der IdentitĂ€tspolitik so eine polarisierende und teils spaltende Wirkung, auch innerhalb linker Politik? In den verschiedenen politischen Diskursen wird oft die Meinung vertreten, IdentitĂ€tspolitik verhindere den kollektiven Kampf fĂŒr soziale Gerechtigkeit. Ihr wird die Schuld dafĂŒr gegeben, dass linke und sozialdemokratische Politik so geschwĂ€cht ist, da sie den kollektiven Kampf auf verschiedene „kleine” KĂ€mpfe aufteile. Susemichel findet diesen politischen Tenor falsch und bezeichnet es letztendlich als ein Manöver, das davon ablenken will, dass es die Sozialdemokratie selbst ist, die dafĂŒr gesorgt hat, dass sie dem Untergang geweiht ist, einfach durch die neoliberale Politik, die sie in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Zudem sei es selten der Fall gewesen, dass jemand die eigene Politik IdentitĂ€tspolitik genannt habe, das sei fast immer eine Zuschreibung von außen gewesen. Auch in Bezug auf sogenannte Political Correctness und „Sprachverbote” (Sahra Wagenknecht) wird ein MissverstĂ€ndnis geradezu geschĂŒrt, meint Kastner. „Als gĂ€be es Leute, die nur ein Gendersternchen wollen” und keine tieferen, beispielsweise feministischen, politischen Interessen hĂ€tten. Auch seien IdentitĂ€tspolitiken „keine ,Luxusprobleme’, es sind im Gegenteil genau die Leute, die nicht den Luxus hatten, sich nicht um solche Sachen zu kĂŒmmern, die versucht haben, aus ihrer spezifischen Situation heraus politisch zu agieren.” Kulturelle Aneignung Genauso ist es mit VorwĂŒrfen um den Diskurs der kulturellen Aneignung. Susemichel plĂ€diert dafĂŒr, sich einzelne FĂ€lle genau und individuell daraufhin anzuschauen, ab wann es eine Aneignung und ab wann nur eine solidarische Geste ist. GrundsĂ€tzlich solle „zwischen kultureller Aneignung und kultureller Ausbeutung unterschieden werden.” Ihrer Meinung nach macht es einen enormen Unterschied, ob ein großes Modelabel indigene Muster verwendet, um Kleidung fĂŒr Hunderte Euros zu verkaufen, ohne eine Gewinnbeteiligung an die eigentlichen EigentĂŒmer:innen auszuzahlen, oder ob jemand als subkulturelle Geste einen sogenannten Irokesenschnitt trĂ€gt. Ebenfalls problematisch sei die Annahme, es gebe so etwas wie eine kulturelle Reinheit. Kultur sei immer etwas Hybrides und beeinflusse sich gegenseitig. Doch wie Jens Kastner und Lea Susemichel schreiben: So emanzipatorisch sie in der Historie auch waren, „IdentitĂ€tspolitiken sind erst der Anfang.” Lea Susemichel ist leitende Redakteurin des feministischen Magazins an.schlĂ€ge und arbeitet als Journalistin, Lehrende und Vortragende in Wien. Jens Kastner ist freier Autor, Soziologe, Kunsthistoriker und Dozent an der Akademie der bildenden KĂŒnste Wien.

  • Kann Kunst demokratische RĂ€ume schaffen? | appropriate!

    Buchrezension von Sara Hegenbart Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Kann Kunst demokratische RĂ€ume schaffen? Buchrezension von Sarah Hegenbart Anmerkung der Redaktion: Da appropriate! ein Journal der Kunstvermittlung der HBK Braunschweig ist, wollen wir hier auch aktuelle Publikationen des Lehrganges vorstellen. Wir haben deshalb Sarah Hegenbart eingeladen als Gastautorin diese Rezension zu verfassen. In einem jĂŒngst erschienenen Gastbeitrag in der SĂŒddeutschen Zeitung riet der Unternehmensberater Peter Molder zu mehr „Basic Talk“ (Molder 2024: 41 ), um populistische Politiker:innen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Basic Talk unterscheide sich vom intellektuell unterfĂŒtterten High Talk durch kurze SĂ€tze, Einfachheit, fehlende OriginalitĂ€t, Langsamkeit und eine hohe LautstĂ€rke (Molder 2024: 41 ). Als Beispiel fĂŒr erfolgreichen Basic Talk nennt Molder einen Schlagabtausch zwischen Alice Weidel und Marie-Agnes Strack-Zimmermann, in dem die FDP-Politikerin der AFDlerin Weidel gekonnt mit einfachen Phrasen wie „Machen Sie’s konkret“, die sie gleich viermal wiederholte, konterte. Obwohl sich diese Auseinandersetzung letztlich als rhetorisches Nullsummenspiel, das inhaltsleer verbleibt, zusammenfassen lĂ€sst, schĂ€tzt Molder sie als erfolgreich ein. Ist es womöglich lediglich inhaltsleere Rhetorik, die heutige politische Diskurse ĂŒberhaupt noch ermöglicht? Oder weisen Publikationen wie Molders Gastbeitrag oder auch sein Buch Mit Ignoranten sprechen: Wer nur argumentiert, verliert (2019) nicht vielmehr darauf hin, was heutigen Demokratien vor allem fehlt: RĂ€ume, in denen ernstgemeinte Diskurse stattfinden können, in denen die Sprechenden sich miteinander austauschen und aufeinander eingehen. Ebensolche RĂ€ume intendiert die Demokratieplattform: Platz_nehmen zu schaffen, die in der von Martin Krenn und Melanie Prost herausgegebenen Publikation mit demselben Titel detailliert dokumentiert und anhand zahlreicher verschiedener AufsĂ€tze, Interviews und Stellungnahmen multiperspektivisch weitergefĂŒhrt wird. Die Plattform wird durch eine Raumskulptur gebildet, die Studierende des von Martin Krenn geleiteten Studiengangs Kunstvermittlung an der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig (HBK) selbst bauten. Ganz in der Tradition des Animatographen von Christoph Schlingensief sollte diese Raumskulptur auf verschiedenen PlĂ€tzen errichtet werden, um dort eine Möglichkeit des Dialogs mit der lokalen Bevölkerung zu eröffnen. WĂ€hrend die Plattform zum ersten Mal im September 2021 auf dem Wollmarkt im Braunschweiger Stadtzentrum zum diskursiven Austausch einlud, wanderte sie in den nĂ€chsten Monaten auch in den Interkulturellen Garten, auf den Vorplatz der HBK sowie vor das Braunschweiger Rathaus (Krenn/Prost 2023: 22 ). Dabei entstanden urbane Partnerschaften mit zivilgesellschaftlichen BĂŒndnissen wie Quartier:Plus, dem BĂŒndnis gegen Rechts Braunschweig sowie Amo – Braunschweig Postkolonial e.V. „Demokratie“, so konstatieren Krenn und Prost, sei „offensichtlich keine SelbstverstĂ€ndlichkeit: Sie ist konfliktreich und muss permanent ausgehandelt, wiedererrungen und verteidigt werden“ (Krenn/Prost 2023: 24 ). Die von ihnen veröffentlichten BeitrĂ€ge intendieren dementsprechend, „einen Raum fĂŒr eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Demokratie als Voraussetzung fĂŒr ein gerechteres Zusammenleben [zu schaffen], fragen nach der Rolle von Kunst in diesem Prozess und betonen die Notwendigkeit, den aktuellen Stand der Demokratie bestĂ€ndig kritisch zu reflektieren“ (Krenn/Prost 2023: 24 ). Damit stehen sie in der Tradition der sozial engagierten Kunst und knĂŒpfen an Krenns eigene Kunstpraxis an – exemplarisch seien hier Democracy and Welfare for All (2009) und das digitale Interview-Projekt The Political Sphere in Art Practices (2013–2016) genannt. Die Frage, auf welchen Demokratiebegriff die Demokratieplattform: Platz_nehmen rekurriert, wird jedoch nicht adressiert und bleibt auch in der Publikation unbeantwortet. Wie wichtig ein „demokratische[s] Referenzmodell“ (Merkel 2016 ) jedoch ist, betont der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Denn es hĂ€ngt eben von diesem Referenzmodell ab, welchen Stellenwert Partizipation und Austausch innerhalb des DemokratieverstĂ€ndnisses einnehmen. WĂ€hrend eine „minimalistische Demokratiedefinition“ sich vor allem auf die „formal-demokratische Korrektheit der Wahlen“ (Merkel 2016 ) fokussiere, spiele Partizipation bei radikaldemokratischen AnsĂ€tzen eine viel wichtigere Rolle. Merkel schlĂ€gt das Modell der „eingebetteten Demokratie“ als „Basiskonzept“ vor, das „die Demokratie als ein Gesamtsystem von interdependenten Teilregimen“ versteht (Merkel 2016 ). Folgen wir Merkels Theorie einer eingebetteten Demokratie, wird deutlich, dass sich das Braunschweiger Kunstprojekt vor allem im Bereich der Partizipation ansiedelt. Indem es versucht, neue DiskursrĂ€ume zu eröffnen, möchte es ebendiesen Austausch zwischen Communities ermöglichen, die jĂŒngst höchstens noch im Basic-Talk-Schlagabtausch miteinander ins GesprĂ€ch kamen. Gezielt sollen dabei marginalisierte Communities angesprochen werden, da Studien zeigen, dass sich Partizipation weniger auf sie, sondern vor allem auf die „oberen zwei Schichten“ bezieht (Merkel 2016 ). Laut Merkel sind es „nicht die Mittelschichten, sondern die unteren Schichten, die aussteigen. Letztere haben sich lĂ€ngst aus der politischen Teilnahme entfernt. Die entwickelten Staaten sind hinsichtlich der Partizipation in der Zweidritteldemokratie angekommen. Man könnte das ignorant als eine fast unvermeidliche Elitisierung der Politik in Zeiten der KomplexitĂ€t abtun. Die Ignoranz dĂŒrfte aber aufhören, wenn diese bildungsferneren Schichten stĂ€rker von rechtspopulistischen Parteien mobilisiert werden können“ (Merkel 2016 ). Interessant wĂ€re es, mehr darĂŒber zu erfahren, ob ebendieses Erreichen jener Communities erfolgreich war oder ob die partizipierenden Akteur:innen aus der Öffentlichkeit, die auf der Demokratieplattform „Platz nahmen“, eher dem gebildeten BĂŒrger:innentum zugeordnet werden. WĂ€hrend dies offenbleibt, zeugen aber die in der Publikation veröffentlichten Interviews, bspw. mit Ayat Tarik, GrĂŒnderin des gemeinwohlorientierten Quartierentwicklungsprojekts, oder mit der Architekturprofessorin und ehemaligen Kandidatin fĂŒr das Braunschweiger OberbĂŒrgermeister:innenamt Tatjana Schneider, von einem Bewusstsein fĂŒr die sozialen Anliegen in einem urbanen Umfeld, das demokratische Prozesse innerhalb der Stadtplanung und Gestaltung egalitĂ€rer ausformen will. Einen besonders wichtigen Akzent setzt dabei der Aufsatz der Jugendbildungsreferent:in Mimi Lange, der sich mit der Vereinnahmung des Stadtraums durch rechte Bewegungen beschĂ€ftigt, deren Strategie „kontinuierliche Vereinzelung, EinschĂŒchterung und ZermĂŒrbung“ von Andersdenkenden zum Ziel habe, „um Widerstand zu minimieren und daraus gleichzeitig durch enthemmte GewaltausĂŒbung StĂ€rke zu ziehen“ (Lange, in Krenn/Prost 2023: 38 ). Dementsprechend plĂ€diert sie fĂŒr das „Schaffen und Ausgestalten von gemeinsamen (Frei-)RĂ€umen fernab von Konkurrenz und egoistischer Verwertungslogik“ (Lange, in Krenn/Prost 2023: 41 ), was sie als zentral fĂŒr die „Praxis und Notwendigkeit außerparlamentarischer DemokratiestĂ€rkung“ (Lange, in Krenn/Prost 2023: 41 ) erachtet. Genau solche RĂ€ume initiiert die Demokratieplattform, deren urbane FunktionalitĂ€t und AnpassungsfĂ€higkeit Rahel Puffert in ihrem Beitrag detailliert herausarbeitet (Puffer, in Krenn/Prost 2023: 30 ). Als besonders positiv bewertet sie die Möglichkeit der Plattform, „Gegenwartsbewusstsein darin zu beweisen, das politisch Notwendige zu tun, ohne die prĂ€zise Suche nach der kĂŒnstlerischen Form zu vernachlĂ€ssigen“ (Puffer, in Krenn/Prost 2023: 33 ). Eine besondere Verantwortung besteht dabei darin, in einem rassismuskritischen Bewusstsein diese öffentlichen RĂ€ume zu gestalten. So erfahren die Leser:innen aus dem Erfahrungsbericht von CĂ©line Bartholomaeus und Jamila Mouhamed, dass es keine rassismusfreien RĂ€ume gebe. Denn, wie Jamila Mouhamed betont, der öffentliche Raum wurde nicht fĂŒr „BiPoC konzipiert, sondern aus einer und fĂŒr eine normprivilegierte weiße Gesellschaft“ (Mouhamed, in Krenn/Prost 2023: 51 ). Lina Winter beschreibt in ihrem Beitrag, wie Alltagssituationen im öffentlichen Raum aus transweiblicher Perspektive wahrgenommen werden. ZusĂ€tzlich zu diesen BeitrĂ€gen ermöglichen zahlreiche Abbildungen der im Rahmen der Demokratieplattform veranstalteten Kunstaktionen und Performances auch denjenigen Leser:innen einen guten Einblick in das Projekt, die selbst nicht daran teilnehmen konnten. GĂ€be es mehr solcher Demokratieplattformen in und außerhalb Deutschlands, wĂŒrde Molders oben erwĂ€hntes PlĂ€doyer fĂŒr mehr „Basic Talk“ schnell widerlegt. Was wir und unsere Demokratien ermöglichen, ist eben kein inhaltsleerer „Basic Talk“, sondern die Möglichkeit des Austausches, des Diskurses, des Teilens von Erfahrungswissen. Wie kĂŒnstlerische Aktionen zu ebensolchem Austausch beitragen können, beweist die Demokratieplattform eindrĂŒcklich. Dr. in Sarah Hegenbart ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen UniversitĂ€t MĂŒnchen. Vor ihrer Promotion am Courtauld Institute of Art in London absolvierte sie einen Master of Studies in Ancient Philosophy an der University of Oxford und einen Magister in Philosophie und Kunstgeschichte an der Humboldt UniversitĂ€t zu Berlin. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie Mainz und des Konsortiums des Horizon-2020-Forschungsprojekts „Art and Research on Transformations of Individuals and Societies“. Literatur: Krenn, Martin / Prost, Melanie (Hrsg.), 2023. Demokratieplattform: Platz_nehmen. BeitrĂ€ge ĂŒber Kunst, zivilgesellschaftliches Engagement und die Aneignung von urbanem Raum. Marburg: Jonas Verlag Merkel, Wolfgang, 2016. Krise der Demokratie? Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff. In: APuZ, 30.09.2016, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/234695/krise-der-demokratie/ (12.03.2024) Molder, Peter, 2024. Wie man sich gegen Trump behauptet. In: SĂŒddeutsche Zeitung, Nr. 58, 9./10. MĂ€rz 2024, S. 41 01 02 03

  • Über Kunst und Klimaaktivismus | appropriate!

    Ein GesprĂ€ch mit Oliver Ressler, Interview von Lena Götzinger Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Über Kunst und Klimaaktivismus Lena Götzinger im GesprĂ€ch mit Oliver Ressler Oliver Ressler, Everything’s coming together while everything’s falling apart , 2016–2020, 6-Kanal-Videoinstallation. Ausstellungsansicht Barricading the Ice Sheets: Repossess the Plant, the Planet , LABoral Centro de Arte y CreaciĂłn Industrial, GijĂłn, 2023 (Foto: Marcos Morilla). Courtesy of the artist; Ă ngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht Oliver Ressler, Everything’s coming together while everything’s falling apart , Code Rood 4K-Video, 14 Min., 2018. Courtesy of the artist; Ă ngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht The Natural History Museum, Mining the HMNS: An Investigation by The Natural History Museum, 2016. Ausstellungsansicht Overground Resistance, frei_raum Q21 exhibition space, Wien, 2021 (Foto: Sam Beklik) Oliver Ressler, Not Sinking, Swarming , 4K-Video, 37 Min., 2021. Courtesy of the artist; Ă ngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht Oliver Ressler, The Natural History Museum, Mining the HMNS: An Investigation by The Natural History Museum, 2016 Ausstellungsansicht Overground Resistance, frei_raum Q21 exhibition space, Wien, 2021 (Foto: Sam Beklik) Oliver Ressler, Everything’s coming together while everything’s falling apart: Code Rood, 4K-Video, 14 Min., 2018. Courtesy of the artist; Ă ngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht Angesichts der fortschreitenden Klimakatastrophe gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, der sich nicht mit ihren Auswirkungen wird befassen mĂŒssen. Das gilt natĂŒrlich auch fĂŒr den Kunstbetrieb sowie fĂŒr KĂŒnstler:innen selbst. DarĂŒber, welche Rolle die Kunst in der Klimakrise einnehmen kann und welche Potenziale in einer Liaison mit dem Aktivismus liegen, haben wir mit dem KĂŒnstler Oliver Ressler gesprochen. In Erweiterung seiner eigenen kĂŒnstlerischen Auseinandersetzung mit der Klimakrise untersuchte Oliver Ressler gemeinsam mit weiteren KĂŒnstler:innen und Aktivist:innen in der Forschungsarbeit „Barricading the Ice Sheets” die Beziehung der Klimagerechtigkeitsbewegungen zur Kunst. Dabei stellte er fest, dass sich ihr VerhĂ€ltnis in den letzten Jahren durchaus gewandelt hat. So habe es in der Vergangenheit immer wieder Versuche seitens politischer Bewegungen gegeben, Kunst bei ihren öffentlichen Veranstaltungen mit einzubeziehen, schildert Ressler. HĂ€ufig seien es Performances und Screenings gewesen, die nach Abschluss der politischen Diskussionen stattgefunden hĂ€tten und von den Veranstaltenden meist als eine Art Zusatz- oder Unterhaltungsangebot eingesetzt wurden. Eine aktive Zusammenarbeit mit KĂŒnstler:innen habe sich grĂ¶ĂŸtenteils auf das visuelle Erscheinungsbild der Bewegungen, darunter das Gestalten von Logos und Plakaten, beschrĂ€nkt. Innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegungen sehe man in den letzten Jahren hingegen eine immer stĂ€rkere Überschneidung und VerschrĂ€nkung von Kunst und Aktivismus. KĂŒnstler:innen seien nun deutlich mehr in die Formung, sowie in Fragen der Ausrichtung und Strategie der Bewegungen involviert. Ressler ist der Überzeugung: „Wenn man als KĂŒnstler:in politisch etwas verĂ€ndern will, bedarf es eines Bezugs auf Aktivismus. Nur so wird man etwas bewegen können.” Das Kollektiv „Laboratory of Insurrectionary Imagination”, mit dem Ressler bereits Projekte realisierte, hat es sich beispielsweise zur Aufgabe gemacht, KĂŒnstler:innen und Aktivist:innen zusammenzubringen, um gemeinsam neue Formen des Widerstands und zivilen Ungehorsams zu entwickeln. Unter anderem kĂ€mpften sie zusammen mit 40 weiteren Kollektiven erfolgreich gegen den Bau eines Flughafens auf dem autonomen Territorium ZAD (zone Ă  dĂ©fendre) im Westen Frankreichs, indem sie das Gebiet besetzten und es ĂŒber Jahre hinweg gegenĂŒber staatlichen Akteur:innen und PolizeikrĂ€ften verteidigten. Im Laufe der Zeit wurde die ZAD zu einem Experimentierfeld neuer Gemeinschaftsformen, in denen Widerstand, Kunst und Leben ineinanderfließen. Damit ist sie eines der wenigen Beispiele, bei dem die Blockade klimazerstörender Infrastruktur und der Aufbau alternativer Lebens- und Handelsstrukturen an einem Ort zusammentreffen. Zwar ist es auch innerhalb dieser politischen Selbstorganisation nicht möglich, sich vollstĂ€ndig von den kapitalistischen Wirkweisen der restlichen Gesellschaft zu lösen, doch finden sich hier vielfĂ€ltige Beispiele der Imagination und Erforschung utopischer Perspektiven. Ein weiteres Beispiel fĂŒr eine solche Allianz aus KĂŒnstler:innen und Aktivist:innen ist das Kollektiv „Not An Alternative”, dessen Arbeiten unter anderem in der von Ressler kuratierten Ausstellung „Overground Resistance” (frei_raum Q21 exhibition space, Wien, 2021) zu sehen waren. Das von ihm entwickelte „The Natural History Museum” bricht mit GeschichtserzĂ€hlungen und Narrativen, die versuchen, historische Entwicklungen, welche auf Ausbeutung und Enteignung basieren, zu naturalisieren. Dabei wird auch der Zusammenhang deutlich, in dem die systemische Gewalt des Kapitalismus und des Siedlerkolonialismus mit der Klimakrise stehen, sowie mit deren bedeutend stĂ€rkeren Auswirkungen auf indigene Bevölkerungen und auf Menschen, die in der NĂ€he von umweltverschmutzenden Industrien zu leben gezwungen sind. Insbesondere anhand der „Red Natural History” wird eine alternative Naturgeschichte aufgezeigt, die nicht auf kolonialen oder kapitalistischen Strukturen, sondern auf einer kameradschaftlichen und wechselseitigen Beziehung zu Land, Leben und Arbeit beruht. Diese Praxis ist aus Sicht des Kollektivs eine wichtige Perspektive im zeitgenössischen Kampf fĂŒr Klima- und Umweltgerechtigkeit. Sein mobiles Pop-up-Museum entwirft ein TrainingsgelĂ€nde, um diese zu erproben. Oliver Ressler selbst entwickelt dokumentarische Formate, in denen er Aktivist:innen wĂ€hrend ihrer Aktionen und Vernetzungstreffen begleitet. Die daraus resultierenden Filme machen verschiedenste Akteur:innen sowie bedeutsame Momente im Kampf gegen die Klimakrise fĂŒr ein öffentliches Publikum sichtbar und geben Einblicke in die Strukturen und Strategien der Klimagerechtigkeitsbewegungen. Neben der Rezipierbarkeit seiner Filme in Kunstinstitutionen und auf Filmfestivals, stellt er sie den Bewegungen, etwa fĂŒr Schulungen oder Kampagnen, frei zur VerfĂŒgung. Da ihm die ZugĂ€nglichkeit seiner Arbeiten ein großes Anliegen ist, arbeitet Oliver Ressler seit Beginn seiner kĂŒnstlerischen Laufbahn ebenfalls gezielt mit Text- und Bildmontagen im öffentlichen Raum, um auch jene Menschen zu erreichen, die andernfalls wenig Bezug zur Kunst haben. Die Klimagerechtigkeitsbewegungen profitieren aus Resslers Sicht von der stĂ€rkeren Involvierung von Menschen aus kreativen Berufen, die ihr spezifisches Know-how in die Bewegungen einbringen. Erschienen in den Tageszeitungen und Magazinen noch vor wenigen Jahren ganzseitige Artikel ĂŒber die friedlichen Demonstrationen und Sitzblockaden der „Fridays For Future” Bewegung, so seien ihre Proteste heute lediglich noch eine Randnotiz in der Berichterstattung, wenn ĂŒberhaupt ĂŒber sie berichtet werde. Ressler meint: „Es braucht vielfĂ€ltige Methoden zur Generierung von Aufmerksamkeit und neuartige Kategorien von Bildern. In der Kunst liegt dafĂŒr ein großes Potenzial." Gleichzeitig betont Oliver Ressler, dass es grundsĂ€tzlich wichtig fĂŒr die Klimagerechtigkeitsbewegungen sei, an Breite und Vielfalt zu gewinnen. Die Involvierung von KĂŒnstler:innen und Kulturproduzent:innen spiele eine zentrale Rolle, daneben sei aber auch die Einbindung anderer gesellschaftlicher Akteur:innen notwendig, inklusive der Menschen, die in den klimaschĂ€dlichsten Sektoren berufstĂ€tig sind. Als mögliche Neuorientierung der Bewegungen beschreibt Ressler Versuche, Beziehungen zu Mitarbeitenden in SchlĂŒsselunternehmen der Energieversorgungsbranche herzustellen. Diesen notwendigen Schulterschluss thematisiert Matthew Huber in seinem Buch „Climate Change as Class War". Huber sieht die Klimakrise als ein Klassenproblem, welches tief in der Verteilung von Eigentum, Produktionsmitteln und Profiten innerhalb der Gesellschaft verwurzelt sei und deshalb nur durch die UmwĂ€lzung der KlassenverhĂ€ltnisse gelöst werden könne. DafĂŒr brauche es eine Klimapolitik, die sich weltweit solidarisch mit der Arbeiter:innenklasse zeige und deren LebensrealitĂ€ten adressiere. In die Praxis umgesetzt heißt das Ressler zufolge, man wolle Arbeiter:innen in ihrem Bestreben, sich gewerkschaftlich besser zu organisieren, unterstĂŒtzen und ein grĂ¶ĂŸeres ökologisches Bewusstsein unter ihnen schaffen, um sie als Alliierte im klimaaktivistischen Kampf zu gewinnen. Menschen, die im Energiesektor tĂ€tig sind, hĂ€tten das Know-how, um beispielsweise großflĂ€chig den Strom abzuschalten und somit kapitalistische Produktion zu sabotieren. Eine solche Allianz wĂ€re aus Resslers Sicht eine bedeutende Waffe im Kampf fĂŒr Klimagerechtigkeit. Ähnlich verhĂ€lt es sich beim Agrarsektor, dem der Weltklimarat (IPCC) den grĂ¶ĂŸten Anteil an den weltweiten menschengemachten Nicht-CO2-Emissionen zuschreibt und der zugleich selbst Leidtragender von Extremwetterereignissen wie DĂŒrren und Starkregen ist, die durch das Voranschreiten der Klimakrise verstĂ€rkt werden. Ressler hĂ€lt es daher fĂŒr notwendig, auch Landwirt:innen fĂŒr den Klimaprotest zu gewinnen. Aufgrund ihrer systemrelevanten Funktion als Nahrungsmittelproduzent:innen hĂ€tten sie ein großes Druckmittel in der Hand und ließen sich nicht so leicht kriminalisieren wie andere Akteur:innen. Ganz aktuell sehen wir das an den oftmals solidarischen und kompromissbereiten Reaktionen der Politik auf die Proteste aus der Landwirtschaft. Doch weist Ressler auch darauf hin, dass freundliche Demonstrationen nicht reichen werden, um staatliche Akteur:innen zur Einleitung jener Schritte zu bewegen, welche aufgrund der absoluten Dringlichkeit der Klimakatastrophe erforderlich sind. In dieser Hinsicht habe es in den letzten Jahrzehnten drastische und folgenschwere VersĂ€umnisse seitens der Politik gegeben. Heute sei die Lage so akut, dass wir nicht lĂ€nger auf ein langsam wachsendes ökologisches Bewusstsein hoffen und uns mit kleinen Fortschritten zufriedengeben können. FĂŒr ihn steht fest: „Man kann keine soziale VerĂ€nderung herstellen, wenn man rein im Rahmen jener Gesetze agiert, die den Klima-Zusammenbruch zu verantworten haben. Die bĂŒrgerliche Gesetzgebung reprĂ€sentativer Demokratien konnte nicht verhindern, dass wir an diesem Punkt angelangen. Es ist ein Mittel des Überlebens, sie zu ĂŒberdehnen, außer Kraft zu setzen und dafĂŒr einzutreten, dass sie geĂ€ndert wird.” Es gibt viele Beispiele, in denen man mittels zivilen Ungehorsams den Bau von FlughĂ€fen, Autobahnen, Pipelines oder Kohlekraftwerken verhindern konnte. Ressler zĂ€hlt diese Momente zu den großen Erfolgen der Klimagerechtigkeitsbewegungen. Allerdings betont er, dass die Bewegungen nicht erfolgreich genug gewesen seien. Wir wĂŒrden weiterhin mit voller Geschwindigkeit auf die Klimakatastrophe zurasen und auch an der Zerstörungskraft des kapitalistischen Systems und seiner ausbeuterischen Produktionsweisen habe sich nach wie vor wenig geĂ€ndert. Klimagerechtigkeit werde man nur erreichen, wenn auch die weltweit bestehenden Machtasymmetrien und ungerechten LebensverhĂ€ltnisse abgeschafft wĂŒrden. Um noch eine Chance zu haben, die Klimakatastrophe zu mindern, seien massive Mobilisierungen und Aktionen notwendig, von denen der KĂŒnstler denkt, dass sie grundlegend andere Form annehmen werden, als die Proteste, welche wir in den letzten fĂŒnf bis zehn Jahren beobachten konnten. In Zeiten, in denen die CO2- und Methan-Emissionen jĂ€hrlich neue Rekorde erreichen, ist die einzig wirksame politische Maßnahme aus seiner Sicht die Enteignung des fossilen Kapitals, welches er als hauptverantwortlich fĂŒr diese ZustĂ€nde identifiziert. DafĂŒr bedĂŒrfe es einer geordneten Abwicklung innerhalb weniger Jahre, die global jedoch noch von keinem einzigen Staat angegangen werde. Diese Ausgangslage drĂ€nge immer mehr Menschen, die um ihre Lebensgrundlage bangen, dazu, sich gegen die Tatenlosigkeit der Politik zu wehren - Ă€hnlich wie es der Humanökologe Andreas Malm in seinem Buch „How to Blow Up a Pipeline" beschreibt. „Ich gehe davon aus, dass es zu einer massiven Sabotage und Zerstörung von klimazerstörender Infrastruktur kommen wird”, prognostiziert Ressler. Diese Entwicklungen wolle Oliver Ressler weiterhin verfolgen und filmisch begleiten. Auch wenn sich zwischenzeitlich der Gedanke einstellt, der Zug sei bereits abgefahren, dĂŒrfe man nicht resignieren, da jedes zehntel Grad Erderhitzung, das wir noch vermeiden können, fĂŒr Millionen von Menschen und andere Lebewesen den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann. In der aktiven Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein Leben in Klimagerechtigkeit aussehen könnte, sowie in der Imagination möglicher ZukĂŒnfte, fĂŒr die es sich zu kĂ€mpfen lohne, liege das Potenzial, enorme Handlungskraft freizusetzen. Oliver Ressler (*1970) ist ein österreichischer KĂŒnstler und Filmemacher, der Installationen, Arbeiten im Außenraum und Filme zu Themen wie Ökonomie, Demokratie, Migration, Klimakrise, Widerstandsformen und gesellschaftliche Alternativen realisiert. Seine Arbeiten werden international in Museen sowie auf Filmfestivals gezeigt und von ihm auch Klimagerechtigkeitsbewegungen fĂŒr Schulungen und Kampagnen zur VerfĂŒgung gestellt. Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, ist Studentin der Freien Kunst sowie der Kunstvermittlung bei Professor Lutz Braun und Professor PhD Martin Krenn, an der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste in Braunschweig. Sie ist seit Issue 4 Teil der Redaktion des „appropriate! - Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst” und hat gemeinsam mit Professor PhD Martin Krenn die Redaktionsleitung fĂŒr das Issue 5 ĂŒbernommen. Der Text basiert auf einem Interview mit Oliver Ressler, gefĂŒhrt von Lena Götzinger, Merve Gisou Rosenthal und Janis Binder. Literatur: Laboratory of Insurrectionary Imagination: https://frontiers-of-solitude.org/laboratory-of-insurrectionary-imagination [Zugriff am 19.01.2024] Not An Alternative/The Natural History Museum: https://thenaturalhistorymuseum.org/nhm_writing_authors/not-an-alternative/ [Zugriff am 19.01.2024]

  • Impressum | appropriate

    Anker 1 Impressum Anschrift Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig z.H.: Martin Krenn Johannes-Selenka-Platz 1 38118 Braunschweig Kontakt Telefon: +49 (531) 391 9011 E-Mail: m.krenn@hbk-bs.de Rechtsform und gesetzliche Vertretung Prof. Martin Krenn Technische Betreuung des Web-Service Prof. Martin Krenn, HBK Braunschweig Web-Content Diese Webseite hosted das Webjournal "appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst" der Kunstvermittlung, Institut FREIE KUNST, HBK Braunschweig. Das Journal wurde am 29.4.2021 gelauncht. Inhaltlich verantwortlich gemĂ€ĂŸ §55 Abs. 2 RStV: Prof. Martin Krenn, Kunstvermittlung, Institut FREIE KUNST, Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig Copyright Das Urheberrecht aller in appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst veröffentlichten Inhalte liegt bei den AutorInnen. Falls nicht anders im Beitrag ausgewiesen, gelten die vom Gesetz gewĂ€hrten Rechte u.a. die VervielfĂ€ltigung fĂŒr den privaten Gebrauch sowie das Zitatrecht. DarĂŒber hinaus ist die Nutzung fĂŒr nicht-kommerzielle, wissenschaftliche und pĂ€dagogische Zwecke sowie der Verweis auf appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst als externer Link ausdrĂŒcklich erwĂŒnscht. Trotz sorgfĂ€ltiger inhaltlicher Kontrolle ĂŒbernehmen wir keine Haftung fĂŒr die Inhalte externer Seiten, die auf appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst verlinken.

  • Freundschaft oder Dienstleistung? — die sobat-sobat der documenta fifteen | Issue 4 | appropriate!

    Anna DarmstĂ€dter und Julika Teubert im GesprĂ€ch mit Nick Schamborski Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Freundschaft oder Dienstleistung? — die sobat-sobat der documenta fifteen Anna DarmstĂ€dter und Julika Teubert im GesprĂ€ch mit Nick Schamborski Nick Schamborski, sobat auf der documenta fifteen, © Huizi Yao Protestaktion der sobat-sobat am 27 August 2022 vor dem Fridericianum, © Theseas Efstathopoulos Die Arbeitsshirts der sobat-sobat vor dem Fridericianum, © Theseas Efstathopoulos Scheinbar neu konzipiert war die Kunstvermittlung der documenta fifteen. Angefangen beim Namen fĂŒr die Kunstvermittler:innen: sobat-sobat, der indonesische Begriff fĂŒr Freund:innen oder GefĂ€hrt:innen [1 ]. Doch weniger um Freundschaft im Sinne einer langwierigen zwischenmenschlichen Beziehung, als vielmehr um einen Ansatz fĂŒr eine GesprĂ€chshaltung sollte es auf der documenta fifteen gehen. Eine Vermittlung nicht als Vortrag, sondern als GesprĂ€ch, in dem ZugĂ€nge zu RĂ€umen, Geschichten und Arbeitsweisen der lumbung-Praxis [2 ] erforscht werden. Die sobat-sobat begleiten durch die Ausstellung, sie fĂŒhren nicht. Helfen soll dabei die Praxis des Storytelling – das ErzĂ€hlen von Geschichten. Ein Vorgehen, das durchaus in das Konzept von ruangrupa passt, das keine konservative Kunstvermittlung im Sinne des schlichten Bereitstellens von Informationen intendierte. Vermitteln sollten sich die Kollektive im Sinne der partizipativen Praxis des lumbung ursprĂŒnglich selbst, umgesetzt wurde das beispielsweise in Workshops und anderen Veranstaltungen [3 ]. Doch konservative Kunstvermittlungsformate sind fester Bestandteil der documenta und wurden als solche von der documenta Leitung eingefordert. Hier tat sich ein Konflikt zwischen dem Konzept ruangrupas und den letztendlichen Rahmenbedingungen der documenta fifteen auf, der in erster Linie auf Kosten der Vermittler:innen ausgetragen wurde, so Nick Schamborski im gemeinsamen GesprĂ€ch (s. u.). Vor allem aber wurden die Kunstvermittler:innen dieser documenta erneut durch prekĂ€re Arbeitsbedingungen belastet. Wo die Neukonzipierung der Kunstvermittlung begann, endete sie bereits. Den Verdruss illustrieren ein offener Brief [4 ] der organisierten sobat-sobat und eine darauf folgende Publikation. Der kollektiv entstandene Brief wurde am 04.08.2022 intern an das Management der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, die Abteilung Bildung und Vermittlung und das Artistic Team gesendet. Alexander Farenholtz, nach dem RĂŒcktritt von Sabine Schormann InterimsgeschĂ€ftsfĂŒhrer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, bot zwar GesprĂ€che an, doch die Reaktion blieb unbefriedigend, bis heute gibt es keine Pressemitteilung der documenta zum offenen Brief der organisierten sobat-sobat. Wir sprachen mit Nick Schamborski, ehemalige:r sobat, ĂŒber die Kunstvermittlung der documenta fifteen. DarĂŒber, wie es zu dem offenen Brief kam, welche UmstĂ€nde die Arbeit der Kunstvermittler:innen erschwerten und wie sich die Situation fĂŒr kommende Ausstellungen tatsĂ€chlich verbessern könnte. Nick Schamborski ist MedienkĂŒnstler:in, Kurator:in und Kunstvermittler:in mit einem Fokus auf diskriminierungskritische Kulturarbeit und erwarb 2021 das Diplom in Freier Kunst an der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste. Außerdem absolvierte Nick Schamborski wĂ€hrend des Studiums die Zusatzqualifikation Kunstvermittlung, zu der auch das approporiate! Journal gehört. Vor dem Hintergrund unserer Gemeinsamkeiten im Studium interessierte uns besonders, welche Erfahrungen Nick Schamborski als Kunstvermittler:in auf der documenta fifteen gemacht hat. Nick Schamborski sieht die Aufgabe als Kunstvermittler:in darin, „kritische:r Freund:in einer Institution zu sein. Das bedeutet, dass man kritisch die Kunst begleitet und kritisch in den Diskurs tritt mit den Leuten, die da hinkommen und sich die Kunst angucken wollen.” Statt ein:e kritische:r Freund:in der Institution sollte ein:e sobat jedoch ein:e informative:r Begleiter:in durch die Ausstellung sein, so gibt es die documenta gGmbH vor. Die sobat-sobat wurden in ihrer Expertise nicht ernst genommen und sahen sich außerdem prekĂ€ren Arbeitsbedingungen ausgesetzt, berichtet uns Nick Schamborski. „Wie ist es möglich, mit den Besucher:innen ĂŒber die lumbung-Werte wie GroßzĂŒgigkeit oder Transparenz zu sprechen, wenn wir gleichzeitig dermaßen ausgebeutet werden?“, fragt Nick Schamborski. Die documenta fifteen bot von Anfang an ein hohes aktivistisches Potenzial, denn „diese documenta wurde von Leuten geleitet, die selbst nicht institutionell denken, sondern eben diese Gedankenmuster hinterfragen“, so Nick Schamborski. Daher hatten sich unter den Kunstvermittler:innen viele beworben, die Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung in ihrer Praxis hatten und schließlich in Eigeninitiative den Raum fĂŒr kritische Diskurse öffneten, obwohl „der Raum eindeutig nicht dafĂŒr gedacht war“. Die lumbung-Werte wurden sich somit von den sobat-sobat angeeignet, um aufzubegehren. Neben Protestaktionen, wie dem AufhĂ€ngen ihrer Arbeitsshirts vor dem Fridericianum [5 ] oder der Einladung zum GesprĂ€ch ĂŒber die eigenen Arbeitsbedingungen, wurde die Infrastruktur, beispielsweise die lumbung Press, genutzt, um die Publikation zu drucken, die „ein Weg und ein Werkzeug gewesen ist, um nicht nur aktiv zu sein, sondern auch die Gemeinschaft zusammenzubringen und ĂŒber die documenta hinaus weiterlaufen zu lassen“, erzĂ€hlt uns Nick Schamborski und erklĂ€rt, dass sich die Probleme, die fĂŒr die sobat-sobat entstanden sind, differenzieren lassen zwischen inhaltlichen Schwierigkeiten und strukturellen institutionellen Schwierigkeiten. Inhaltlich seien sie nicht ausreichend vorbereitet worden auf Themen wie die Antisemitismusdebatte und Rassismus oder darauf, wie man sich verantwortungsbewusst mit der eigenen epistemischen Gewalt auseinandersetzt, also der Form von Gewalt, die mit unserem gelernten und angewendeten Wissen zusammenhĂ€ngt. „Um kĂŒnstlerische Positionen, die als ,aus dem globalen SĂŒden‘ markiert wurden, zu vermitteln, brauchte es nicht nur weitaus mehr Bildung, sondern es besteht eine große Gefahr, koloniale und rassistische Gewalt zu reproduzieren und zu festigen.“ Strukturelle und organisatorische Schwierigkeiten seien unter anderem gewesen, dass die sobat-sobat durch den ihnen zugeteilten Veranstaltungspass zu spĂ€t Zugang zu den Veranstaltungsorten hatten, was ihre Vorbereitungsarbeit erschwerte. Dazu seien erhebliche Probleme mit dem Buchungssystem gekommen und unzureichende ZugĂ€nglichkeitskonzepte, mit denen die Kunstvermittler:innen allein gelassen wurden. „Dadurch kam es zu einer enormen psychischen Belastung, die unsichtbar gemacht wurde“, bedauert Nick Schamborski. Auf uns macht es den Eindruck, als sei der offene Brief der organisierten sobat-sobat aufgrund seiner Dringlichkeit unvermeidbar gewesen. Wenige Wochen vor dem Ende der documenta fifteen fĂŒhrte er zwar leider nicht mehr zu großen VerĂ€nderungen wĂ€hrend der Laufzeit. Doch er bewirkte zumindest, „dass man nicht in Harmonie auseinandergeht, sondern diese Ungerechtigkeiten manifestiert wurden“, sagt Nick Schamborski. In erster Linie fordere der Brief aber die Anerkennung der Vermittlungsarbeit bei der documenta. Gleichzeitig strebe er eine langfristige VerĂ€nderung der ausbeuterischen Strukturen im Kulturbereich an. Ruangrupa ist es gelungen, die documenta fifteen auf eine Art und Weise zu kuratieren, die sich deutlich von allen vorhergegangenen documentas unterscheidet. Der Kunstvermittlung wurde das Loslösen von alten Mustern jedoch ungleich schwerer gemacht, sowohl in ihrer inhaltlichen Arbeit als auch in Bezug auf die strukturellen Rahmenbedingungen. Der offene Brief und die Publikation der sobat-sobat zeigen deutlich, dass sich die Arbeitsbedingungen fĂŒr Kunstvermittler:innen der documenta kaum verbessert haben, noch immer sind die UmstĂ€nde prekĂ€r, wie bereits seit vielen Jahren. Auf der letzten documenta hatte es innerhalb der Kunstvermittlung beispielsweise die kritische Gruppe doc14_workers [6 ] gegeben, die offen ĂŒber ihre ArbeitsverhĂ€ltnisse reflektierten und das GesprĂ€ch suchten. Doch auch schon auf der documenta 12 wurde ĂŒber die schwierige Lage der Kunstvermittlung der documenta diskutiert, die einerseits kritische und unabhĂ€ngige Arbeit leisten wollte, jedoch von der GeschĂ€ftsfĂŒhrung der documenta eindeutig in das Feld der Dienstleistung gerĂŒckt wurde, mit der Erwartung, betriebswirtschaftlich zu denken. [7 ] Wir wollten von Nick Schamborski wissen, was aus Nicks Perspektive tatsĂ€chlich zu einer Verbesserung der Situation fĂŒr die Kunstvermittlung der nĂ€chsten documenta fĂŒhren könnte. „Essenziell ist, dass die Kuration und die Vermittlung zusammengedacht werden und nicht auseinander. Die kuratorische Leitung mĂŒsste eine Möglichkeit bekommen, autonom eine Vermittlungsstrategie zu entwickeln, und diese muss personell direkt Teil des kĂŒnstlerischen Teams sein, welches die documenta organisiert.“ TatsĂ€chlich ist Susanne Hesse-Badibanga, die Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung der documenta fifteen, die unter anderem fĂŒr die sobat-sobat zustĂ€ndig ist, nicht von ruangrupa ausgewĂ€hlt worden. Es wĂ€re sinnvoll gewesen, hĂ€tte sich ruangrupa bewusst fĂŒr die hier zustĂ€ndige Person entscheiden können, da das Kollektiv die Vermittlung als Teil der ausgestellten Arbeiten versteht. Nicht nur im Kontext der documenta ist es ein Problem, wenn die Kunstvermittlung erst nachtrĂ€glich konzipiert wird und nicht von Anfang an als Partner der Kuration mitgedacht wird. Das lĂ€sst sich leicht am Beispiel unzugĂ€nglicher Begleittexte erkennen, die hĂ€ufig verfasst werden, ohne die wichtige Expertise der Kunstvermittler:innen einzubeziehen. Dass auch auf der documenta fifteen die QualitĂ€ten von Kunstvermittler:innen nicht richtig anerkannt und aktiviert werden, berichtet Nick Schamborski: WĂ€hrend der Vorbereitungszeit auf die documenta fifteen nahmen die sobat-sobat an Workshops teil, die nur mangelhaft auf die kommende Ausstellung vorbereiteten. „Jede:r Vermittler:in bringt bestimmtes Wissen, Forschungen und Erfahrungen mit, diese Ressourcen wurden gar nicht erst gesehen. HĂ€tte jede:r von uns selber einen Workshop gegeben, ĂŒber kunstvermittlerische Theorien oder Praxis, wĂ€re das vielfach nachhaltiger gewesen. Das ist ja das Problem, wenn von der Institution die Ressourcen und Potenziale gar nicht erkannt werden, die vorhanden sind. Eigentlich könnte daraus so viel entstehen und damit so viel bewegt werden.“ Bei der Frage danach, welche Rolle der Kunstvermittlung zugedacht wird, geht es nicht zuletzt darum, wer die Entscheidungsmacht ĂŒber bestimmte Prozesse der Ausstellungskonzeption, -umsetzung und -begleitung innehat. „Sobald ein System primĂ€r auf Hierarchien aufgebaut ist, gibt es immer diesen Machtmissbrauch und den gab es dort in der Institution documenta die ganze Zeit“, sagt Nick Schamborski. „Es geht nicht darum, weniger Verantwortung zu ĂŒbernehmen, sondern dass die Hierarchien abgebaut werden und gemeinschaftlich gearbeitet wird.“ Die Erfahrungen als sobat bestĂ€rkten Nick Schamborski darin, dass „das Resultat immer nur so viel wert ist wie die Prozesse, die dazu gefĂŒhrt haben.” Ein Prozess sollte gerecht, sichtbar und wertschĂ€tzend sein und genug Raum zugestanden bekommen, anderweitig lohne es sich nicht, fĂŒr das Endprodukt zu arbeiten. [1] https://documenta-fifteen.de/glossar/ (Zugriff: 10.12.2022) [2] Im Glossar der documenta fifteen steht Folgendes: „lumbung ist die konkrete Praxis auf dem Weg zur documenta fifteen im Jahr 2022 und danach. Aus dem Indonesischen ĂŒbersetzt bedeutet es ,Reisscheune‘. In indonesischen lĂ€ndlichen Gemeinschaften wird die ĂŒberschĂŒssige Ernte in gemeinschaftlich genutzten Reisscheunen gelagert und zum Wohle der Gemeinschaft nach gemeinsam definierten Kriterien verteilt. Dieses Prinzip steht fĂŒr die Lebens- und Arbeitspraxis von ruangrupa und wird fĂŒr ein interdisziplinĂ€res und gemeinschaftliches Arbeiten an kĂŒnstlerischen Projekten genutzt.” [3] https://documenta-fifteen.de/kalender/ : beispielsweise ein Skateboardkurs der Mr. Wilson Skatehalle von Baan Noorg Collaborative Arts and Culture in der documenta Halle oder eine Open Kitchen von Gudskul im Fridericianum [4] https://sobatsobatorganized.files.wordpress.com/2022/08/open.letter.sobat-sobat.18.08.22.pdf (Zugriff: 10.12.2022) [5] https://www.hessenschau.de/kultur/documenta-beschaeftigte-in-kassel-protestieren-gegen-arbeitsbedingungen-v2,documenta-arbeitsbedingungen-100.html (Zugriff: 10.12.2022) [6] https://kw.uni-paderborn.de/en/kunst-musik-textil/nachricht/silogespraeche-doc14-workers-feeling-free-to-talk-about-working-conditions-1 (Zugriff: 10.12.2022) [7] https://www.kubi-online.de/artikel/glauben-mir-kein-wort-entwicklung-kunstvermittlung-zwischen-documenta-x-documenta-14 (Zugriff: 10.12.2022) Nick Schamborski ist MedienkĂŒnstler:in, Kurator:in und Kunstvermittler:in mit einem Fokus auf diskriminierungskritischer Kulturarbeit. Im letzten Jahr bekam Nick Schamborski den Bundespreis fĂŒr Kunststudierende verliehen, kuratierte auf dem European Media Art Festival und arbeitete im Art-Education-Department auf der documenta fifteen in Kassel. Gleichzeitig schloss Nick Schamborski das Meister*inschĂŒler*innenstudium bei dessen langjĂ€hriger Professorin Candice Breitz ab. Anna DarmstĂ€dter, geboren 1999 in Hannover, studiert Freie Kunst, ehemals bei Professor Nasan Tur und aktuell bei Professor Thomas Rentmeister an der HBK Braunschweig. ZusĂ€tzlich studiert sie Kunstvermittlung bei Prof. PhD Martin Krenn. Als gebĂŒrtige Clownin ist sie dem Absurden verfallen. Ihre Kunstvermittlung möchte demnach nicht einfach auflösen und erklĂ€ren, sondern vielmehr das eigene Denken durch Ironie herausfordern, um so neue Perspektiven auf Kunst und den Kunstbetrieb einzunehmen. Julika Teubert, geboren 1995 in Berlin, ist sowohl KĂŒnstlerin als auch Kunstvermittlerin und studiert aktuell Freie Kunst bei der Professorin Isabel Nuño de Buen, sowie Kunstvermittlung bei Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule fĂŒr Bildende KĂŒnste Braunschweig. Sie ist MitbegrĂŒnderin des appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst und arbeitet seit zwei Jahren als stĂ€ndiges Redaktionsmitglied und Autorin an der Entwicklung und Umsetzung der bisherigen vier Ausgaben des Journals. 1 Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7

  • Issue 3 Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen | appropriate

    Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen – ein Vermittlungsversuch zu toxischen Spuren und Erbe Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen – ein Vermittlungsversuch zu toxischen Spuren und Erbe Lynhan Balatbat-Helbock it's raining again today it always rains but the blood in the streets is dry and brown may be it'll loosen now there are men out on the street covered in bin lining shovelling blood into barrows all day. all night. under the endless rain more blood running in the open drains something's eating at my soul an insect nibbles at the edges slowly, slowly, scraping away corroding waters lapping up the underbelly of the sea. my soul is a clump of Black earth sitting on water, but how long can it last? how long can the donkey bear its load? slowly, the inside crumbles piece by piece grain after grain floating away on the dark, green sea sinking with time. Olu Oguibe, Letter to his mother Wie leben wir mit Archiven, die die Abrisse der dunklen Momente unserer Menschheit in sich aufnehmen? Jene Konstrukte, die Zeugnisse wie Fotografien, Zeitungsausschnitte wie auch Objekte beherbergen, nehmen in zeitgenössischen Diskursen fast monumentalen Raum ein. Ist dieser rigide Charakter nicht vor allem der HĂŒlle zu schulden? Lieblosigkeit in der archivarischen Praxis als Methode, um das starre GefĂŒge einer Sammlung von Kolonialerbe zu entzerren, der eigene Körper als Interventionsrahmen und die Sinnlichkeit als Widerstand, dies sind nur einige Punkte des Arbeitens mit der toxischen Sammlung von Colonial Neighbours, einem Archivprojekt von SAVVY Contemporary. Im immerwĂ€hrenden Versuch, monumentale Kreationen zu dekonstruieren, mĂŒssen Instrumente der Intervention im Kollektiv erarbeitet werden. Dem sei vorausgesetzt, dass Körper unterschiedliche Erfahrungen, (Un-)Wissen, Konflikte und Dringlichkeiten mit sich tragen; somit mĂŒssen wir auch bereit sein, uns in der kuratorischen Denke auf mehrere Methoden einzulassen. Monumentale und konservative Formate, die Menschen einschrĂ€nken oder gar diffamieren, mĂŒssen hinterfragt werden, und als einfachstes Mittel steht uns der eigene Körper zur VerfĂŒgung. Der Körper als Archiv, ein (un-)wissendes Wesen, SinnestrĂ€ger:in und Akteur:in zugleich, bietet in seiner KomplexitĂ€t vor allem in der Beziehung zu anderen ein wahrhaftiges Universum an (Un-)Möglichkeiten. Wie wir einander begegnen und uns aufeinander beziehen, mag zunĂ€chst simpel erscheinen, setzt jedoch den maßgeblichen Rhythmus zwischen den Körpern und dem gemeinsam Erfahrbaren. Erst wo Vertrauen im Kleinen erahnt wird, kann reziproke Kommunikation entstehen. Dieser Zugang spielt vor allem in der Vermittlungsarbeit in den Workshop- und Bildungsformaten von Colonial Neighbours eine wichtige Rolle. Das Archiv Colonial Neighbours ist ein fortlaufendes, partizipatives Archiv- und Forschungsprojekt von SAVVY Contemporary, das sich mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Nachwirkungen und KontinuitĂ€ten in die Gegenwart auseinandersetzt. Durch den kollektiven Sammlungsprozess werden LĂŒcken und Auslassungen im deutschen kollektiven GedĂ€chtnis adressiert sowie dominante Wissensordnungen und Geschichtsschreibungen hinterfragt. Das Archiv dient darĂŒber hinaus als Plattform fĂŒr Diskussionen und Austausch sowie als Ausgangspunkt fĂŒr Kollaborationen mit Akteur:innen unterschiedlicher Bereiche. Dem Konzept von „Geschichte als Verflechtung“ (vgl. Conrad & Randeria) folgend zielt das Projekt darauf ab, mit historischen Dichotomien zu brechen und ein differenzierteres Bild aktueller Lebenswelten in Berlin zu zeichnen. Objekte, ob AlltagsgegenstĂ€nde, kommerzielle Produkte oder andere materielle wie immaterielle Spuren der Geschichte, wie Worte, Lieder, Erinnerungsfragmente und mĂŒndlich ĂŒberlieferte Geschichten, fungieren als Mediator:innen, um die verflochtene(n) Geschichte(n) zwischen Deutschland, dem afrikanischen Kontinent, China und den kolonialisierten Gebieten im Pazifik zu erzĂ€hlen. Das Archivprojekt bietet Raum zur Dokumentation dieser Silenced History sowie zur kritischen Untersuchung von (historischen) Kolonialismen und zeitgenössischen KolonialitĂ€ten (AnĂ­bal Quijano, 2010). Als „radical“ oder „living archive“ hinterfragt es das Archiv als hierarchischen Ort der Wahrheits- und Geschichtsproduktion, an dem die Verflechtung von Macht und (kolonialer) Wissensproduktion ihren Ausdruck findet. Der Anthropologe Arjun Appadurai begreift unabhĂ€ngige, nicht staatliche Archiv- und Dokumentationsprojekte als soziale Werkzeuge und als Interventionen. Ausgehend von diesen Überlegungen und ĂŒber den Sammlungscharakter hinaus stellt das Archiv das Fundament fĂŒr Auseinandersetzungen unterschiedlicher Natur dar. Als Plattform fĂŒr Austausch und Dialog ist es gleichsam ein Ort fĂŒr Kollaborationen mit KĂŒnstler:innen, Kulturproduzent:innen, Wissenschaftler:innen, Aktvist:innen und weiteren Akteur:innen. Vermittlungsarbeit ist auf mehreren Ebenen ein wichtiger Bestandteil des Archivprojekts. Beginnend mit der Wiedergabe der Geschichten hinter den Objekten ĂŒber das Ausstellen und die Konstellationen, die Nahbarkeit zu den Schenkungen bis hin zu klassischen Bildungsformaten – in all diesen Bereichen werden die Formen der PrĂ€sentation und ZugĂ€nglichkeit von Wissensvermittlung hinterfragt. Im Vordergrund steht hier das Moment der Erfahrung. Die fragmentierte Mappe zu dem kollektiven GedĂ€chtnis beruht auf Beziehungen zu den toxischen Spuren der kolonialen Vergangenheit. Die Aufgabe von Vermittlung ist demnach meines Erachtens, das Erfahrbare zugĂ€nglich zu machen. Doch wie vermittelt man toxischen Schrott, der nach Rassismus und Gewalt mieft? Welche Mittel werden in anderen Sammlungen, die gewaltvollen Inhalt beherbergen, eingesetzt? Wie werden die Inhalte von Archivmaterial, die sich mit staatlich organisierten Völkermorden und kollektiver Vernichtung auseinandersetzen, vermittelt? Mit welchen Methoden werden die KontinuitĂ€ten von UnterdrĂŒckungspolitik und Verbrechen, bei denen wir im zeitgenössischen GefĂŒge als Akteur:innen fest verankert sind, körperlich erfahrbar und konkret „gemacht“? Erfahrung und subsequenterweise Verantwortung gegenĂŒber der damaligen und nun heutigen Zeit mĂŒssen somit thematisiert und erfassbar gemacht werden. Bei Colonial Neighbours ist der Rahmen eines klassischen Archivs nicht gegeben. Als Parainstitution ist SAVVY Contemporary losgelöst von musealen EinschrĂ€nkungen. In ihrer Arbeit muss sie sich den konventionellen Vorgaben des Ausstellens nicht beugen und kann den Handlungsspielraum frei von ReprĂ€sentation und Zugang leiten. Lieblosigkeit wird zur bewussten Methode, um mit den Objekten, die oftmals rassistische und menschenunwĂŒrdige Inhalte wiedergeben, umzugehen. Klassische Barrieren wie Öffnungszeiten, Lagerung, kuratorische Entscheidungen, Hierarchie der Objekte, Standort der Sammlung oder Umgang mit dem materiellen und immateriellen Erbe werden hinterfragt. Ein „Giftschrank“ darf nicht nur gespeist und gepflegt werden, RĂ€ume der Intervention mĂŒssen im Kollektiv entwickelt werden. Das Archiv wird in kĂŒnstlerischen Interventionen wie Performances, Ausstellungen oder Recherchearbeiten stĂ€ndig und kontinuierlich aktiviert. Besucher:innen sind gleichermaßen eingeladen, Konstellationen zu den Objekten zu Ă€ndern und mit subjektiven Geschichten BeitrĂ€ge zu leisten. In diesem Prozess, in dem ein haptischer Zugang gewĂ€hrt wird, muss der Verfall der Objekte der Sammlung akzeptiert werden. Die innewohnende Gewalt und der Geist der Sammlung können nicht in einem geschlossenen System dekonstruiert werden; Zufall, Reaktionen und RĂ€ume der Aversion mĂŒssen einbezogen werden. Es gilt vor allem fĂŒr die Arbeit mit Archiven, die toxische Objekte beherbergen, dass Wege gefunden werden mĂŒssen, um ZugĂ€nge poröser und verletzlicher zu gestalten; HandlungsrĂ€ume von Akteur:innen hingegen sollten auch langsamer und weicher werden dĂŒrfen. ZugĂ€nge und GefĂŒhle als Reaktion sollen in Aktion ĂŒbersetzt werden. Sinnlichkeit zu kultivieren bedeutet, Formate zu konzipieren, in denen wir GerĂŒchen mehr Raum geben, unsere Tastsinne aktivieren und das gemeinsame Lauschen ĂŒben. Unsere Erinnerungswelten sind fragile Konstrukte im Exil der Vorstellung, durch das Eintauchen mittels anfangs einfacher AtemĂŒbungen wird die Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenĂŒber zu einer allmĂ€hlichen BrĂŒcke des nĂ€chsten Körpers. Gemeinsames Atmen, so simpel es auch sein mag, ist Form der gemeinsamen Praxis des Widerstandes, in der „I can't breathe” zum Symptom unserer Massengesellschaft wurde. Die kollektive Auseinandersetzung mit dem Archiv schlĂ€gt in der Arbeit von SAVVY Contemporary einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem sie versucht, heutige gesellschaftliche Konstellationen als Nachwirkungen vergangener und ĂŒberwunden geglaubter PhĂ€nomene zu deuten. In Zeiten von Pegida und AfD, dem ansteigenden Rechtsruck innerhalb der EU, der von einer Zunahme von Nationalismus geleitet wird, erscheint es umso notwendiger, wiederkehrende (bildliche) Denkmuster in ihrer geschichtlichen Persistenz und KontinuitĂ€t zu analysieren und sie in weiterer Folge wirkungsvoll zu dekonstruieren. Durch diverse Formate wie Lesungen, Installationen, walks in der Nachbarschaft und Gruppenarbeiten mit SchĂŒler:innen hinterfragen wir unser kollektives (koloniales) Bild- und GefĂŒhlsgedĂ€chtnis und dessen fortwirkende Konstruktion des Anderen in Bildung, Medien und PopulĂ€rkultur. In diesem permanenten Versuchsakt, wie stereotypes und kolonial-rassistisches Wissen ĂŒber ReprĂ€sentationen konstruiert, verbreitet und reproduziert wird, ist es notwendig, HandlungsrĂ€ume zu schaffen. Über Interventionen durch KĂŒnstler:innen und Aktivist:innen sowie Verflechtungen von kolonialen Bild- und GefĂŒhlswelten nĂ€hert sich SAVVY Contemporary Konzepten von Selbst- und Fremdkonstruktionen und deren KontinuitĂ€ten und lĂ€dt somit das Kollektiv ein, ĂŒber die gegenwĂ€rtigen Ausformungen zu reflektieren. Wenn Erinnerungspolitik und Denkmalpflege einfach zu abstrakt geworden sind und in dem instrumentalisierten GefĂŒge von Geschichtsrevisionismus, orchestrierten LĂŒcken in der Geschichtsschreibung und Amnesie die unĂŒberwindbare Kraft der Zeit Alliierte wird, dann benötigt es enormen Aufwand, um gemeinsam ein kollektives GedĂ€chtnis des Widerstands zu kultivieren. Ausgehend von der kleinsten Einheit, dem eigenen Sein, tastet sich das Projekt Colonial Neighbours in seiner Arbeit langsam an das Gemeinsame heran. Expansionen, Besetzungen, Zwangsarbeit und Völkermorde sind keine abstrakten Themen, die als Genre in einer Schublade der verstaubten Historie gehortet werden können, denn die Nachwehen sind tief und bis in unsere Gegenwart verwebt. FĂŒr einige von uns mag es ein entferntes Konstrukt der Ungleichheit sein, fĂŒr andere sitzen die Wunden tief und die multiplen Traumata direkt unter der Haut. Aus diesem Grund können wir es uns in unserer Arbeit als Kulturschaffende schlichtweg nicht (mehr) leisten, die Perspektive von fragmentierten Körpern und Communities nicht als wichtigen Impuls miteinzubeziehen. Wenn wir unseren eigenen Körper wie Caroline Randall Williams, die ihre Hautfarbe als Monument der Gewalt betrachtet, als Ausgangspunkt nehmen, dann entfernen wir uns von der Annahme, dass DenkmĂ€ler in Stein gemeißelte, oftmals von Steuergeldern bezahlte, starre Konstrukte sind. Kriegsheld:innen, Dichter:innen und Politiker:innen auf Sockeln werden nicht mehr ungefiltert zelebriert, ebenso ist leider auch so manch gut gemeintes Mahnmal nur ein Abriss jenes Schattens der Erinnerung, die in uns lebendig gerufen werden soll. Kriegsverbrechen, Traumata und lĂŒckenhafte Erinnerungskonstrukte sind so zahlreich wie die Körper, die diese Monumente tagtĂ€glich passieren. Unser gebrochenes Dasein beschrĂ€nkt sich nicht nur auf unsere Erinnerungen oder unsere GefĂŒhlswelt, auch unser kreatives Schaffen wirft Schatten dieser KontinuitĂ€t. Somit trĂ€gt nicht zuletzt die kreative und kĂŒnstlerische Arbeit der Vielen diesen gebrochenen Korpus weiter. Gedichte wie Olu Oguibes „Letter to his mother“, das vor mittlerweile 30 Jahren geschrieben wurde und vielerorts bedauerlicherweise fortwĂ€hrend seinesgleichen sucht und findet, ist nur eine der vielen Formen fragmentierter Körper, die es gilt, im Kollektiv zu lesen und zu hören. Lynhan Balatbat-Helbock ist Kuratorin und leitet ein partizipatives Archivprojekt bei SAVVY Contemporary in Berlin. Sie studierte Postkolonial Cultures and Global Policy an der Goldsmiths University of London. Seit 2014 lebt sie in Berlin und arbeitet unter anderem an dem permanenten Archivprojekt Colonial Neighbours. In ihrer Arbeit in der stĂ€ndigen Sammlung von SAVVY Contemporary sucht sie nach kolonialen Spuren, die sich in unserer Gegenwart manifestieren. Literatur Oguibe, 1992. A Gathering Fear. Bayreuth: Boomerang Press Conrad & Randeria, 2002. Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. S. 33 Stoler, Ann Laura/Cooper, Frederick, 1997. Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda. In: dies. (Hg.). Tensions of empire: colonial cultures in a bourgeois world. Berkeley: Univ. of California Press. S. 1–56 Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hg.), 2005. Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. MĂŒnster: Unrast „The archive as deliberate project is based on the recognition that all documentation is a form of intervention and thus, that documentation does not simply precede intervention but is the first step. (...) This further means that archives are not only about memory (and the trace or record) but about the work of the imagination, about some sort of social project. These projects seemed, for a while, to have become largely bureaucratic instruments in the hands of the state, but today we are once again reminded that the archive is an everyday tool.“ (Appadurai, Arjun, 2003. Archive and Aspiration. In: Brouwer, Joke/Mulder, Arjen (Hg.). Information is Alive. Rotterdam: V2_Publishing/NAI Publishers. S. 14–25 Opinion: You Want a Confederate Monument? My Body Is a Confederate Monument https://www.nytimes.com/2020/06/26/opinion/confederate-monuments-racism.html Lynhan Balatbat-Helbock, Foto: (c) Mc Ryan Melchor 1

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