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  • Greifbarkeiten – Gedanken zu Ritualen in Kunst und Kunstvermittlung | Issue 4 | appropriate!

    Maja Zipf Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstvermittlung in der Praxis Maja Zipf Kreatives Arbeiten im Workshop / Auseinandersetzung mit dem Thema Widerstand durch Papier/Material. © Maja Zipf 2022 Freies Arbeiten im Workshop / Schulklasse im Workshop, © Maja Zipf 2023 Kunstvermittlung im öffentlichen Raum © Maja Zipf 2023 „Wieso soll ich das denn jetzt kaputt machen?“ fragte mich Lena mit großen Augen. Lena hatte mit ihrer Schule einen Ausflug in den Kunstverein Wolfenbüttel gemacht und befand sich in einem meiner Workshops über die gezeigte Ausstellung „Eigentum und Sicherheit“ von Nadine Fecht. Sie saß an einem Tisch und vor ihr lagen verschiedene Papiere und Pappen, Scheren, Bleistifte und Cutter. Die Schüler:innen waren dazu eingeladen sich dem Thema Widerstand anzunähern. Sie konnten beispielsweise ausprobieren, wie nachgiebig oder robust ein Material ist, wie sich Widerstand anfühlt oder welche eigenen Widerstände in einem vorhanden sein können, wenn etwas absichtlich zerstört wird. Lena wirkte irritiert. Als Kunstvermittlerin fragte ich mich, wie ich mit Lenas Frage umgehen werde. Die Situation mit den Schüler:innen zeigte mir mal wieder, wie eng unser Bildungssystem gestrickt ist und wie wenig Spielraum für Experimente in den Schulen existiert. In der Schule sind wir es gewohnt, nach vorne zur Tafel zu schauen, einer Stimme zuzuhören, die uns erklärt was richtig und was falsch ist. Es werden Aufgaben gestellt, Abgabetermine festgesetzt und Zensuren verteilt. Neben dem affirmativen Unterricht sollen Gruppenaufgaben, Referate und Projekte einen Ausgleich darstellen. Aber eins haben all diese Lernformen gemeinsam, nämlich den klaren Arbeitsauftrag, den Erwartungshorizont und die Zensur am Ende. Dadurch wird den Schüler:innen stark vorgegeben, was gemacht werden soll. Solche Machtverhältnisse existieren nicht nur in den Schulen, wie beispielsweise die Hierarchie zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen, sondern auch in der Kunst, in den Museen und in der Kunstvermittlung selbst. Umso wichtiger ist eine emanzipierte und kritische Kunstvermittlung, die solche impliziten Machtverhältnisse widerspiegelt und kritisch hinterfragt. Auch in meiner eigenen Praxis erlebe ich häufig implizite Machtverteilungen. Vor allem in Workshops mit Schüler:innen, die durch die Schule einen affirmativen Unterricht gewohnt sind. Durch das Verhalten der Schüler:innen wird deutlich, dass diese davon ausgehen, dass ich als Vermittlerin eine höhere Machtposition habe, da ich den Workshop anleite. Doch genau solche Rollenverteilungen dürfen hinterfragt und gebrochen werden. Denn in einer kritischen Kunstvermittlung spielt nicht die vermittelnde Person oder ausschließlich die Kunst eine zentrale Rolle, sondern alle Beteiligten. Durch gemeinsames reflektieren, erfahren und sich austauschen können sowohl die Schüler:innen, als auch die Vermittler:innen zu neuen Denkanstößen gelangen. Unsere Möglichkeiten zu Lernen sind vielfältig. Selbstbestimmte Herangehensweisen, die eigenen Erfahrungen und ein spielerischer Umgang sind ebenso wichtig, wie die Erklärungen im Frontalunterricht. Der Mensch lernt durch beobachten, ausprobieren und Fehler machen. In der Schule bezieht sich unser Lernen vor allem auf das „was“ und nicht auf das „wie“ (Gompertz, 2016, S. 201). Lernen scheint für die Wiedergabe von Wissen zu stehen und sich weniger mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das Lernen gelernt werden kann. Die Folgen sind ein zu hohes Lernpensum und ein Verlust an Neugierde, Spontanität und Flexibilität. So saß Lena da und ich versuchte sie zu motivieren sich dem Thema anzunähern. Ich setzte mich neben sie und fragte, was genau sie gerade schwierig findet. Als Kunstvermittlerin benutze ich gerne die Frage als Möglichkeit ein Gespräch zu eröffnen. Wenn jemand eine Frage stellt, wird im besten Fall nach einer Antwort gesucht. Durch dieses Suchen wird die Urteilsbildung angeregt. Es braucht dabei nicht immer eine klare Antwort. Allein die eigenen Überlegungen oder die Feststellung, dass man sich unsicher ist, können aufschlussreich sein und zu neuen Erkenntnissen führen. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage wird sich einem Sachverhalt angenähert. Die Kunstvermittlung versucht dem Individuum einen gedanklichen Raum zu eröffnen, in dem beispielsweise eigene Zugänge zu einer künstlerischen Arbeit thematisiert werden. Neben dem spielt ästhetische Bildung eine relevante Rolle für die Kunstvermittlung. Ästhetische Bildung beschreibt vereinfacht gesagt ein sinnlich orientiertes Wahrnehmen und Deuten von Wirklichkeit (Schiefer 2006, S. 11). Somit beschreibt die Vermittlung von ästhetischer Bildung einen Gegenpol zu einem rein logischen und begrifflich orientierten Weltzugang. Ästhetische Bildung verstärkt nicht nur die Sensibilität des Individuums, sondern auch die Kreativität, Fantasiefähigkeit und die eigene Urteilsbildung, die wiederum einen Einfluss auf die Identitätsbildung haben kann (Schiefer 2006, S. 17). Dementsprechend wird in der Kunstvermittlung nicht nur der Inhalt einer künstlerischen Arbeit thematisiert, sondern auch die Frage was das Individuum sehen, wahrnehmen und fühlen kann. Die Frage: „Was hat diese Arbeit mit mir zu tun?“ kann helfen individuelle Zugänge zur künstlerischen Arbeit herzustellen. In meiner Praxis wird deutlich, dass die Geschmäcker und Ansichten über Kunst nicht unterschiedlicher sein können. Daher spielt Kommunikation und Partizipation eine entscheidende Rolle. Denn durch einen gemeinsamen und kritischen Diskurs über Kunst, können wir aufgrund unserer unterschiedlichen Meinungen, Geschmäcker und Erfahrungen voneinander lernen und profitieren. Lena antwortete: „Ich weiß nicht, was genau ich jetzt machen soll und verstehe den Sinn dahinter nicht. Das ist komisch?“ Ich sagte zu ihr, dass diese Gefühle, die sich in ihr eröffnen, die ersten Schritte sein können sich dem Thema Widerstand anzunähern. Sie kann selbst gerade erleben, dass sie Widerstände in sich spürt. Irritation kann eine Chance sein neue Eindrücke zu bekommen. Die daraus resultierenden Anstöße, Anregungen und Impulse, können zu einer Erweiterung der eigenen Vorstellungskraft führen (Schiefer 2006, S. 12). Durch ungewohnte Situationen können wir uns selbst auf eine bisher unbekannte Art und Weise erleben. Durch den Abgleich zwischen dem Subjekt und den äußeren Einflüssen entsteht die Frage „Wer bin ich im Verhältnis zum Anderen, zum Fremden, zum Neuen etc.?“. Dabei ist die Reflexion der eigenen Wahrnehmung ein wichtiger Bestandteil, um die persönliche Urteilsbildung anzuregen (Schiefer 2006, S. 12). Lena wirkte etwas verdutzt, als sie feststellte, dass sie wirklich diesen Widerstand in sich fühlte. Ich bot ihr an, die Gefühle, die in ihr ausgelöst wurden zum Ausdruck zu bringen und erklärte ihr, dass sie jetzt die Möglichkeit hat etwas auszuprobieren, was sie sonst nicht tun würde. In einem Nebensatz sagte ich zu ihr: „Mach dir keine Sorgen, es gibt hier keine Noten und auch kein richtig oder falsch.“ In den Workshops mit Schüler:innen wird deutlich, dass der freie Umgang mit Kunst zu neuen Perspektiven über einen selbst und der eigenen Umgebung führen kann, die losgelöst sind von den Maßstäben, Regulatorien und Zensuren des Schulbetriebes. Neben der Frage, was die Kunstvermittlung vermitteln soll, steht immer auch die Frage im Raum wie eine erfolgreiche, kritische Kunstvermittlung gestaltet werden kann. In meinem zweiten Beispiel thematisiere ich das Potenzial von Kunst im öffentlichen Raum und der damit einhergehenden Vermittlung. In meinem Praktikum im Kunstverein Wolfenbüttel habe ich die Ausstellung KiöR- Bestandaufgabe als Kunstvermittlerin begleitet. In dieser Ausstellung haben regionale Künstler:innen unterschiedliche Plätze innerhalb und außerhalb der Stadt Wolfenbüttel bespielt. Das Thema der Ausstellung bezog sich auf die Frage, wie mit alten Beständen umgegangen wird, wie neuer Bestand entstehen kann und wie die Künstler:innen die Stadt widerspiegeln. Neben dem Vorteil, dass der Außenraum währen der Covid-19 Pandemie eine gute Möglichkeit darstellte Kunst zu rezipieren, wollte der Kunstverein auch Menschen erreichen, die sich sonst weniger für Kunst interessieren. Für die Ausstellung KiöR wurden Künstler:innengespräche und Workshops angeboten. Zusätzlich sollten Kunstvermittler:innen sich bei ausgewählten Orten platzieren und versuchen mit den vorbeikommenden Menschen ins Gespräch zu kommen. Ausgestattet mit einem beschrifteten T-Shirt, ein paar Flyern und Stadtplänen ging ich zu meiner Tagesstation, die in einem kleinen Stadtpark lag. Als ich dort ankam wusste ich nicht, wie ich mich am besten platzieren sollte. Die künstlerische Arbeit stand auf einer Wiese, die hinter ein paar Büschen und Bäumen versteckt lag. Um die Arbeit betrachten zu können, musste erst einem kleinen Weg gefolgt werden. Die zweite Möglichkeit bestand darin weiter in den Park zu gehen und von einer Brücke aus auf die künstlerische Arbeit zu schauen. Der Nachteil daran war, dass die Arbeit dann nur aus der Distanz betrachtet werden konnte. So musste ich mich zwischen diesen beiden Positionen entscheiden, die ihre Vor- und Nachteile beinhalteten. Ich entschied mich für den kleinen Weg, in der Hoffnung ein paar Menschen zu motivieren sich die gezeigte Arbeit von Nahem anzuschauen. Neben der Frage nach einer geeigneten Platzierung, war auch meine Sichtbarkeit schwierig. Da wir keine Stände oder Tische hatten, musste das bedruckte T-shirt ausreichen, um meine Funktion als Kunstvermittlerin erkennbar zu machen. Die Flyer legte ich auf die Erde. In diesem Moment fühlte ich mich wenig professionell. So stand ich am Wiesenrand und wartete darauf, dass Leute vorbeikamen. Nach einer Weile fuhren ein paar Fahrradfahrer:innen vorbei, die ich natürlich nicht anhalten konnte. Es folgten Spaziergänger:innen, die allerdings häufig in einem Gespräch vertieft waren, wodurch sich bei mir Hemmschwellen aufbauten. Ich wollte nicht unhöflich sein und die Menschen in ihrem Gespräch unterbrechen. Dazu kam, dass die künstlerische Arbeit nicht direkt gesehen werden konnte, was es zusätzlich schwieriger machte die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Es wurde deutlich, dass ich die Initiative ergreifen musste, um ein Gespräch zu initiieren. Am besten gelang es mir Personen anzusprechen, die neugierig schauten. Dann fragte ich sie, ob sie von der aktuellen Ausstellung KioR vom Kunstverein Wolfenbüttel gehört hätten. Mit einigen ging ich anschließend gemeinsam zur Wiese um die künstlerische Arbeit zu betrachten. Anderen gab ich nur ein paar Informationen zu den bespielten Plätzen in der Stadt und verwies auf den Kunstverein. Im Kontrast zu der Situation im Park war die Vermittlung in der Stadt eine ganz andere. Am nächsten Tag stand ich in der Nähe des Stadtzentrums direkt neben der künstlerischen Arbeit. Dort traf ich Menschen, die etwas von der Ausstellung gehört hatten und sich diese bewusst ansehen wollten. Durch das Interesse der Besucher:innen war es einfacher ein Gespräch zu eröffnen. Ein interessanter Aspekt des KiöRs war die Tatsache, dass Hemmschwellen nicht nur bei den Betrachter:innen abgebaut werden mussten, sondern auch bei den Vermittler:innen selbst. Im Kontrast zur Kunstvermittlung im Museum braucht die Vermittlung im öffentlichen Raum andere Herangehensweisen. Im Museum müssen die Kunstvermittler:innen nicht spontan Personen ansprechen, wodurch Momente der Störung entstehen, sondern kommunizieren mit einer Gruppe, die sich im Vorfeld für eine Führung oder ähnliches entschieden hat. Das impliziert eine bewusste Entscheidung und Erwartungshaltung von den Besucher:innen und schafft somit den Rahmen für einen Diskurs. Trotz der Hürde ein Gespräch zu eröffnen, bekommt die Kunstvermittlung in der Konstellation vom KiöR eine Chance, genau die Menschen zu erreichen, die sich sonst wenig bis gar nicht aus sich heraus für Kunst interessieren und nur zufällig an einer künstlerischen Arbeit vorbei kamen. Durch diese Spontanität können beispielsweise mögliche Schwellenängste überwunden werden. Es gibt keine Eintrittskosten, keine einschüchternde Gebäude und kein fein gekleidetes Personal. Dazu kann Kunst im öffentlichen Raum teilweise berührt oder verändert werden und spiegelt gesellschaftliche Prozesse wider. Es können Anregungen für ein Gespräch mit Freunden und Familie entstehen, die wiederum zu neue Perspektiven und Gedanken führen. Kunst im öffentlichen Raum ist ein mächtiges Werkzeug um Missstände zu visualisieren, Orte zu verändern und dadurch einen Einfluss auf den Alltag vieler Menschen zu haben. Kunst im öffentlichen Raum ist nicht nur für ein fachspezifisches Publikum da, sondern für all diejenigen, die sich damit beschäftigen wollen. Egal, wo wir der Kunst begegnen, entscheidend ist unsere eigene Haltung zu ihr. Der Mehrwert von Kunst und Kunstvermittlung wird erst erfahrbar, wenn wir die Bereitschaft haben uns der Kunst zu öffnen und uns mit ihr auseinandersetzen. Durch eine kritische Kunstvermittlung können wir uns der Kunst annähern und existierende, implizite Machtverteilungen hinterfragen und neu verhandeln. So kann ein Status Quo einer kritisch, emanzipierten Kunstvermittlung etabliert werden, die durch die Partizipation der Beteiligten geprägt wird. Kunstvermittlung tritt in Interaktion mit den Beteiligten und schafft verbindende Erlebnisse, die wiederum Einfluss haben können auf die subjektiven Empfindungen und Gedanken über und zur Kunst. Referenzen (1) Gompertz, Will: „Denken wie ein Künstler: Wie Sie Ihr Leben kreativer machen.“ Dumont, 2016. (2) Schiefer Ferrari, Markus, Kirchner Constanze, and Spinner, Kaspar H.: „Ästhetische Bildung und Identität.“ Kontext Kunstpädagogik Band 8, 2006. Maja Zipf ist Künstlerin und Kunstvermittlerin. In ihrer künstlerischen Arbeit arbeitet sie multimedial mit dem Schwerpunkt auf Video und Malerei. Thematisch beschäftigt sie sich mit Körper(idealen), Selbstoptimierung und der Visualisierung von Gefühlszuständen. Neben dem Studium an der HBK Braunschweig bei Wolfgang Ellenrieder, begleitet sie Workshops und Ausstellungen im Kunstverein Wolfenbüttel. 1

  • Issue 2 Editorial | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Editorial Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn und Julika Teubert Editorial Issue 2: Demokratisierung Das appropriate! Journal widmet sich in dieser Ausgabe der Demokratisierung. Der Begriff bezeichnet sowohl die Einführung von Demokratie in ehemals autoritär regierten Staaten als auch die kritische Weiterentwicklung von liberalen westlichen Demokratien. Letzteres ist genau genommen eine Demokratisierung der Demokratie. In der Zivilgesellschaft, deren Teil auch aktivistische Kunst ist, wird Demokratisierung meist als Kampfbegriff benutzt, um gesellschaftliche Bereiche, die undemokratisch sind, zu verändern. Gesellschaftliche Institutionen wie etwa das Bildungssystem an Schulen und Universitäten, die Kirche, Gefängnisse und Krankenhäuser sowie intransparente Bereiche in der Politik und Wirtschaft werden hierfür einer kritischen Prüfung unterzogen. Unser Verständnis von Demokratisierung sowohl in der als auch durch die Kunst entspricht diesem Ansatz. Demokratisierung gründet dabei auf den Prinzipien Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Anerkennung von Differenz und fordert, dass diese Grundsätze auch in der Praxis Anwendung finden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in kollektiven und partizipatorischen Vermittlungsprojekten einer Demokratisierung von unten Vorschub geleistet, die sich gegen intersektionale Diskriminierungen unterschiedlicher Prägung wendet. Die sieben Beiträge dieser Ausgabe widmen sich den Bereichen Bildung und Kultur, dem Kunstbetrieb und der Antidiskriminierungsarbeit und fragen nach Anwendungsmöglichkeiten von demokratieförderndem Handeln im Alltag und in der Kunst: Pinar Dogantekin sprach mit Bożna Wydrowska über Wydrowskas künstlerische und aktivistische Praxis und Lebensrealität als genderfluide Person im sehr konservativ regierten Polen. Der Interviewbericht beschreibt die Problematik von Künstler:innen, Journalist:innen und der LGBT+-Gemeinschaft, die unter der fortschreitenden Zensur durch die Regierung leiden. Beeindruckend ist Wydrowskas künstlerische Antwort auf das aktuelle politische System, in der Elemente der Ballroom-Culture und des Voguing als Teil des Widerstands funktionieren und die als Angebot für andere Menschen verstanden werden kann, das eigene Verständnis von Geschlecht und Geschlechterrollen neu zu beleuchten und sich von Konventionen zu trennen. Im zweiten Interview dieses Issues sprachen Daphne Schüttkemper, Jonna Baumann und Nano Bramkamp mit Jens Kastner und Lea Susemichel, den Autor:innen des Buchs „Identitätspolitiken¬¬ – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“. Von diesem Interview ausgehend fragt ihr Textbeitrag nach den unterschiedlichen Konzepten von Identität und welchen Zweck diese für die Gesellschaft haben. Identitätspolitiken werden auf ihr polarisierendes Potenzial hin untersucht. Dabei wird eine wichtige Differenzierung von linker Identitätspolitik und rechter Identitätspolitik vorgenommen. Im Praxisteil werden zwei Projekte vorgestellt, die einem aktivistischen Ansatz folgend das Ziel vereint, neue Formen von demokratischer Partizipation zu entwickeln und konkret auszuprobieren. Studierende der Kunstvermittlung der HBK haben im vergangenen Semester in Kooperation mit „Demokratie leben!“ Braunschweig und der Volkshochschule Braunschweig ein Vermittlungsprojekt auf dem Wollmarkt in Braunschweig konzipiert und umgesetzt. Ziel war es, eine Möglichkeit zum Austausch über Demokratie zu schaffen und ein Zusammenkommen in Präsenz zu gestalten. Martin Krenn, Andreas Baumgartner und Paula Andrea Knust Rosales berichten über die Intention des Platz_nehmen Projekts, über Entstehungsprozess und Umsetzung. Zentral ist dabei der Begriff Demokratie, nicht nur in Bezug auf den Umsetzungszeitraum, sondern auch im Kontext der Gruppenarbeit. Dabei kommt auch der Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien, über die in der Gesellschaft marginalisierte Gruppen nicht verfügen, eine wichtige Rolle zu. Das Kollektiv Bricking Through stellt ein Website-Projekt vor, das während der Coronapandemie entstanden ist und den digitalen Raum demokratisieren will. Statt weiterhin Datenkraken wie Facebook und Co. zu füttern, wollen Bricking Through mit ihrem Projekt eine – vor allem User:innen-gerechte – Alternative aufzeigen. Es handelt sich dabei um ein Work-in-Progress-Projekt: Es entsteht eine soziale Plattform, die Daten von User:innen schützt und zusätzlich den künstlerischen Austausch für +18-Inhalte mit hohen Sicherheitsstandards gewährleisten soll. Ihr Anspruch ist es, inklusiv, demokratisch und rücksichtsvoll miteinander zu denken und zu arbeiten. Julika Teubert bespricht den Sammelband „MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN, Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“. Das von Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg und Linda Kelch herausgegebene Buch erschien in diesem Sommer und behandelt unter anderem die Frage, ob oder wie eine Auseinandersetzung mit Kunst eine demokratische Haltung fördern kann. Zwei Gästinnenbeiträge vervollständigen das Issue 2: Nanna Lüth schreibt in „Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz“ im Kontext einer parteilichen und demokratisierenden Kunstvermittlung über den Zusammenhang von Humor und Differenzkritik. Dabei widmet sie sich den Fragen, in welchem Verhältnis Humor und Demokratie stehen, und wie Ambiguitätstoleranz als wichtiger Aspekt demokratischer Gemeinschaften durch die pädagogische Arbeit gefördert werden kann. Ihre Überlegungen fundiert sie nicht nur theoretisch, sondern veranschaulicht sie auch an einem Praxisbeispiel aus einem ihrer Seminare zu dem Thema, wie Unsinn und Verwirrung Ambiguitätstoleranz fördern können. In ihrem Beitrag „Arbeitsbedingungen verbessern! Aber wie?“ unterbreitet Mirl Redmann einen Vorschlag für mehr Inklusion und Diversität von Kulturarbeiter:innen als Bedingung demokratischer Strukturen im Kulturbetrieb. Die Autorin sieht das Potenzial einer Stärkung demokratischer Strukturen aus dem Inneren von Kulturinstitutionen heraus. Diesbezüglich fordert sie eine Re-Organisation von Institutionen und Projektprozessen in Heterarchien, was eine Neuverteilung von Macht zur Folge hätte und eine Konsentkultur etablieren könnte. Die Redaktion des Issue 2 | Demokratisierung | setzt sich zusammen aus: Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert

  • Issue 2 Lüth | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz Nanna Lüth Ausgehend von einem Vermittlungsexperiment, das im Rahmen eines meiner Kunstdidaktikseminare stattfand, wendet sich dieser Text Potenzialen von Unsinn bzw. Ironie für Demokratiebildung zu. Argumente von Anja Besand, Gerd Koch, Paul Mecheril und Karl-Josef Pazzini stützen meine These, dass die un_ernste Befragung institutioneller Rahmungen und der eigenen professionellen Perspektive die Reflexivität und die Handlungsspielräume von zukünftigen Kunstlehrer*innen erhöht und vergrößert und eine politische Bedeutung hat. Komisch-werden Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“, um das es weiter unten geht, steht für einen Ansatz, (diskriminierungs-)kritische Kunstpädagogik[1 ] durch den Einbezug von Humor zu unterstützen und zu erleichtern. Humor steht dabei nicht nur für eine offene und konfliktfähige Haltung von Pädagog*innen, sondern er kann auch Konzepte für den Kunstunterricht inspirieren. Humor wird hier als Schirmbegriff verwendet. Man kann unterscheiden zwischen Humor als Haltung oder Persönlichkeitseigenschaft und „Komik als ästhetische[r], dramaturgische[r], mediale[r] Ausdrucksform“ (Hartung 2005: 10). Die Tatsache, dass Komik auf Unstimmigkeit (bzw. Inkongruenz) basiert und somit auf Kontraste oder Überraschungen angewiesen ist, zeigt Parallelen zu künstlerischen Verfahren des Verschiebens und Irritierens auf. Übliche Verfahren der Unterbrechung von tradierten Formen sind Kontextverschiebung, Übertreibung oder Umkehrung. Es ist also naheliegend, dass in künstlerischen oder theoretischen Projekten, die mit normalitätskritischer Agenda Komik einsetzen, etwas für die pädagogische Praxis zu lernen ist. Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ wurde bisher zweimal durchgeführt – einmal an einer Kunsthochschule und einmal an einer Universität. Das Seminarkonzept beruht darauf, sich ausgehend von künstlerischen Arbeiten, praktischen Übungen und theoretischen Texten mit der Relation von gesellschaftlichen Anliegen und Humor zu beschäftigen. Dabei werden verschiedene soziale Zuschreibungen und Ungleichheiten thematisiert. Diese Kombination ist kein Zufall, denn bevorzugte Angriffspunkte von Witzen sind häufig die vermeintlichen Schwachstellen der Anderen. Damit sind Sexualisierung, Rassifizierung/Ethnisierung und andere abwertende Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen – allgemein gesagt das Prinzip des Othering – zentrale Bausteine der Regimes des Lächerlichen. Insbesondere minorisierte Schüler*innen und Lehrer*innen erleben das verstärkt in der Schule (vgl. Klocke 2012; Beigang, Fetz, Kalkum, Otto 2017). Als Gegenmaßnahmen sind das Zurücklachen oder auch ein Umlenken der Aufmerksamkeit auf angeblich normale Umstände denkbar. Manchmal wirkt die Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Mehrheitsphänomene aus der Distanz nämlich auch lächerlich. In welchem Verhältnis aber stehen Humor und Demokratie? Oder: Was hat Komisch-werden mit Demokratiebildung zu tun? Im Folgenden gehe ich auf einige Pädagog*innen ein, die über Verbindungen zwischen Pädagogik, produktiver Verunsicherung und politischer Bildung schreiben. Explizit bezieht sich hierbei nur der Migrationspädagoge Paul Mecheril auf Humor, sprich Ironie. Aus kunstpädagogischer Perspektive werden diese Gedankengänge später ergänzt durch einen Aufsatz von Karl-Josef Pazzini, der sich jedoch nicht ausdrücklich auf Ausdrücke wie politische oder Demokratiebildung bezieht. Die Verunsicherung, auch Be- oder Verfremdung genannt, die durch uneindeutige oder widersprüchliche Momente in pädagogischen Settings bewusst herbeigeführt oder zumindest positiv aufgegriffen wird, dient in den Argumentationen von Paul Mecheril, Anja Besand und Gerd Koch dazu, sich in unbekannte Perspektiven hineinzuversetzen, ohne dabei auf ein vollständiges Verstehen abzuzielen. Damit lässt sich – so formuliert es die Politikdidaktikerin Besand – die demokratische Tugend Ambiguitätstoleranz trainieren. Ambiguitätstoleranz ermöglicht das Agieren unter unbekannten Umständen, für die die Menschen oder die Gesellschaft noch keine Spielregeln oder Lösungswege kennen: „In Demokratien geht es um den Interessenausgleich, um revidierbare Entscheidungen, die Teilung von Gewalt und um den Schutz von Minderheiten, auch wenn sie abwegiger Meinung sind und seltsame Gebräuche pflegen. Ambiguität ist also in der Politik sichtbar, wohin man auch schaut“ (Besand 2020: o.S.). Die Instrumentalisierung von nur scheinbarer Schüler*innenbeteiligung sieht Besand für die Entwicklung von deren Demokratieverständnis als schädlich an. Bei politischer Bildung in der Schule geht es ihrer Ansicht nach nämlich nicht um die Vermittlung von Faktenwissen allein, sondern um das Erleben demokratischer Verfahren und die Übung der Fähigkeit zum Dissens. Zum „Politisch-Werden und Politisch-Sein“ (Besand 2020: o.S.) gehöre es demnach, der eigenen Sichtweise auf die Spur zu kommen, hegemoniale Wertmaßstäbe zu hinterfragen und unterschiedliche Perspektiven anzuerkennen. Mit Mecheril lässt sich an die Relativierung des Diktats vorgegebener Wissensbestände anschließen. Er plädiert aus bildungstheoretischer Perspektive dafür, Entscheidungen über Inhalte und Prozesse des Lernens „in einem radikalen Sinne dem Gegenüber zu überantworten“ (Mecheril 2009: 2). Insofern fordert er von Pädagog*innen Offenheit gegenüber Fremdheitserfahrungen und Verunsicherungen. Das hierfür erforderliche Absehen eines „schwachen“ (Mecheril 2009: 13) und dennoch verantwortungsvollen Subjekts von sich selbst bezeichnet er als ironische Perspektive: „Ironie ist ein Mittel der Wahrnehmung und Artikulation von Ambivalenz, des Sicheinlassens auf Verhältnisse, für die die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein konstitutiv ist. […] Sie lebt von einem Gefallen an dem Disparaten, dem Mehrwertigen und Spannungsreichen, das sie anzeigt, nicht um das Disparate zu belächeln, vielmehr: um es in einem Modus zu erkennen, der sich seiner Kontingenz und Grenzen bewusst ist. Dies kann als Selbstironie bezeichnet werden“ (ebd.). Mit Dieter Baacke nennt Mecheril Ironie „antitotalitär“, da sie ausgleichend wirke und fanatische Stimmen relativiere (vgl. Baacke 1985: 210). Entsprechend weist Mecheril der Ironie eine grundlegende Bedeutung für Demokratie zu. Einen dialektischen Ansatz vertritt der Sozial- und Theaterpädagoge Gerd Koch, der für ein Fremd-Werden eintritt. Mit Bertolt Brecht argumentiert er dafür, „[verbessernd in] gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit [einzugreifen]“ (Koch 2002: o.S.). Das Fremdmachen von vorgefundenen Entfremdungen aufgrund von Herrschaftsverhältnissen kann „in der Form der Kritik geschehen, aber auch in der Weise des positiven Umformens“ (ebd.). Die Destruktion von traditionellen Rollenauffassungen, Weltbildern und Wissensbeständen soll laut Koch durch ein Training im „neuen Sehen“ (ebd.) ergänzt werden. Er interessiert sich darüber hinaus besonders für Unterricht als „artifizielles Gefüge, dessen Konstruktion ständig auf ihren Realitätsbezug hin zu prüfen ist“ (ebd.). Das Komisch-Werden kann mit diesen Positionen also als Förderung bzw. Erprobung von Ambiguitätstoleranz, von Ironie oder auch als Variante des Fremd-Werdens mit dem Ziel der Förderung von demokratischen Fähigkeiten verstanden werden. „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ Dieses Seminar fand im Winter 2017/18 an der Universität der Künste (UdK) Berlin statt und richtete sich an Masterstudierende, die Kunst auf Lehramt studierten. Zentrale Elemente der Veranstaltung waren Vermittlungsexperimente, die meistens von zwei Studierenden für die Mitstudierenden entwickelt, durchgeführt und reflektiert wurden. In der ersten Sitzung stellte ich den Studierenden 17 künstlerische Arbeiten und 13 Texte zur Wahl, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Humor, Differenz und Kritik befassen. Fünf künstlerische Positionen und fünf Texte dienten schließlich als Ausgangspunkte für die studentischen Experimente. An zwei Terminen übernahm eine Person alleine die Vermittlung, so auch im folgenden Beispiel. Über die Produktivität von Unsinn … Ein zur Vermittlung ausgewählter Text heißt „Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären“; er wurde 1999 von Karl-Josef Pazzini geschrieben. In diesem Artikel erhebt Pazzini anhand eines Berichts über den Bildhauer Roman Signer und dessen vergängliche Arbeiten Einspruch gegen die Verengung und Vereindeutigung von Sinnproduktionen. Die zwanghafte Wiederholung, das Festhalten an der immer gleichen Verbindung von Phänomenen mit festen Bedeutungen erzeuge Einbildungen. Diese Fixierung steht Pazzinis Verständnis von Bildung entgegen. Bei seinem Konzept von Bildung muss das Entbilden mit dem Bilden einhergehen: „Bildung kann man nicht haben, lediglich einige [S]ets als Voraussetzung, um bildende Relationen einzugehen, Bereitschaften. Bildung als Eigenschaft ist nichts anderes als Einbildung. […] Bildung lebt von der Beeindruckbarkeit, von der Irritierbarkeit, von Haltung und Stil“ (Pazzini 1999: 2). In diesem Zusammenhang wirbt er für Unsinn als „kleinen Bestandteil dieser Relation“: „Die Produktion von Unsinn und die Produktivität von Unsinn sind Phasen jeglicher Bildung […]. Diese Phase ist von erheblicher Unsicherheit und Angst gekennzeichnet, aber auch von Lust“ (ebd.). Pazzini thematisiert die Gefühle, die für Bildung charakteristisch sind, und schreibt gegen die Gewohnheit an, dass von pädagogischem Handeln verlangt werde, es solle einen bestimmten Sinn bloß rekonstruieren (vgl. Pazzini 1999: 3). Experiment in Edutainment Von Pazzinis Thesen ausgehend entwickelte die Studentin Rosa Kasper einen halbstündigen Seminarteil. Zehn Tage vor der angepeilten Sitzung erhielt ich eine Skizze. Kasper formulierte, ausgehend von dem Text und seinem zentralen Begriff, dem Unsinn, eine Reihe von Ideen, haderte jedoch mit ihrem Anspruch der Wissensvermittlung. Sie schrieb: „Mir fällt noch keine Aufgabe ein, die Sinn macht, also man kann ja alles mögliche machen, um Unsinn zu produzieren, aber wo bleibt dann der Wissensgehalt für die Schüler?“ (Kasper per E-Mail, 8.1.2018). Ihr Anspruch richtete sich auf Schüler*innen, die ja gar nicht anwesend sein würden. Ich wies darauf hin, dass es um ein Angebot für Mitstudierende ginge, und bat sie außerdem, Pazzinis Plädoyer für Unsinn ernst zu nehmen. Daraufhin erhielt ich eine überarbeitete Planung, die mit der Frage endete: „Denken Sie das ist genug Unsinn?“ (ebd.)[2 ] Ich stimmte ihr zu. Wir vereinbarten außerdem, dass ich das Vermittlungsexperiment mit Einverständnis der Teilnehmenden auf Video dokumentieren würde. Die Beschreibung der Seminarsitzung basiert auf diesem Material. Sie hatte die Vermittlung von Pazzini aus in drei Teile gegliedert: 1) eine TV-Sendung mit Expert*inneninterviews zum Thema Unsinn 2) ein Frage-Antwort-Quiz – plus Werbepause 3) eine Livetanzshow Zentrale Passagen von „Über die Produktivität von Unsinn“ wurden per Video in die Form eines Fernsehmagazins übersetzt. In dem Einspieler treten drei Expertinnen auf, die Pazzini zitieren: eine Psychologin mit Fellmütze an einem Ententeich, eine Nonne in einer Kirche sowie eine Passantin, die in einer Fußgängerzone Pizza isst. Die Kamera wandert ins Off und bleibt an Enten und Weihnachtsbaumkerzen hängen. Auf diese Einführung folgte das Quiz, bei dem die Anwesenden schnell auf unernste Fragen antworten sollten. Kasper bewegte sich schleichend zwischen den Studierenden hin und her und ging auf einzelne zu, um sie zum Mitmachen zu bewegen. Jede Antwort wurde bejubelt mit dem Ruf: „Das ist Unsinn!“ Den Antwortenden wurde ein Stoffbeutel als Gewinn überreicht. Darin befand sich ein Objekt für den Tanz im dritten Teil. Kasper leitete über zur Tanzshow, für die die Teilnehmenden sich einen Tanz mit ihrem Objekt ausdenken sollten. Die Anweisung dazu lautete: „Sie können den Gegenstand tanzen, ihn als Tanzpartner haben, seine Form als Inspiration eines Tanzmoves nutzen etc.“ Nach einer kurzen Zeit für die Beschäftigung mit den Objekten hockte sich Kasper in die Mitte des Raumes. Sie kündigte lächelnd an: „Dann fordere ich einfach einen nach dem anderen auf, mit mir auf die Bühne zu kommen. Wir sind in – 3, 2, 1 – auf Sendung!“ Lautes Lachen. Sie startete das unter Einsatz von Silberoutfits und Tiermasken vor einem surrealen Wüstenhintergrund produzierte Musikvideo „Crying at the Discoteque“ (2001). Nacheinander begaben sich die Anwesenden auf die Tanzfläche. Nur zwei Studierende blieben mit ihren Dingen am Rand stehen. Nach zwei Minuten stoppte Kasper die Musik und beendete das Ganze mit „Das war … Unsinn!“ Nach kurzem Luftholen stiegen wir in die Diskussion des Erlebten ein. Das Gespräch drehte sich schnell um den vermuteten Autoritätsverlust, den ein solcher Auftritt im schulischen Rahmen erzeugen könnte. Es wurde also über den Transfer in die Unterrichtspraxis nachgedacht.[3 ] Kasper wurde die Nonchalance für eine solche Übertragung zuerkannt. Ein artifizielles Gefüge aus Methoden, Medien und Ironie – kein Standard Mit den oben vorgestellten pädagogisch-politischen Begriffen stellt sich die Frage, ob und wie hier demokratische Fähigkeiten trainiert wurden. Die von Kasper realisierte pädagogische Einheit war eng getaktet und trotz Methodenvielfalt durch klare Anweisungen und Rollenverteilungen charakterisiert. Also betrachten wir etwas, das eher an handlungsorientierten, aber direktiven Unterricht erinnert. Während der Inszenierung stand Kasper im Zentrum der Aktion. Sie leitete das Ganze an und motivierte die Anwesenden dazu, mitzumachen. Dabei deutete Kasper zu Beginn des Ratespiels durch ein raubtierhaftes Anpirschen an, dass sie etwas Gefährliches vorhatte. So führte sie die Rolle der animierenden (Kunst-)Lehrperson überspitzt auf. An dieser Nachahmung wurde ein ironisches Selbstverhältnis der anleitenden Studentin deutlich. Dies war schon im Einspielervideo zu sehen, wo sie sich hintereinander in eine Psychiaterin, eine Nonne und eine Passantin verwandelt, die Pazzinis Text unterschiedlich interpretieren – als Ratgeber, als Gebet und als unverständliches Schmatzen. Das Interesse der Kamera an unpassenden Situationen – wie den Enten auf dem Teich – erzeugte eine komische Unstimmigkeit zwischen Text und medialem Format. Die schrägen Übersetzungen lassen eine ungewöhnlich lockere Annäherung an den wissenschaftlichen Text erkennen. Die übertriebene, verkürzte und verschobene Wiederaufführung von medialen Unterhaltungsformaten mit Education-Anteilen (die Expertinnenstimmen, die Prüfungssituation im Quiz und im Tanz mit den Alltagsobjekten), das heißt der hier hervorgebrachte Unsinn, zerlegte „das Gewohnte in Teile“ und „zeigte [uns], daß das Gewohnte [wie z. B. eine Seminarsituation] auch nur aus Unsinn zusammengesetzt ist“ (Pazzini 1999: 6). Dadurch, dass Kasper selbst in Vorleistung ging und demonstrierte, dass es im gegebenen Rahmen möglich und erwünscht war, unsinnig zu sprechen und zu handeln, baute sie Vertrauen auf und erweiterte die Handlungslogik auch für die anderen Seminarteilnehmer*innen. Die Erweiterung lässt sich mit Mecheril verstehen als „[typisch pädagogische] Praxis der Befremdung alltagsweltlich vertrauter Handlungsformen, Wissensbestände und normativer Praxen“ (Mecheril 2009: 5). Dies geschah jedoch in einem gewissen Maße, das heißt, die Beteiligung basierte auf der Ethik der Freiwilligkeit (vgl. Hölscher 2015: 223 f.). Die Aufforderung zum expressiven körperlichen Mitmachen und Sich-Zeigen erzeugte bewusst eine lächerlich anmutende Situation. Ob diese mit einem möglichen Verlust sozialen Ansehens assoziiert wurde oder eher mit Spaß, wie sie also bewertet wurde, hatte Einfluss darauf, wie die Studierenden reagierten. Ambiguitätstoleranzerfahrung im Kollektiv So entstand die entscheidende Unsinnproduktion erst im Kollektiv. Der Höhepunkt der Lehr-Lern-Situation, der Tanz mit den Alltagsgegenständen, schuf Raum für die Fantasien der Mitstudierenden. Ohne die individuellen Reaktionen auf Kaspers Aufgabe wäre die ganze Vorbereitung letztlich umsonst gewesen. Die vermeintliche Machtposition der Lehrperson ging in diesem Moment in das Angewiesensein der Pädagogin auf die Teilnehmenden über. Beteiligung beinhaltete hier diejenigen, die sich nicht einverstanden zeigten und das Mittanzen bestreikten. Kasper ließ auf einem für sie selbst unsicheren Terrain Raum für kritisches, beispielsweise passives Verhalten. Diese Flexibilität von Kasper in Bezug auf die Nichttänzer*innen lässt sich als Ambiguitätstoleranz verstehen. Auch die Tanzenden bearbeiteten Unsicherheiten, als sie zum Tanzen aufgefordert wurden. Die Nichttänzer*innen wiederum begegneten der Ambivalenz dadurch, dass sie sich nicht dem Verhalten der Gruppe anschlossen. Die Aufforderung, im Rahmen der akademischen Lehre spontan in eine Art Partysituation einzusteigen, erzeugte Unbehagen. Das absurde Seminarsetting verunsicherte zunächst alle, später nur noch einige, soweit es Körpersprache und Mimik im Dokumentationsvideo erkennen lassen. Anstelle der an Schulen verbreiteten Simulation von demokratischer Beteiligung (vgl. Besand 2020) wurde hier an einer Umkehrung gebaut. Simuliert wurde eine autoritäre Didaktik, die jedoch Erwartungen an herkömmlichen Kompetenz- und Wissenserwerb und also die Standardisierbarkeit künstlerischer Bildung unterlief.[4 ] Stattdessen wurde eine Inszenierung aufgeführt, die die eigene Auffassung des Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnisses und institutionelle Vorgaben austesten und reflektieren ließ. Die Regeln der Institution und ein theoretisch konturiertes Kunstverständnis können dabei in Bewegung geraten – die rahmenden Standards erweisen sich in Bezug auf Reflexionswissen (vgl. Sturm 2005) als erweiterbar. Nanna Lüth, Dr. phil., arbeitet und forscht in den Bereichen Kunst, Kunstpädagogik und Medienbildung. Arbeitsschwerpunkte sind kunst- und theoriebasierte Methodenentwicklung, die Öffnung und Diversifizierung von Bildungsinstitutionen sowie Diskriminierungskritik und Humor. 2021 neu erschienen: Lüth, Nanna (Hg.). Schule, Körper, Social Media. Differenzen reflektieren aus kunstpädagogischer Perspektive. München: kopaed. www.nannalueth.de Literatur Baacke, Dieter, 1985. Bewegungen beweglich machen – Oder: Plädoyer für mehr Ironie. In: Ders., Frank, Andrea, Frese, Jürgen, Nonne, Friedhelm (Hg.): Am Ende postmodern? Next Wave in der Pädagogik. Weinheim und München: Juventa. S. 190–216 Beigang, Steffen, Fetz, Karolina, Kalkum, Dorina, Otto, Magdalena, 2017. Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Hg. von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos Besand, Anja, 2020. Die Krise als Lerngelegenheit. Oder: Kollaterales politisches Lernen im Kontext von COVID-19. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/studium/lehrveranstaltungen/die-krise-als-lerngelegenheit (abgerufen 15.10.2021) Hartung, Anja, 2005. Was ist Humor? Zur Ideengeschichte und theoretischen Fundierung des Humorbegriffs. In: merz. Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 2005-04 Humor. S. 9–15 Hohenbüchler, Irene, Hohenbüchler, Christine, 2020. … Verhalten zu … sich in Verbindung setzen. In: Böhme, Katja, Engel, Birgit, Lömke, Tobias (Hg.): Im Wahrnehmen Beziehungs- und Erkenntnisräume öffnen. Ästhetische Wahrnehmung in Kunst, Bildung und Forschung. München: kopaed. S. 177–187 Hölscher, Stefan, 2015. Unbestimmtheitsrelationen. Impulse zum kunstdidaktischen Verhältnis von Rahmung und Prozess. In: Engel, Birgit, Böhme, Katja (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen. München: kopaed. S. 214–232 Klocke, Ulrich, 2012. Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Im Auftrag des Berliner Senats Kultusministerkonferenz, 2008. Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf (abgerufen 15.10.2021) Koch, Gerd, 2002. Bekanntes fremd machen und Fremdes bekannt machen. In: Special zum 60. Geburtstag Britta Haye. http://www.ibs-networld.de/ferkel/Archiv/koch-g-02-01_geb_haye-bekannt-fremd.html (abgerufen 01.05.2014, aktuell nicht mehr auffindbar) Lüth, Nanna, 2017. Kunstvermittlung als Bewegung. In: Fritzsche, Marc, Schnurr, Ansgar (Hg.): Fokussierte Komplexität – Ebenen von Kunst und Bildung. Festschrift für Carl-Peter Buschkühle. Oberhausen: Athena. S. 229–241 Mecheril, Paul, 2009. „Wie viele Pädagogen braucht man …“ Ironie und Unbestimmtheit. als Grundlage pädagogischen Handelns. http://www.staff.uni-oldenburg.de/paul.mecheril/download/mittagsvorlesung_mecheril2010.pdf (abgerufen 15.10.2021) Pazzini, Karl-Josef, 1999. Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären. In: Warzecha, Birgit (Hg.): Hamburger Vorlesungen über Psychoanalyse und Erziehung. Hamburg: Lit. S. 137–158 Sturm, Eva, 2005. Vom Schnüffeln, vom Schießen und von der Vermittlung. Sprechen über zeitgenössische Kunst. Vortrag am O.K. Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 06.06.2005. In: artmediation #5 Tier. http://www.artmediation.org/sturm.html (abgerufen 15.10.2021) Video Alcazar, 2000. Crying at the Discoteque (Official Video). https://www.youtube.com/watch?v=7CiOWcUVGJM (abgerufen 15.10.2021) Rosa Kasper: „Explossion“, Screenshot von Video (2018) Endnoten [1] In diesem Text kommen Diskriminierungen nicht explizit vor. Im Gesamtseminar spielte Diskriminierungskritik, u. a. in theoretischen und künstlerischen Arbeiten, jedoch eine wichtige Rolle. [Zurück] [2] Das ist ein typisch paradoxer Moment im pädagogischen Rahmen, wenn Dozent*innen um Erlaubnis gefragt werden, Unsinn machen zu dürfen, also gegen die übliche Zielsetzung von universitärer Lehre zu verstoßen. Indem die Lehrperson in diesem Fall zustimmte, wurde eine Ziel- und Verhaltensnorm verschoben. Studierende und Lehrperson trafen eine verändernde Absprache. [Zurück] [3] Im universitären Raum muss offenbleiben, ob sich eine Seminareinheit in der Schule mit Schüler*innen nachvollziehen ließe oder nicht. Die Probe aufs Exempel ist in Seminaren, die zugleich Schulkooperationen sind, möglich. Vgl. u. a. Lüth (2017), Hohenbüchler, Hohenbüchler (2020) [Zurück] [4] In den KMK-Standards für das Lehramtsstudium Kunst ist als fachdidaktischer Studieninhalt u. a. aufgeführt: „Planung, Erprobung und Reflexion von Unterricht, der kunst- und wissenschaftspropädeutische Ziele verfolgt“. An dieser Vorgabe orientierte sich Kasper wahrscheinlich unbewusst, als sie in ihrer E-Mail danach fragte, welcher Wissensgehalt im Rahmen ihres Experiments am Ende erreichbar sei. [Zurück] 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Ank 1 Ank 2 Ank 3 Ank 4

  • Issue 1 Editorial | appropriate

    Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Editorial Martin Krenn, Julika Teubert Die erste Ausgabe von appropriate! widmet sich dem Thema Zugänglichkeit. Wer hat Zugang zur Gegenwartskunst? Was soll Kunst heute vermitteln? Welche Rolle spielt Kunstvermittlung für die Demokratisierung der Kunst und welche neuen Zugänge kann Kunstvermittlung zur und für die Kunst schaffen? Welche Auswirkungen hat die durch die Coronapandemie beschleunigte Forcierung der Kunst und Kunstvermittlung in digitale Räume? Diesen Themen wird in den folgend beschriebenen transkribierten Gesprächen nachgegangen. Anna Darmstädter und Julika Teubert sprechen mit Jeanne-Marie CC Varain, Künstlerin und Mitbegründerin des PLATZprojekts in Hannover über dessen Vorteile, Besonderheiten, aber auch Herausforderungen als interaktiver, urbaner Experimentierraum. Dabei werden sie von der Frage geleitet, wieso das PLATZprojekt ganz besonders Besucher:innen erreicht, die von herkömmlichen Kulturinstitutionen weniger angezogen werden. Außerdem informiert Jeanne-Marie CC Varain über die Artist Residence auf dem PLATZprojekt, erzählt vom Austausch mit anderen Kulturorten und dem politischen Potential eines unabhängigen Entwicklungsraums. Anna Miethe und Jana Roprecht stellen an Gabriele Sand, Leiterin der Kunstvermittlung des Sprengel Museums, Fragen zu ihrem Verständnis von Kunstvermittlung und über die Möglichkeiten der Partizipation im Sprengel Museum durch Kooperationen. Besprochen wird auch, welche Strategien im Sprengel Museum seit seiner Gründung in den 1970er-Jahren entwickelt wurden, um es zu einem zugänglichen, offenen Ort zu machen, wie sich diese Strategien weiterentwickelt haben und welche Rolle der digitale Raum hierbei einnehmen kann. Claas Busche und Marius Raatz gehen gemeinsam im Gespräch mit dem an verschiedenen Häusern tätigen Künstler und Kunstvermittler Sebastian Bartel darauf ein, wie Partizipation und Zugänglichkeit zusammenhängen und in welche verschiedenen Aspekte sich Zugänglichkeit gliedert. Daneben sprechen sie über das lernende Museum, als dynamische, reflexive und transformative Institutionsform und darüber, welche Qualitäten der Kunst und Kunstvermittlung nicht in den digitalen Raum übertragen werden können. Im Praxisteil werden Kunstvermittlungsprojekte vorgestellt, die Chancen und Probleme von engagierter Vermittlung im digitalen und sozialen Raum aufzeigen. Dabei veranschaulicht Nick Schamborski in „Kritisch im Netz - Das Paradoxon der Kunstvermittlung in den sozialen Medien“, dass einerseits die hegemoniale Nutzung von digitalen Räumen und sozialen Medien gravierende Probleme wie Ableismus, Rassismus und Sexismus weiter reproduzieren. Andererseits richtet Nick Schamborski den Blick auf die vielen Möglichkeiten des digitalen Raumes, um auf bisher marginalisierte Themen aufmerksam zu machen, vorausgesetzt sie werden reflektiert und verantwortungsbewusst eingesetzt. Aus diesem Grund erklärt Nick Schamborski es für die Kunstvermittlung zur Pflicht, sich reflexiv zu positionieren, um so an der Lösung von gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen mitzuwirken. In „Discover(ing) Your Hybrid-Form – Kunstvermittlung im digitalen Wandel“ spricht Franziska Peschel über die Auflösung der Grenzen zwischen dem analogen und digitalen Leben. Dabei weitet sich der digitale Raum möglicherweise deshalb immer weiter aus, weil er seinen Nutzer:innen ein besonders großes Handlungspotenzial bietet. Auch Kunst ist online leicht produzier-, präsentier- und kommentierbar geworden. Dass sich dies für die Kunstvermittlung kreativ, dialogisch und partizipativ nutzen lässt, beschreibt Franziska Peschel in ihren Erfahrungsberichten über ihre eigene digitale kunstvermittelnde Praxis. Neben einer Besprechung des vor Kurzem erschienenen Sammelbandes "vermittlung vermitteln", herausgegeben von Ayşe Güleç, Gila Kolb, Nora Sternfeld u. a., finden sich in dieser Ausgabe auch Gastbeiträge von Eva Sturm "warum denn liegt denn die da? Kunstvermittlung und Verantwortung", Suzana Milevska "Accessibility, Access, and Affordance: The Amplitude of Participatory Art" und Steffen Rudolph "Access All Areas oder Digital Divide? Ungleichheitsperspektiven auf Kunst und digitale Kunstvermittlung in Zeiten von Covid-19". Eva Sturm bespricht in Ihrem Beitrag den Zusammenhang zwischen Kunstvermittlung und Verantwortung. Dabei schreibt sie, dass sie sich als Kunstvermittlerin berufen fühle mit Kunst zu arbeiten und Bildungsprozesse anzustoßen. Beides wäre jedoch „unvorhersehbar, nicht kontrollierbar, unendlich. Und darum eine ständige Infragestellung.“ In Zusammenhang mit der Problemsituation, wie man als Kunstvermittler:in mit einer hyperrealistischen nackten Frauenskulptur von John de Andrea umgehen könne, kam der Zufall zu Hilfe. Eine vierjährige Besucherin äußerte im Vorbeigehen beiläufig einen Kommentar, der für Eva Sturm eine neue kunstvermittlerische Perspektive auf das Werk eröffnete. Suzana Milevska bezieht sich in ihrem Text auf Irit Rogoffs Unterscheidung zwischen Zugang (access) und Zugänglichkeit (accessibility), die zu einer Demokratisierung des Kunstbetriebes beitragen soll. Deutlich wird in Milevskas Text jedoch, dass eine Demokratisierung der Kunstvermittlung nicht nur über eine Verbesserung des Zugangs zu Kunstinstitutionen erreicht werden kann, sie muss zugleich auch eine politische Agenda zur Bekämpfung der Ungleichheit in der Gesellschaft verfolgen. Steffen Rudolph untersucht in „Access All Areas oder Digital Divide? Ungleichheitsperspektiven auf Kunst und digitale Kunstvermittlung in Zeiten von Covid-19“ die von der Pandemie verstärkte Situation der Digitalisierung von Kunstinstitutionen und Kunstvermittlung und ihre Auswirkungen auf die Besucher:innen dieser Angebote. Dabei veranschaulicht er, welche Faktoren bestimmen wer Zugang zu den neuen digitalen Angeboten hat und welche Personengruppen durch die Übertragung von Angeboten in den digitalen Raum benachteiligt werden. Unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse zur Digital Divide formuliert er schließlich wichtige Ansätze für eine inklusivere digitale Vermittlungsarbeit. Die Redaktion des Issue 1 | Zugänglichkeit setzt sich zusammen aus: Andreas Baumgartner, Claas Busche, Martin Krenn, Marianna Schalbe, Julika Teubert

  • Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung | appropriate!

    Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Buchcover Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, erschienen 2024 bei Kiepenheuer & Witsch, Foto: Lena Götzinger Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt , Foto: Ali Ghandtschi Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt , Foto: Ali Ghandtschi „Der Nahostkonflikt bewegt die Kunst- und Kulturszene wie kein anderer. Seit dem 7. Oktober 2023 ist das sichtbarer als jemals zuvor“, schreiben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrem 2024 erschienenen Buch Muslimisch-jüdisches Abendbrot . Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Offene Briefe an Institutionen, Veranstaltungsabsagen, Ausladungen und Anfeindungen sind nur einige Indikatoren der aufgeheizten Stimmung, die seit einigen Monaten im Kunst- und Kulturbetrieb spürbar ist. Über die historischen Hintergründe dieser Entwicklungen, persönliche Boykott-Erfahrungen und die Wichtigkeit multiperspektivischer Diskussionsräume sprach Lena Götzinger mit der Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin Saba-Nur Cheema. „Um die heutige Lagerbildung in Bezug auf den Nahostkonflikt verstehen zu können, müssen wir in seine Geschichte blicken“, ordnet Cheema ein. „Historisch gesehen gab es nach dem Holocaust innerhalb der politischen Linken in Deutschland und international einen breiten Konsens der Solidarität mit Israel, das infolge seiner Staatsgründung mit starkem Antisemitismus und dem Vernichtungswunsch seitens der arabischen Staaten konfrontiert war. Der Sechstagekrieg 1967 und die Besatzung, die danach begann, haben das verändert. Sie führten zu einer Spaltung zwischen denjenigen, die weiterhin hinter Israel standen, und denen, die sich mit den Palästinenser:innen sowie den arabischen Staaten solidarisierten und zunehmend antizionistische Positionen einnahmen. Seitdem ist es in linken Kreisen zu der Gretchenfrage geworden, auf welcher Seite des Konflikts man steht, ob man pro Israel oder pro Palästina ist.“ Die Politologin kritisiert diese undifferenzierte Entweder-oder-Haltung, da durch sie all die historischen Komplexitäten radikal reduziert, simplifiziert und in ein manichäisches Gut-Böse-Weltbild überführt werden würden. Sie betont: „Differenzierung bedeutet nicht Relativierung, auch wenn uns das die verkürzten Diskurse in den sozialen Medien suggerieren wollen. Differenzierung ist auch keine kurzzeitige Position, sondern eine grundsätzliche Haltung, die es möglich macht, herausfordernde Perspektiven abseits von Lagerdenken und Freund-Feind-Schemata einzunehmen.“ Um der breiten Polarisierung in Bezug auf den Nahostkonflikt und den damit verbundenen Terroranschlägen und Kriegen entgegenzuwirken und zu zeigen, dass es viele Zwischentöne in der Diskussion geben kann, verfassen Saba-Nur Cheema und ihr Ehemann Meron Mendel seit 2021 in der Frankfurter Allgemeinen die Kolumne „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“, auf der auch ihr kürzlich erschienenes Buch basiert. Darin beleuchten sie verschiedene Themen, die sie als muslimisch-jüdisches Paar im Alltag beschäftigen, und sind sich dabei keineswegs immer einig. „Es geht uns nicht darum, aus Pro und Contra einen Kompromiss oder Konsens zu formen, sondern vielmehr für den Austausch, die Diskussion und den konstruktiven Streit zu plädieren.“ Diese Haltung vermisse sie aktuell in öffentlichen Debatten sowie im privaten Umfeld. Auch im Kunst- und Kulturbetrieb macht sich die polarisierte Stimmung, besonders seit dem 7. Oktober 2023, bemerkbar. „Menschen, die sich öffentlich zum Nahostkonflikt positionieren, werden vom ‚anderen Lager‘ ausgeladen, ausgebuht oder bedroht. [...] Alle diese Fälle bedienen sich der Boykott-Logik. Man will verhindern, dass die gegensätzliche Position in der Öffentlichkeit vorkommt“, schreiben Cheema und Mendel (2024) in ihrem Kolumnenbeitrag „Das Trauerspiel der Boykottkultur“. Die Auswirkungen dieser Dynamik erfuhren beide wenige Zeit später am eigenen Leib. Am 24.11.2024 fand in Berlin das Symposium Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt statt, welches von Cheema und Mendel auf Ein-ladung der Neuen Nationalgalerie kuratiert wurde. Anliegen der Initiator:innen war es, „einen dringend benötigten Raum für eine konstruktive und längst überfällige Debatte [zu] bieten, [um] Fragen nach der Verantwortung politischer Kunst im aktuellen Kontext des Nahostkonflikts [zu diskutieren und] insbesondere die Themen Antisemitismus, Rassismus, Kunstfreiheit und Solidaritäts-bekundungen in der Kunstwelt [zu adressieren]“ (Museumsportal Berlin, 2024). Dabei sollten lokale sowie internationale Gäst:innen, darunter palästinensische, israelische, jüdische und muslimische Stimmen, Gehör finden. Konkreten Anlass für die Veranstaltung bot auch die öffentliche Debatte um die Eröffnung der Ausstellung This Will Not End Well von Nan Goldin, über die deutsche Medien in den vergangenen Monaten vor allem aufgrund ihrer antiisraelischen Positionen berichtet hatten. Als „aktivistische Künstlerin, [die] für politisches Engagement steht“ (Museumsportal Berlin, 2024) lud man sie ein, die Key Note sowie die Concluding Note des Symposiums zu halten. Goldin lehnte dies jedoch ab und „machte deutlich, dass sie mit der Veranstaltung und jeder Verbindung zu ihrer Ausstellung nicht einverstanden [sei]“ (Museumsportal Berlin, 2024). Ihre Entscheidung begründete sie damit, dass das Symposium in ihren Augen nur dem Zweck der Neuen Nationalgalerie dienen würde, sich von ihrer propalästinensischen Haltung zu distanzieren. Cheema, die im Austausch mit Goldin betont hat, dass es eine Ehre wäre, wenn die Künstlerin als Rednerin am Gesprächsforum partizipieren würde, weist diesen Vorwurf entschieden zurück. Doch nicht nur Nan Goldin lehnte das geplante Symposium ab. „Wir wissen, dass viele der Speaker:innen, die im Programm standen, Anfeindungen ausgesetzt waren und Drohanrufe erhielten, in denen ihnen gesagt wurde, dass sie gefälligst nicht teilnehmen sollen und man sie andernfalls als Verräter:innen sehen würde, die mit der Gegenseite kollaborieren“, berichtet Cheema. In den Wochen vor der Veranstaltung hatten viele Gäst:innen, nach anfänglicher Zusage, ihre Teilnahme wieder zurückgezogen; eine Person sagte noch am Abend vorher ab. Auch wenn Cheema nicht alle dahinterstehenden individuellen Gründe kennt, ist sie sich sicher, dass die persönlichen Angriffe und Drohungen in einigen Fällen zu der Entscheidung beigetragen haben, dem Symposium fernzubleiben. Die Kampagne Strike Germany , die seit Anfang 2024 dazu aufruft, „Veranstaltungen deutscher Kultureinrichtungen zu boykottieren, weil diese Solidaritätsbekundungen mit Palästina unterdrücken würden“ (Deutschlandfunk, 2024), hatte in den sozialen Medien ebenfalls Stimmung gegen das Symposium gemacht und dessen Absage gefordert. Inwiefern ein Boykott den palästinensischen und pro-palästinensischen Speaker:innen nutzen sollte, deren Anliegen es war, ihre Perspektiven zu teilen, bleibt für Cheema unverständlich. Unterdessen postete Strike Germany mehrere Instagram-Beiträge, die darauf abzielten, sie und Mendel als Privatpersonen zu diffamieren. „Wir stehen in der Öffentlichkeit und müssen uns daher der Gefahr, markiert zu werden, bewusst sein“, sagt die Politologin, darauf angesprochen: „Natürlich dürfen und sollen unsere Haltungen und unsere Arbeit kritisiert werden. Hier fanden aber Hetze und gezielte Angriffe auf Individuen statt, die mit konstruktiver Kritik nichts mehr zu tun hatten. Besonders schockiert hat es mich, dass Mitarbeitende der Neuen Nationalgalerie in der Nacht vor dem Symposium in Instagram-Posts mit Titeln wie ‚Tap here if you want to know who they are‘ namentlich markiert wurden. Unter ihnen waren auch junge Menschen, die zum Teil gerade erst angefangen hatten, in der Verwaltung zu arbeiten, und in keiner Verbindung mit der Veranstaltung standen. Da wir nicht wussten, welche Personen hinter diesen Posts steckten und welches Bedrohungspotenzial von ihnen ausging, mussten wir uns am nächsten Morgen dazu entscheiden, große Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Ich finde es traurig, dass das nötig war.“ Gerade in Anbetracht dieser Umstände, die es für alle Beteiligten nicht leicht gemacht hatten, sieht Cheema es als Erfolg, dass das Symposium realisiert werden konnte. Für sie stand von Anfang an fest: „Wir machen das Symposium mit denen, die dabeibleiben. Und zum Glück sind auch spontan Menschen eingesprungen.“ Die durch die fehlenden Stimmen entstandenen Leerstellen seien Leerstellen geblieben. Für Cheema sind sie ein Zeugnis unserer Zeit. Wer aber am 24.11.2024, unter den ca. 500 Anwesenden im Otto-Braun-Saal der Nationalbibliothek in Berlin war, konnte zutiefst persönliche Redebeiträge und Paneldiskussionen verfolgen und hatte anschließend die Möglichkeit, Fragen an die Speaker:innen zu stellen. Unter ihnen war etwa der palästinensische Künstler Osama Zatar, der von seinem Aufwachsen im besetzten Ramallah, seiner Ehe mit einer israelischen Frau und dem Überwinden von physischen und zwischenmenschlichen Grenzen erzählte. Dabei positionierte er sich klar gegen kulturellen Boykott und betonte, dass es zentral sei, Betroffene selbst sprechen zu lassen, anstatt wie so häufig nur über sie zu reden. Die Kunstkritikerin und Kuratorin María Inés Plaza Lazo sprach über die Bedrohung aktivistischer Stimmen und offener Diskursräume durch Gesinnungsprüfungen und Cancelings. Darüber hinaus thematisierte sie die in ihren Augen privilegierte Position, von der aus man die Nahost-Debatte in Deutschland führen würde, während Menschen in Gaza täglich um ihre Existenz bangen. Leon Kahane verwies wiederum auf die Geschichte des Nationalsozialismus und Antisemitismus als wichtigen Kontext der Debatte hierzulande und schilderte, wie seine Biografie als deutscher Jude prägt, was er aktuell als Künstler im Kulturbetrieb erlebt. Zu sehen war auch die zweieinhalbminütige Videoarbeit Keening (2024) der Künstlerin Ruth Patir, die nominiert war, den israelischen Pavillon bei der Biennale in Venedig im vergangenen Jahr zu bespielen. Beim Symposium sprach sie über die Entscheidung, die Ausstellung geschlossen zu lassen, um so die Forderung nach einer Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas sowie nach einer Freilassung der Geiseln zu unterstützen, und wie sie damit die Verärgerung „beider Seiten“ auf sich gezogen hatte. Unterdessen betonte der Schauspieldirektor Remsi Al Khalisi das Potenzial von bildender Kunst und Theater, Perspektivwechsel anzubieten. Diese würden dazu einladen, sich in die Lage des anderen zu versetzen und eine Praxis der Empathie zu befördern, die nicht selektiv agiert. Genannt sind hiermit nur einige der Speaker:innen und Wortbeiträge, die an diesem Tag zu hören waren. Cheema resümiert: „Auch wenn ich in den Diskussionen keine Antworten gefunden habe, war es wichtig, dass sie stattgefunden haben. Vor allem hat das Symposium gezeigt, wie viele offene Fragen es gibt.“ Es sei ein häufiges Missverständnis zu denken, dass, wenn Menschen mit unterschiedlichen Positionen diskutieren, sie anschließend alle einer Meinung sein sollten. Und doch müsse man gerade jetzt in den Austausch treten und offen dafür sein, sich mit anderen Standpunkten und Argumenten auseinanderzusetzen. „Ich glaube, dass es entscheidend ist, Räume mit unterschiedlichen Perspektiven anzubieten, die keine Safe Spaces sind. Es kann verletzend sein, wenn eine gegenteilige Meinung an meiner Haltung kratzt, aber das gehört zum Miteinander in einer pluralen Gesellschaft und liberalen Demokratie dazu. Wir müssen akzeptieren, dass es viele Gleichzeitigkeiten geben kann, und eine Ambiguitätstoleranz sowie Resilienz demgegenüber aufbauen“, erklärt Cheema und betont mit Nachdruck: „Ich sehe eine große Gefahr, wenn wir in der gegenwärtigen Polarisierung verbleiben und es nicht schaffen, ein Freund-Feind-Denken innerhalb der politischen Linken zu überwinden, denn das verschleiert den Blick auf das eigentliche Problem: eine politische Haltung, die absolut gegen Diversität ist. Rechte und rechtsextreme Kräfte haben eine ganz klare Vorstellung davon, wie Kultur auszusehen hat, welche Freiheiten sie genießt und wer eine Bühne bekommt. Dem Kunst- und Kulturbetrieb stehen immer radikalere Kürzungen bevor, deren Auswirkungen auch heute schon zu beobachten sind. Wir müssen diese Debatten führen können, um in der Lage zu sein, uns antidemokratischen Kräften geschlossen entgegenzustellen.“ Saba-Nur Cheema (*1987) ist Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin. Ihren thematischen Schwerpunkt bilden Diversität, muslimisch-jüdischer Dialog und das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus. 2015 baute sie den Bereich der pädagogischen Programme und Projekte in der Bildungsstätte Anne Frank auf, den sie bis 2021 leitete. Vom deutschen Innenministerium wurde sie 2020 in den „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ berufen. Seit Mai 2022 forscht Cheema im Rahmen des BMBF-Projektes „Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit“ an der Goethe-Universität. Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Seit Issue 4 ist sie Teil der Redaktion von „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“. Literatur Cheema, Saba-Nur / Mendel, Meron, 2024. Das Trauerspiel der Boykottkultur. In: Frankfurter Allgemeine, 27.02.2024. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolumnen/muslimisch-juedisches-abendbrot/institutionen-stehen-unter-druck-das-trauerspiel-der-boykottkultur-19547089.html (abgerufen am 10.11.2024) Cheema, Saba-Nur / Mendel, Meron, 2024. Muslimisch-jüdisches Abendbrot: Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. Erstauflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch. https://www.kiwi-verlag.de/buch/saba-nur-cheema-meron-mendel-muslimisch-juedisches-abendbrot-9783462007428 (abgerufen am 15.10.2024) Deutschlandfunk, 2024. „Strike Germany“: Was hinter dem Aufruf zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen steckt, 18.01.2024. https://www.deutschlandfunk.de/strike-germany-was-hinter-dem-aufruf-zum-boykott-deutscher-kultureinrichtungen-steckt-100.html (abgerufen am 13.01.2025) Museumsportal Berlin, 2024. Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung. Diskussionsraum zum Nahostkonflikt kuratiert von Saba-Nur Cheema and Meron Mendel. Statement 19.11.2024, Update 23.11.2024. https://www.museumsportal-berlin.de/de/veranstaltungen/kunst-und-aktivismus-in-zeiten-der-polarisierung/ (abgerufen am 20.12.2024) 01

  • Issue 3 Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen | appropriate

    Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen – ein Vermittlungsversuch zu toxischen Spuren und Erbe Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen – ein Vermittlungsversuch zu toxischen Spuren und Erbe Lynhan Balatbat-Helbock it's raining again today it always rains but the blood in the streets is dry and brown may be it'll loosen now there are men out on the street covered in bin lining shovelling blood into barrows all day. all night. under the endless rain more blood running in the open drains something's eating at my soul an insect nibbles at the edges slowly, slowly, scraping away corroding waters lapping up the underbelly of the sea. my soul is a clump of Black earth sitting on water, but how long can it last? how long can the donkey bear its load? slowly, the inside crumbles piece by piece grain after grain floating away on the dark, green sea sinking with time. Olu Oguibe, Letter to his mother Wie leben wir mit Archiven, die die Abrisse der dunklen Momente unserer Menschheit in sich aufnehmen? Jene Konstrukte, die Zeugnisse wie Fotografien, Zeitungsausschnitte wie auch Objekte beherbergen, nehmen in zeitgenössischen Diskursen fast monumentalen Raum ein. Ist dieser rigide Charakter nicht vor allem der Hülle zu schulden? Lieblosigkeit in der archivarischen Praxis als Methode, um das starre Gefüge einer Sammlung von Kolonialerbe zu entzerren, der eigene Körper als Interventionsrahmen und die Sinnlichkeit als Widerstand, dies sind nur einige Punkte des Arbeitens mit der toxischen Sammlung von Colonial Neighbours, einem Archivprojekt von SAVVY Contemporary. Im immerwährenden Versuch, monumentale Kreationen zu dekonstruieren, müssen Instrumente der Intervention im Kollektiv erarbeitet werden. Dem sei vorausgesetzt, dass Körper unterschiedliche Erfahrungen, (Un-)Wissen, Konflikte und Dringlichkeiten mit sich tragen; somit müssen wir auch bereit sein, uns in der kuratorischen Denke auf mehrere Methoden einzulassen. Monumentale und konservative Formate, die Menschen einschränken oder gar diffamieren, müssen hinterfragt werden, und als einfachstes Mittel steht uns der eigene Körper zur Verfügung. Der Körper als Archiv, ein (un-)wissendes Wesen, Sinnesträger:in und Akteur:in zugleich, bietet in seiner Komplexität vor allem in der Beziehung zu anderen ein wahrhaftiges Universum an (Un-)Möglichkeiten. Wie wir einander begegnen und uns aufeinander beziehen, mag zunächst simpel erscheinen, setzt jedoch den maßgeblichen Rhythmus zwischen den Körpern und dem gemeinsam Erfahrbaren. Erst wo Vertrauen im Kleinen erahnt wird, kann reziproke Kommunikation entstehen. Dieser Zugang spielt vor allem in der Vermittlungsarbeit in den Workshop- und Bildungsformaten von Colonial Neighbours eine wichtige Rolle. Das Archiv Colonial Neighbours ist ein fortlaufendes, partizipatives Archiv- und Forschungsprojekt von SAVVY Contemporary, das sich mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Nachwirkungen und Kontinuitäten in die Gegenwart auseinandersetzt. Durch den kollektiven Sammlungsprozess werden Lücken und Auslassungen im deutschen kollektiven Gedächtnis adressiert sowie dominante Wissensordnungen und Geschichtsschreibungen hinterfragt. Das Archiv dient darüber hinaus als Plattform für Diskussionen und Austausch sowie als Ausgangspunkt für Kollaborationen mit Akteur:innen unterschiedlicher Bereiche. Dem Konzept von „Geschichte als Verflechtung“ (vgl. Conrad & Randeria) folgend zielt das Projekt darauf ab, mit historischen Dichotomien zu brechen und ein differenzierteres Bild aktueller Lebenswelten in Berlin zu zeichnen. Objekte, ob Alltagsgegenstände, kommerzielle Produkte oder andere materielle wie immaterielle Spuren der Geschichte, wie Worte, Lieder, Erinnerungsfragmente und mündlich überlieferte Geschichten, fungieren als Mediator:innen, um die verflochtene(n) Geschichte(n) zwischen Deutschland, dem afrikanischen Kontinent, China und den kolonialisierten Gebieten im Pazifik zu erzählen. Das Archivprojekt bietet Raum zur Dokumentation dieser Silenced History sowie zur kritischen Untersuchung von (historischen) Kolonialismen und zeitgenössischen Kolonialitäten (Aníbal Quijano, 2010). Als „radical“ oder „living archive“ hinterfragt es das Archiv als hierarchischen Ort der Wahrheits- und Geschichtsproduktion, an dem die Verflechtung von Macht und (kolonialer) Wissensproduktion ihren Ausdruck findet. Der Anthropologe Arjun Appadurai begreift unabhängige, nicht staatliche Archiv- und Dokumentationsprojekte als soziale Werkzeuge und als Interventionen. Ausgehend von diesen Überlegungen und über den Sammlungscharakter hinaus stellt das Archiv das Fundament für Auseinandersetzungen unterschiedlicher Natur dar. Als Plattform für Austausch und Dialog ist es gleichsam ein Ort für Kollaborationen mit Künstler:innen, Kulturproduzent:innen, Wissenschaftler:innen, Aktvist:innen und weiteren Akteur:innen. Vermittlungsarbeit ist auf mehreren Ebenen ein wichtiger Bestandteil des Archivprojekts. Beginnend mit der Wiedergabe der Geschichten hinter den Objekten über das Ausstellen und die Konstellationen, die Nahbarkeit zu den Schenkungen bis hin zu klassischen Bildungsformaten – in all diesen Bereichen werden die Formen der Präsentation und Zugänglichkeit von Wissensvermittlung hinterfragt. Im Vordergrund steht hier das Moment der Erfahrung. Die fragmentierte Mappe zu dem kollektiven Gedächtnis beruht auf Beziehungen zu den toxischen Spuren der kolonialen Vergangenheit. Die Aufgabe von Vermittlung ist demnach meines Erachtens, das Erfahrbare zugänglich zu machen. Doch wie vermittelt man toxischen Schrott, der nach Rassismus und Gewalt mieft? Welche Mittel werden in anderen Sammlungen, die gewaltvollen Inhalt beherbergen, eingesetzt? Wie werden die Inhalte von Archivmaterial, die sich mit staatlich organisierten Völkermorden und kollektiver Vernichtung auseinandersetzen, vermittelt? Mit welchen Methoden werden die Kontinuitäten von Unterdrückungspolitik und Verbrechen, bei denen wir im zeitgenössischen Gefüge als Akteur:innen fest verankert sind, körperlich erfahrbar und konkret „gemacht“? Erfahrung und subsequenterweise Verantwortung gegenüber der damaligen und nun heutigen Zeit müssen somit thematisiert und erfassbar gemacht werden. Bei Colonial Neighbours ist der Rahmen eines klassischen Archivs nicht gegeben. Als Parainstitution ist SAVVY Contemporary losgelöst von musealen Einschränkungen. In ihrer Arbeit muss sie sich den konventionellen Vorgaben des Ausstellens nicht beugen und kann den Handlungsspielraum frei von Repräsentation und Zugang leiten. Lieblosigkeit wird zur bewussten Methode, um mit den Objekten, die oftmals rassistische und menschenunwürdige Inhalte wiedergeben, umzugehen. Klassische Barrieren wie Öffnungszeiten, Lagerung, kuratorische Entscheidungen, Hierarchie der Objekte, Standort der Sammlung oder Umgang mit dem materiellen und immateriellen Erbe werden hinterfragt. Ein „Giftschrank“ darf nicht nur gespeist und gepflegt werden, Räume der Intervention müssen im Kollektiv entwickelt werden. Das Archiv wird in künstlerischen Interventionen wie Performances, Ausstellungen oder Recherchearbeiten ständig und kontinuierlich aktiviert. Besucher:innen sind gleichermaßen eingeladen, Konstellationen zu den Objekten zu ändern und mit subjektiven Geschichten Beiträge zu leisten. In diesem Prozess, in dem ein haptischer Zugang gewährt wird, muss der Verfall der Objekte der Sammlung akzeptiert werden. Die innewohnende Gewalt und der Geist der Sammlung können nicht in einem geschlossenen System dekonstruiert werden; Zufall, Reaktionen und Räume der Aversion müssen einbezogen werden. Es gilt vor allem für die Arbeit mit Archiven, die toxische Objekte beherbergen, dass Wege gefunden werden müssen, um Zugänge poröser und verletzlicher zu gestalten; Handlungsräume von Akteur:innen hingegen sollten auch langsamer und weicher werden dürfen. Zugänge und Gefühle als Reaktion sollen in Aktion übersetzt werden. Sinnlichkeit zu kultivieren bedeutet, Formate zu konzipieren, in denen wir Gerüchen mehr Raum geben, unsere Tastsinne aktivieren und das gemeinsame Lauschen üben. Unsere Erinnerungswelten sind fragile Konstrukte im Exil der Vorstellung, durch das Eintauchen mittels anfangs einfacher Atemübungen wird die Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber zu einer allmählichen Brücke des nächsten Körpers. Gemeinsames Atmen, so simpel es auch sein mag, ist Form der gemeinsamen Praxis des Widerstandes, in der „I can't breathe” zum Symptom unserer Massengesellschaft wurde. Die kollektive Auseinandersetzung mit dem Archiv schlägt in der Arbeit von SAVVY Contemporary einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem sie versucht, heutige gesellschaftliche Konstellationen als Nachwirkungen vergangener und überwunden geglaubter Phänomene zu deuten. In Zeiten von Pegida und AfD, dem ansteigenden Rechtsruck innerhalb der EU, der von einer Zunahme von Nationalismus geleitet wird, erscheint es umso notwendiger, wiederkehrende (bildliche) Denkmuster in ihrer geschichtlichen Persistenz und Kontinuität zu analysieren und sie in weiterer Folge wirkungsvoll zu dekonstruieren. Durch diverse Formate wie Lesungen, Installationen, walks in der Nachbarschaft und Gruppenarbeiten mit Schüler:innen hinterfragen wir unser kollektives (koloniales) Bild- und Gefühlsgedächtnis und dessen fortwirkende Konstruktion des Anderen in Bildung, Medien und Populärkultur. In diesem permanenten Versuchsakt, wie stereotypes und kolonial-rassistisches Wissen über Repräsentationen konstruiert, verbreitet und reproduziert wird, ist es notwendig, Handlungsräume zu schaffen. Über Interventionen durch Künstler:innen und Aktivist:innen sowie Verflechtungen von kolonialen Bild- und Gefühlswelten nähert sich SAVVY Contemporary Konzepten von Selbst- und Fremdkonstruktionen und deren Kontinuitäten und lädt somit das Kollektiv ein, über die gegenwärtigen Ausformungen zu reflektieren. Wenn Erinnerungspolitik und Denkmalpflege einfach zu abstrakt geworden sind und in dem instrumentalisierten Gefüge von Geschichtsrevisionismus, orchestrierten Lücken in der Geschichtsschreibung und Amnesie die unüberwindbare Kraft der Zeit Alliierte wird, dann benötigt es enormen Aufwand, um gemeinsam ein kollektives Gedächtnis des Widerstands zu kultivieren. Ausgehend von der kleinsten Einheit, dem eigenen Sein, tastet sich das Projekt Colonial Neighbours in seiner Arbeit langsam an das Gemeinsame heran. Expansionen, Besetzungen, Zwangsarbeit und Völkermorde sind keine abstrakten Themen, die als Genre in einer Schublade der verstaubten Historie gehortet werden können, denn die Nachwehen sind tief und bis in unsere Gegenwart verwebt. Für einige von uns mag es ein entferntes Konstrukt der Ungleichheit sein, für andere sitzen die Wunden tief und die multiplen Traumata direkt unter der Haut. Aus diesem Grund können wir es uns in unserer Arbeit als Kulturschaffende schlichtweg nicht (mehr) leisten, die Perspektive von fragmentierten Körpern und Communities nicht als wichtigen Impuls miteinzubeziehen. Wenn wir unseren eigenen Körper wie Caroline Randall Williams, die ihre Hautfarbe als Monument der Gewalt betrachtet, als Ausgangspunkt nehmen, dann entfernen wir uns von der Annahme, dass Denkmäler in Stein gemeißelte, oftmals von Steuergeldern bezahlte, starre Konstrukte sind. Kriegsheld:innen, Dichter:innen und Politiker:innen auf Sockeln werden nicht mehr ungefiltert zelebriert, ebenso ist leider auch so manch gut gemeintes Mahnmal nur ein Abriss jenes Schattens der Erinnerung, die in uns lebendig gerufen werden soll. Kriegsverbrechen, Traumata und lückenhafte Erinnerungskonstrukte sind so zahlreich wie die Körper, die diese Monumente tagtäglich passieren. Unser gebrochenes Dasein beschränkt sich nicht nur auf unsere Erinnerungen oder unsere Gefühlswelt, auch unser kreatives Schaffen wirft Schatten dieser Kontinuität. Somit trägt nicht zuletzt die kreative und künstlerische Arbeit der Vielen diesen gebrochenen Korpus weiter. Gedichte wie Olu Oguibes „Letter to his mother“, das vor mittlerweile 30 Jahren geschrieben wurde und vielerorts bedauerlicherweise fortwährend seinesgleichen sucht und findet, ist nur eine der vielen Formen fragmentierter Körper, die es gilt, im Kollektiv zu lesen und zu hören. Lynhan Balatbat-Helbock ist Kuratorin und leitet ein partizipatives Archivprojekt bei SAVVY Contemporary in Berlin. Sie studierte Postkolonial Cultures and Global Policy an der Goldsmiths University of London. Seit 2014 lebt sie in Berlin und arbeitet unter anderem an dem permanenten Archivprojekt Colonial Neighbours. In ihrer Arbeit in der ständigen Sammlung von SAVVY Contemporary sucht sie nach kolonialen Spuren, die sich in unserer Gegenwart manifestieren. Literatur Oguibe, 1992. A Gathering Fear. Bayreuth: Boomerang Press Conrad & Randeria, 2002. Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. S. 33 Stoler, Ann Laura/Cooper, Frederick, 1997. Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda. In: dies. (Hg.). Tensions of empire: colonial cultures in a bourgeois world. Berkeley: Univ. of California Press. S. 1–56 Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hg.), 2005. Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast „The archive as deliberate project is based on the recognition that all documentation is a form of intervention and thus, that documentation does not simply precede intervention but is the first step. (...) This further means that archives are not only about memory (and the trace or record) but about the work of the imagination, about some sort of social project. These projects seemed, for a while, to have become largely bureaucratic instruments in the hands of the state, but today we are once again reminded that the archive is an everyday tool.“ (Appadurai, Arjun, 2003. Archive and Aspiration. In: Brouwer, Joke/Mulder, Arjen (Hg.). Information is Alive. Rotterdam: V2_Publishing/NAI Publishers. S. 14–25 Opinion: You Want a Confederate Monument? My Body Is a Confederate Monument https://www.nytimes.com/2020/06/26/opinion/confederate-monuments-racism.html Lynhan Balatbat-Helbock, Foto: (c) Mc Ryan Melchor 1

  • Ein Plädoyer für Fiktion | appropriate!

    Buchrezension „Roadside Picnics – Encounters with the Uncanny“ von Benno Hauswaldt  Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Ein Plädoyer für Fiktion „Roadside Picnics – Encounters with the Uncanny“ Buchrezension von Benno Hauswaldt Buchcover Roadside Picnics – Encounters with the Uncanny , Foto: Benno Hauswaldt „Roadside Picnics – Encounters with the Uncanny “ ist eine Anthologie, die von Victor Muñoz Sanz und Alkistis Thomidou im Kontext eines Aufenthaltsstipendiums an der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, herausgegeben wurde. Durch die verschiedenen fachlichen Perspektiven – Architektur, Philosophie, Kunst und Kunstwissenschaft – ergibt sich eine interdisziplinäre Suche nach den Zonen  unserer Zeit. Als Ausgangspunkt der Publikation dient „Picknick am Weges-rand“, ein Science-Fiction-Roman von Boris und Arkadi Strugatzki, der 1972 erstmals veröffentlicht, 1977 ins Englische übersetzt und 1979 von Andrei Tarkowski verfilmt wurde. Den Kern der Erzählung bildet eine Picknick-Parabel: „Stellen Sie sich einen Wald vor, einen kleinen Pfad, eine Wiese. Vom Pfad biegt ein Auto zur Wiese ab, ein paar Burschen und junge Mädchen steigen aus […]. Sie zünden ein Lagerfeuer an, bauen Zelte auf, spielen Musik. Am nächsten Morgen dann fahren sie wieder ab. Die Tiere, Vögel und Insekten, die voller Furcht das nächtliche Treiben beobachteten, wagen sich aus ihren Verstecken hervor. Was aber entdecken sie? Auf der Wiese stehen Lachen von Kühlwasser und Benzin, kaputte Zündkerzen und ausgewechselte Ölfilter liegen herum. Alles mögliche Zeug ist verstreut – […] ein Picknick am Wegesrand gewissermaßen.“ Während andere Science-Fiction-Geschichten, sobald sie die Trope des außerirdischen Besuchs verarbeiten, meist von kämpferischen Interaktionen zwischen Menschen und Außerirdischen handeln, gibt es bei den Strugatzkis überhaupt keine direkte Kommunikation. Die Menschen werden zurück-gelassen und sehen sich mit einer Zone aus Überresten des außer-irdischen Besuchs konfrontiert. Es entsteht ein rätselhafter Raum, ein Ort der Wunder, an dem sich unterschiedliche Interessen reiben: von Wissenschaft, Presse, Wirtschaft und Militär bis hin zu den sogenannten Stalkern, die in der Zone Schmuggelware besorgen. Die Zone scheint Wunscherfüllung zu versprechen, doch am Ende sind alle Beteiligten verwirrt oder verletzt oder tot. Ironischerweise bleibt die Ungewissheit, ob die Artefakte aus der Zone auf die richtige Weise benutzt oder gänzlich zweckentfremdet wurden. Die Science-Fiction hat einen Wandel durchlaufen, angefangen von der Zeit in Pulp-Heften – ihrem „Golden Age“ – über ihre Dominanz in der spätkapitalistischen Popkultur bis hin zu den „New Age“-Erzählungen. Früher waren es die Eskapist:innen, die Science-Fiction lasen, heute hingegen scheint es Eskapismus zu sein, keine zu lesen. Schon bei seiner Veröffentlichung war der Roman der Strugatzki-Brüder gleichermaßen eine Warnung an die Leser:innen vor den Gefahren der Politik und der Technik wie auch ein Aufruf zu einer Veränderung der Gesellschaft zum Besseren. Angesichts der Verwendung von Science-Fiction und ihrer Inkorporierung durch und in den Kapitalismus könnten wir uns aber fragen: Was kann die Science-Fiction für uns heute tun? Kann sie auf andere Weise genutzt und gelesen werden? Kann sie zu unserem (!) Werkzeug werden? Falls wir bisher das Glück hatten, den „Klimawandel“ nur am Rande zu erleben und ihn noch ignorieren zu können, ist unsere Wahrnehmung des „Klimawandels“ meist die von etwas Unheimlichem, Geisterhaftem. Aber wie gehen wir mit einem Geist um? In Dehlia Hannahs Text geht es genau darum. Zwischen paranoiden, halluzinatorischen und voreiligen Schluss-folgerungen scheinen in ihrem Beitrag Ambivalenzen und eine zunächst unerwartete Offenheit auf. Sie fragt, zu welchen Preisen wir Zonen betreten, und entwirft Zonen des Widerstandes, aber auch der Öffnung zum Unbekannten. Wenn wir uns mit den Kämpfen, Traumata, Ängsten und Sehnsüchten der „Kompostmoderne“ auseinandersetzen, stellen wir fest, dass sie sich genauso beschleunigen, wie unsere Zeit es zu tun scheint. Hannah lädt zu einer Atempause ein, aber auch dazu, Neugier und Angst voneinander abzugrenzen und einen balancierenden Umgang mit dem Unheimlichen zu suchen.  Julian Charrière wiederum schreibt über eine Zone als Epizentrum unserer düstersten Alpträume. Über die Anziehungskraft, die das Bekannte in einer Leere, in einem verlassenen Ort auf unheimliche Weise ausüben kann, während der Protagonist – falls es ein männliches Wesen ist – durch das postapokalyptische Polygon, eine Atomtestzone in Nordkasachstan, irrt. Wenn wir einen menschengemachten Krater ansehen, verschiebt sich auch unsere Idee eines Kraters. Wir sehen, dass wir die gleiche zerstörerische Kraft haben können wie ein Meteorit. (Kulturelle) Artefakte sind relational. Sie haben keine eindeutige inhärente Bedeutung und keine Rezeption, die die Zeit unverändert überdauert. So verändert sich, wie wir einen Krater ansehen oder wie wir einen Science-Fiction-Roman aus den 1970ern lesen. Ana Maria Durán Callisto schreibt über Träume, in denen Öl-pipelines sabotiert, die Venen und Arterien eines kapitalistischen Systems angestochen werden. Aber auch über traumhafte, jedoch reale Erfahrungen und Eindrücke in Zonen wie dem Amazonas-Gebiet, wo man sich in einem Raum befindet, der teilweise noch unberührt scheint. Ein Ökosystem, das auf einem Grat zwischen irreal-perfektem Paradies und abgedroschenem Kitsch balanciert. Hier erleben wir die Natur als eine Fiktion, eine Lüge und als ein Simulakrum. In den Augen von Insekten sehen wir die Netzhäute von Drohnen und Überwachungskameras. Wir bekommen den Eindruck, dass die Umwelt die Technik nachahmt und nicht andersherum. Beim Betreten solcher surrealen Zonen beschleicht uns das Gefühl, wir selbst seien unecht und unsere Wahrnehmung sei nur gespickt mit Fiktionen, die wir nicht loslassen können oder wollen. Und diese Fiktionen sind auch an unsere Verwendung von Wörtern geknüpft. Beispielsweise legt das Wort Anthropozän den Schwerpunkt auf den Menschen (das Individuum) und lässt so den Einfluss des globalisierten Kapitalismus in den Hintergrund treten. Natürlich kommt dieser vom Menschen, doch stellen wir mit Begrifflichkeiten immer einen Fokus her. So sind wir umgeben von Euphemismen, Fiktionen und Narrativen, die uns manchmal gar nicht bewusst sind. Die beiden Herausgeber:innen schreiben in ihrer Einführung über das der Fiktion innewohnende Potenzial, eine Mobilisierung herbeizuführen. Darüber, wie die Veränderung der Sichtweise und das Verzerren von bestehenden Narrativen ein sinnvolles Tool sein kann, um mit unserer verworrenen und rapiden Veränderungen unterworfenen Zeit umzugehen. Wenn wir davon ausgehen, dass Jameson und Žižek Recht haben, wenn sie behaupten, es sei einfacher, sich ein Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus, was zeigt uns das? Ist es nicht gerade dann sinnvoll, sich auch Wege durch (Science-)Fiktionen zu suchen, um sich Unvorstellbarem zu nähern und es zu bearbeiten? Also um über ein Hyperobjekt (etwas, das zu groß erscheint/ist, um es zu erfassen) wie die Klimakrise zu sprechen. Genau das versucht diese Publikation, indem sie unser kollektives spätkapitalistisches Unbewusstsein mit dem Lektüre-angebot zu stimulieren versucht. Um der Klimakrise zu begegnen, müssen wir überhaupt erst einmal Werkzeuge finden. Ein Ansatz könnte darin bestehen, sich des Gespenstischen des Themas bewusst zu werden. Denn wie wollen wir über Ursachen, Wirkungen und Lösungswege sprechen, wenn über uns ein gespenstisches Damoklesschwert schwebt, dass wir die ganze Zeit zu ignorieren versuchen? Das Nachdenken über Zonen scheint hier nicht nur wichtig und aktuell, es ist fast schon anachronistisch. Wir befinden uns bereits in Zonen. Wir bewegen uns durch klimatisierte Räume, Zoom-Calls und Hightech-Umgebungen, die eine Fantasie von Kontrolle und Komfort füttern. Doch in der Zone der Krise sind wir in einem Raum des radikalen Andersseins. Er ist ein Ort der sozialen und kulturellen Innovation – ein Ort, an dem das Leben neu gestaltet werden muss (!). Die bisherige, schlecht funktionierende Ordnung der Dinge ist zusammengebrochen. Das System, das vorher existierte, ist außer Kraft gesetzt. In gewisser Weise ist die Komfortzone zu einem historischen Artefakt geworden. Die neue Zone hat sie bereits ersetzt. Die Zone lässt uns keinen Raum für Ausflüchte, da sie sich auf eine globale Ebene aus-geweitet hat. Es handelt sich nicht mehr nur um ein begrenztes Picknick. Es war ein Fest, das überall stattfand. Die Protagonist:innen sind mit einer Anomalie konfrontiert. Und eine Anomalie ist oft eine Chance zur Veränderung und kein Anlass für Verzagtheit. In Ansätzen vermittelt die Publikation das auch. Gerade das erscheint mir richtungsweisend zu sein: das Arbeiten „in Ansätzen“. Vielleicht ist das genau das, was an einem „Cognitive Estrangement “ in der Science-Fiction so wichtig ist. Und sie abgrenzt zu (Science-)Fiktionen, die vollständig auf ihren Gebrauchswert reduziert sind und so in Kitsch aufgehen. Neben einem Wirklichkeitssinn brauchen wir auch einen Möglichkeitssinn. Wir können Science-Fiction als eine Verzerrung von Gegenwart sehen statt als Entwürfe einer Zukunft. Wir müssen keine fremden oder verlorenen Welten mehr entdecken. Wir selbst sind in einer verlorenen Welt. Sehr vieles spricht dafür, dass wir uns von dem Gedanken lösen müssen, bei Zukunft vor allem an Wachstum und Fortschritt zu denken. Denn es gibt weitere unerwartete Zonen, in denen wir Zukunft finden können.  https://dpr-barcelona.myshopify.com/products/roadside-picnics Benno Hauswaldt wurde 1998 in München geboren. Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums mit einem Diplom in Freier Kunst an der HBK Braunschweig setzt Hauswaldt mit einem Studium der Kunstwissenschaften seinen Bildungsweg fort. 01

  • Natur als Versprechen? Pflanzen als skulpturale Elemente in der Architektur der Moderne und Gegenwart

    Artikel von Ursula Ströbele Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Natur als Versprechen? Pflanzen als skulpturale Elemente in der Architektur der Moderne und Gegenwart Ursula Ströbele 1 Charles Eisen, Allegorischer Stich der vitruvianischen Urhütte. Frontispiz zu Marc-Antoine Laugier, Essai sur l’Architecture, Paris: Chez Duchesne 1755 Credits: https://www.e-rara.ch/zut/doi/10.3931 /e-rara-128 2 Bruno Taut, Stiftskirche in Stuttgart, Innenraum , 1904, Pastell auf grauem Papier, AdK, BTA – 10 – 625 Credits: Taut, Bruno, 2007. Natur und Kunst. In: Bruno Taut: Ex Oriente Lux, Die Wirklichkeit einer Idee. Speidel, M., Mann Verlag: Berlin, S. 52 3 Giuseppe Franzoni, Kapitell mit Maiskolben , 1809, Säulenhalle des U.S. Kapitols Credits: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flickr_-_USCapitol_-_Corn_Capital_-_U.S._Capitol_Building.jpg ; Architect of the Capitol 4 C. A. Lebschée, Die Linde zu Peesten , 1850, Tonlithographie, in: Das Album Thurnau – Tafel XXXIII Credits: http://www.landschaftsmuseum.de/Seiten/Heimatpf/Album-Tafel_33.htm 5 Eileen Gray, E1027 , 1929 Credits: Foto: Manuel Bougot/Conservatoire du Littoral 6 Arthur Wichula, Ein Hochstand im Jagd-gebiet mit einer bequemen, gewachsenen Treppe Credits: Wichula, Arthur, 2012. Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend (1926). Packpapier Verlag: Osnabrück, S. 75 7 Frank Llyod Wright, Fallingwater , 1935–1937, Pennsylvania Credits: Photo Courtesy of the Western Pennsylvania Conservancy. Fallingwater is located in Mill Run, Pa., 724.329.8501 8 Boeri Studio (Stefano Boeri, Gianandrea Barreca, Giovanni La Varra), Bosco Verticale , 2007–2014, Mailand Credits: Boeri Studio, https://www.stefano boeriarchitetti.net/en/project/vertical-forest/ 9 Stefano Boeri Architetti, Trudo Vertical Forest , 2017–2021, Eindhoven Credits: Boeri Studio, https://www.stefano boeriarchitetti.net/en/project/trudo-vertical-forest/ 10 Stefano Boeri Architetti, Trudo Vertical Forest , 2017–2021, Eindhoven Credits: Boeri Studio, https://www.stefano boeriarchitetti.net/en/project/trudo-vertical-forest/ 11 Ingenhoven architects, Kö-Bogen II , 2017–2020, Düsseldorf Credits: ingenhoven associates / HGEsch 12 Luciano Pia, 25 Verde , 2012/13, Turin Credits: Luciano Pia 13 Vincent Callebaut, Tao Zhu Yin Yuan/Agorá Garden , 2013–2018, Taipeh Credits: Yu tptw, https://commons.wikimedia . org /wiki/ File:Agora_Tower_20230309.jpg 14 Mass Studies, Ann Demeulemeester Shop , 2007, Seoul Credits: Yong-Kwan Kim 15 Patrick Blanc, Le mur végétal , 2012, Musée du Quai Branly, Paris Credits: Patrick Blanc 16 Patrick Blanc, Tinospora crispa an Edelstahlseilen , Le Nouvel Towers, 2016, Kuala Lumpur Credits: Patrick Blanc 17 BigRep, BANYAN Eco Wall , 2019, 2000 x 2000 x 600 mm, 4 Teile, BigRep Berliner Weisse Pur PETG, BigRep Black PRO HT Credits: BigRep. Team: Daniel Büning, BigRep CIO und NOWLAB Co-Founder Lead Designers – Mirek Claßen, Tobias Storz, Lindsay Lawson https://bigrep.com/posts/banyan-eco-wall/ 18 Friedensreich Hundertwasser, Hundertwasserhaus , 1983–1985, Löwengasse, Wien Credits: C.Stadler/Bwag; CC-BY-SA-4.0. 19 Anna Heringer, Desi Center , 2008, Rudrapur, Bangladesch Credits: Alexandra Grill I. Einführung – Topos der Urhütte Für seinen Essai sur l’Architecture (1755) wählte Marc-Antoine Laugier als Frontispiz eine allegorische Darstellung, die an die Vitruvianische Urhütte erinnert (Abb. 1)[1 ] : Die Personifikation der Architektur deutet auf vier quadratisch angeordnete Baumstämme, die durch horizontale Rundhölzer verbunden sind und eine Art Satteldach aus gegeneinandergestellten Ästen tragen. Die Grundstützen bestehen aus vier wachsenden Bäumen von gleicher Höhe, deren Baumkronen Mauerwerk ähnlich zur Dachstruktur beitragen. Scheinbar achtlos stützt sich die Personifikation auf Fragmente eines antiken Gebälks. Ihr Körper ruht auf einer umgekippten Säule; vor ihr liegen weitere, teils von Pflanzen überwucherte Bauelemente. Diese Ursprungsmythen aufrufende rurale Architektur gehört zu den prominentesten Beispielen einer bildlichen Auseinandersetzung mit der Urhütte. Mit der Allegorie Charles Eisens wird unsere Aufmerksamkeit auf diesen, dem Material und Formenrepertoire der Natur abgeleiteten Urtypus jeglicher Baukunst gerichtet, der als Grundlage vergangener und zukünftiger stilistischer Entwicklungen dient – wie die Wurzeln der Bäume fest im Fundament der Geschichte verankert. II. Die Hängenden Gärten Babylons, Baumsäulen und Tanzlinden als Vorläufer grüner Baukunst Dieser Stich zeigt die enge Verwobenheit von Natur und Architektur, d. h. Architektur als Mimesis von Naturstrukturen. In Anlehnung an meinen Vortrag auf der Tagung Kunst im Klimanotstand an der HBK Braunschweig im Dezember 2023 möchte ich in meinem Text einige Überlegungen zur grünen Architektur bzw. Hortitecture (Grüntuch-Ernst 2018) vorstellen. Dabei interessiert mich, inwiefern Pflanzen als Bauplastik, d. h. als gestalterisch gliederndes Element und Ornament, in der Architektur der Gegenwart dienen und welche historische Rückbindung relevant ist. Der Fokus liegt auf Gebäuden mit fassadengebundener Begrünung. Gefragt wird, ob der Begriff der Spolie gewinnbringend zu erweitern ist und wie sich das Verhältnis von Innen und Außen ändert, dabei zum porösen Habitat wird, erweiterte Konvivialität im Sinne eines Zusammenlebens mit nicht menschlichen Akteuren bietet. Der Topos der Urhütte ist nur ein Beispiel, das den Ursprung der Architektur aus der Natur heraus erklärt und die Baumsäule zum weitreichenden Phänomen macht. Auch das gotische Gewölbe der Kathedralen gilt von Raffaels Denkmalsbrief bis zu Sir John Soane (1752–1837) als Stil, der seinen Ursprung in verzweigten Baumkronen habe, entstanden aus ungefällten Bäumen, deren zusammengebogene Äste Spitzbogen ergaben. Chateaubriand (1768–1848) vergleicht in einer literarischen Metapher die Türme mit Bäumen und den Klang der Orgel mit dem Rauschen des Windes; Huysmans erblickt im Wald die Kathedrale und Bruno Taut (1880–1938) greift in Natur und Baukunst (1904) auf diesen Vergleich erneut zurück (Abb. 2) (Taut 1904/2007: 50–52; Weiß 2015: 162–166). Während die Vegetabilisierung am Teehaus in Sanssouci zu künstlichen, palmenartigen Stützen und am Kapitol in Washington zu Kapitellen mit den identitätsstiftenden Attributen Tabakblätter und Maispflanzen (Abb. 3) führt, vereinen die Tanzlinden als soziokulturelles und baugeschichtliches Phänomen beides: menschlich gezogene Bäume verzahnt mit einer gebauten Substruktion (Abb. 4) und Spalieren als Podest für Volksfeste. Der Baumpavillon ist von einer externen Treppe zu begehen und kann phantastische Auswüchse annehmen, wie im schlesischen Ratibor (heute Polen)[2 ]. Zu den mythischen Vorläufern grüner Architektur zählen die Hängenden Gärten Babylons, die Frank Maier-Solgk zufolge als kulturhistorischer Topos „zum Synonym von Gebäudegrün überhaupt wurde[n]“ (Maier-Solgk 2020: 167) – ein Bauwerk mit Bewässerungsanlage auf einer architektonischen Konstruktion, zugeschrieben Nebukadnezar II., ca. 570 v. Chr., oder der sagenhaften Königin Semiramis (Schweizer 2020: 29–30). Die moderne Weiterentwicklung von Flachdach und Dachgarten gelang durch technische Voraussetzungen, mit eisen- und stahlbewehrtem Beton. III. Hortitecture avant la lettre in der Moderne Le Corbusier versieht seine Unités d’Habitation mit Flachdächern und spricht sich für Dachgärten bzw. -terrassen aus, begründet dies gebäudetechnisch als Kompensation für die versiegelte Fläche und als Schutz des Eisenbetons vor schwankenden Außentemperaturen sowie sozialgesellschaftlich im Sinne einer Konvivialität der Bewohner:innen. Auch Eileen Gray stattet ihre Wohnhäuser E.1027 (1926–29) (Abb. 5) im südfranzösischen Roquebrune-Cap-Martin und Tempe a Pailla (1932–34) im benachbarten Castellar mit Dachterrassen aus, setzt sich aber in ihrer sensualistisch körperbezogenen Auffassung des Hauses als „shell of man“ von der rationalistisch-funktionalen Wohnmaschine des Neuen Bauens ab (Gray zit. n. Adam 1987: 309). Arthur Wiechula („Naturbauingenieur“) (Abb. 6) konzipiert im Berlin der 1920er-Jahre seine wachsenden Häuser aus topiarisch geformten Bäumen (Wiechula 1926/2012). Terrassenhäuser sind seit langem aus wärmeren Klimaregionen bekannt. Für Fallingwater (1935–1937) reagiert Frank Lloyd Wright (Abb. 7) auf die ortsspezifische hangartige Topografie.[ 3 ] Die freitragenden, umlaufenden Terrassen aus Stahlbeton, die Pflanzenbewuchs nur in einzelnen Beeten aufweisen, sind (inzwischen) von Baumkronen umgeben, wodurch die Verbindung von Landschaft und Baukörper unterstrichen wird. Optisch ergibt sich eine horizontale Schichtung aus den hellen Betonbrüstungen der auskragenden Terrassen – teils durchbrochen von einem Baum – auf zwei Geschossen und den rötlich-braunen Steinquadern des zentralen Kubus, unterbrochen durch große Fensterflächen. Diese buchstäbliche Verankerung des Gebäudes mit dem Boden „to grow from its site“ über Material und Topografie bezeichnet Wright als „organic“/„natural“/ „integrated“ (Wright zit. n. Reynolds 2011: 254). Dorte Mandrups parabolische Walbeobachtungsstation an der Küste Norwegens greift das auf. Das organische Design der dänischen Architektin soll in Kürze fertiggestellt werden und erhebt sich wie ein Hügel am felsigen Ufer. Das Dach ist mit Steinen bedeckt, die mit der Zeit eine Patina aufweisen, der Übergang mit Moosen gestaltet.[4 ] Bis heute werden Pflanzen an Gebäuden auch als Hindernis für die tektonische Konstruktion gewertet – bei Fallingwater das Problem der Feuchtigkeit. Doch manifestiert sich seit den letzten 20 Jahren eine neue Popularität der Gebäudebegrünung, wobei Natur als unentbehrlicher Bestandteil einer sozialgesellschaftlichen Verantwortung von Architektur in den globalen Metropolen gilt. Zu fragen ist, ob die aktuelle Wohnraum(nach)verdichtung und daraus folgende vertikale Bauweise dazu führt, dass Grünflächen wie Innenhofgarten, Terrasse oder Loggia an die Fassade oder aufs Dach wandern – zugunsten von verbessertem Mikroklima, Luftfilterung und Biodiversität. Die Fassade avanciert zur atmenden Membran und grünen Lunge. IV. Naturspolien als Authentizitätsversprechen im Bosco Verticale Das Stadtbild von Mailand prägen die beiden Apartmenttürme Bosco Verticale Stefano Boeris, Gianandrea Barrecas und Giovanni La Varras mit der Botanikerin Laura Gatti, die in dieser männlichen Riege selten explizit genannt wird (Abb. 8) (Kietzmann 2014). Gegeneinander versetzte, terrassierte Auskragungen tragen Pflanzenbewuchs – farblich im Verlauf der Jahreszeiten choreografiert. Bemerkenswert ist, dass dieses zu den Ikonen grüner Architektur gehörende Gebäudeensemble zwar vielfach diskutiert wird, der Fokus aber auf den botanischen Herausforderungen liegt, auf der Attraktion der Superlative, da jeder Turm mit ca. 7000 m2 bis 1 Hektar Wald vergleichbar sei sowie rund 730 Bäume und 20.000 Pflanzen beheimate (Kietzmann 2014). Boeri proklamiert eine „non-anthropized urban ethics“, d. h., „where humanity is no longer alone on the pedestal of life“ (Boeri 2016: 59–60). Trotz dieses posthumanistischen Anspruchs bleiben seine Gebäude menschliche Behausungen, wirken Flora und Fauna wie schmückendes Beiwerk. Bau- und materialtechnische Informationen zur Mailänder Version sind nur indirekt zugänglich, sodass sich die Frage nach der Tragfähigkeit seines Anspruchs auf Nachhaltigkeit stellt. Auf der Website von Cotto d’Este erfährt man, dass die Außenverkleidung der hinterlüfteten Fassade aus 1,4 cm dicken Keramikplatten besteht, die eigens entwickelt wurden (Blackstone ) und die aus Stahlbeton gegossenen Balkone ummanteln.[5 ] Der womöglich im Pionierprojekt noch sekundär behandelte CO2-Abdruck mag einer der Gründe sein, weshalb die Kommunikation nicht so transparent erfolgt wie beim Nachfolgebau Trudo Vertical Forest in Eindhoven (2017–2021) (Abb. 9), der beweisen soll, dass vergleichbare architektonische Konzepte für den sozialen Wohnungsbau geeignet sind.[6 ] Vorgegossene Betonplatten ermöglichten eine reduzierte Bauzeit und Kosteneinsparung. Während die Wohnungen des Bosco Verticale in Privatbesitz sind, gehört das architektonische Grün zum Baukörper und unterliegt gemeinschaftlicher Pflege. Wasserstand und Bodenqualität werden von Sensoren gemessen. Aufgrund der zunehmenden Windstärke in der Höhe sind die Bäume mit Stahlträgern gesichert (Abb. 10) – „Natur“ als Versatzstück, architektonisch in kubenartigen Behältnissen eingerahmt. Die Bäume des „vertikalen Waldes“ üben wie noch bei der Urhütte keine tragende Funktion mehr aus, sondern agieren – im übertragenen Sinne zierender Bauplastik – ähnlich als verlebendigte Baumsäulen. Auch in den Innenräumen der „Neuen Sachlichkeit“ werden „wie Skulpturen platzierte[n] singuläre[n] Pflanzen“, insbesondere die Monstera deliciosa und der Ficus elastica , an einem ihnen eigens zugestandenen Ort exponiert (Tietenberg 2023: 110). Monika Wagner bezeichnet die Implementierung von Naturstoffen im White Cube und öffentlichen Raum, isolierte, exotische Bäume wie Palme und Ficus, collageartige Grasmatten oder künstliche Wasserfälle in den Plazas von Manhattan und Einkaufsmalls als „Naturspolien“ (Wagner 1996). Sie werden wie Preziosen präsentiert zugunsten städtebaulicher „Aufmöbelung“ (gentrification ) (Wagner 1996: 27). Auch auf Hortitecture wie Boeris Bauten ließe sich meines Erachtens dieses Modell Wagners einer „De-Plazierung von Natur und ihre spolienartige Neumontage“ (Wagner 1996: 36) erweiternd übertragen. Der Entwurzelung haftet das Fremde, Ungewohnte an. Spolien dienten seit der Antike als Beutegut in Form von baulichen Fragmenten, Kunstwerken und Dekorelementen. Spolium bedeutet „Raub“, „dem Feind Abgenommenes“, das assemblageartig in einen neuen Kontext versetzt, seiner ursprünglichen „Funktionalität“ entrissen wird, bedingt durch die Translokation eine semantische Erweiterung erfährt. Wagner betont den damit verbundenen gehobenen Lifestyle, der Exklusion mit sich bringe und das Paradox einer demokratischen, frei zugänglichen Natur formuliere. Auch bei vielen grünen architektonischen Prestigeprojekten lässt sich nicht, so könnte man ergänzen, von einer realen Symbiose von Kunst und Natur sprechen, die zu einer allgemeinen Erreichbarkeit von Natur führt. Jedoch repräsentieren Spolien neben der ihnen entgegengebrachten Nobilitierung als „Aufmerksamkeitserreger“ sowie im Zuge aktueller Recycling-Ansätze eine „Ressourcenschonung“ und ein „Authentizitätsversprechen“, wie Hans-Rudolf Meier baugeschichtlich erörtert (Maier 2020: 207f., 213). Die Rückversicherung einer Ersten Natur ist in dieser (domestizierten) Dritten Natur als organische Fassadengestaltung evident. Natur scheint keiner Erklärung zu bedürfen, weil sie, ideologisch betrachtet, oftmals immer noch als ursprünglich, zugänglich und vertraut gilt. Während Wagner Mitte der 1990er-Jahre „das vermehrte Auftreten von Naturspolien“ in Form global einheitlicher Stadtbepflanzung noch „keineswegs als Indiz einer Renaturalisierung der Stadtzentren“ deutet (Wagner 2013: 134), ist 25 Jahre später ein Gegentrend lokal spezifischer Bepflanzung zu verzeichnen. Auch Boeri spricht von einer „new idea of localism“ (Boeri zit. n. Lootsma 2000: 23). Ingenhoven architects verwenden beispielsweise in ihrem Düsseldorfer Kö-Bogen II ein lokales Gewächs (Abb. 11), namentlich die Hainbuche, die als Hecke jedoch in Aluminiumträgern wächst – kein besonders nachhaltiges Material.[7 ] V. Farmscrapers und Green Walls Doch erfordern klimaresiliente Naturspolien auch die Züchtung neuer Spezies und erlauben das Auftreten landwirtschaftlicher Nutzpflanzen im Urban Gardening . Der seit der Industrialisierung beklagte Verlust intakter Flora und Fauna, der in Megacitys und kontaminierten Landschaften gipfelt, brachte einen Vertrauensverlust in die bildliche Repräsentation mit sich. Eine rein bildliche Repräsentation , wie die floral verzierte Fassade des Wiener Secessionsgebäudes, reicht nun nicht mehr, sondern verlangt die spolienartige Integration von Pflanzen als baugestalterisches Element in der Hoffnung auf Optimierungen im Raumklima. Luciano Pia vereint in seinem noch vor dem Bosco Verticale fertiggestellten Turiner 25 Verde (Abb. 12) beides: Bäume in fassadengebundenen Töpfen und Stahlträger in Baum-Optik. Vincent Callebaut wiederum konzipiert sogenannte Farmscrapers mit Wasseraufbereitungsanlagen und hausinterner Energieversorgung. Seinen Ansatz kennzeichnet eine futuristische, organisch-fluide, japanischen Animationsfilmen entlehnte Formensprache, darunter Agorá Garden (2017) in Taipeh (Abb. 13). Die 20 Stockwerke sind wie eine Doppelhelix so gedreht, dass jede Etage viel Sonnenlicht bekommt und deutlich mehr Bäume gepflanzt werden können. Die Naturspolien der balkonreichen Fassade fungieren als Urban Farming -Parzellen. Das Rendering zeigt hier die ornamentale Funktion von Pflanzen und impliziert eine eigene bildtypologische Herausforderung. Während bei den bisherigen Gebäuden die organische Fassadenstruktur durch Terrassierung, auskragende Balkone und kaskadenförmige Freiluftgärten gewährleistet wird, daher Assoziationen an klassische Bauplastik hervorruft, schmiegt sich ein grüner Wandteppich des Ann Demeulemeester Shops in Seoul (Abb. 14) eng an den Baukörper, zieht sich sogar bis ins Innere (Mass Studies 2007). Patrick Blancs Murs Végétaux (Abb. 15) charakterisieren eine vegetabile Vielfalt und können Gebäude auch nachträglich verzieren.[8 ] Neben seiner Living Facade (Nordseite) am Pariser Musée du Quai Branly (2006) arbeitete er bis 2016 mit Jean Nouvel an einem Gebäude in Kuala Lumpur (Abb. 16), dessen Fassade er mit unterschiedlichen Weinreben bekleidete. Doch als eigentlicher Erfinder der Green Wall mit Hydroponik gilt Stanley Hart White von der University of Illinois, Urbana-Champaign, der 1938 ein Patent anmeldete (vgl. Hindle 2012). Seine modularen „botanical bricks“ verstand er als gebaute, ornamentale Elemente, die kostengünstig, zügig und flexibel architektonische „Schandflecke“ kaschieren. Heute ermöglicht der 3D-Druck Fassadenelemente aus recyceltem Material als Träger künstlicher Ökosysteme mit Pflanzen- und Insektenhabitat (Abb. 17). VI. Schlussbemerkung Vegetabile Fassaden agieren wie eine schützende Mauer, die Blicke ebenso abhält wie Lärm- und Luftverschmutzung. Anstatt konturierter Stasis präsentieren diese Gebäude in ihrer Ästhetik des Transitorischen eine veränderliche, wachsende Silhouette mit jahreszeiten- und witterungsbedingter Zeitlichkeit. Ein Kritikpunkt könnte „Fassadismus“ sein, der Hundertwasser (Abb. 18) vorgeworfen wurde und das vorrangige Interesse an Oberflächengestaltung bezeichnet. Bei vielen preisgekrönten Bauten drängt sich die Frage auf, ob sie mit ihren über die Fassade verteilten Naturspolien das damit verbundene Authentizitätsversprechen und eine Nobilitierung durch ökologische Aufwertung einzuhalten vermögen. Oder verläuft dieses Versprechen eines Rückgriffs auf die Erste Natur bzw. deren transmutierte Form eher in einem illustrativen Green Washing ? Spolien dienen der Milderung des Bruchs zwischen Alt und Neu (Maier 2013: 338), sodass in der Hortitecture „Neues Bauen“ im Sinne stadtplanerischer und gebäudetechnischer Erneuerung zugunsten über den Menschen hinausgehender Konvivialität verlangt ist. Der Verlust des Vertrauens in die bildliche Repräsentation verlangt die spolienartige Integration von Pflanzen als baugestalterisches Element. Ob dies im Rückgriff auf tradierte Bautechniken, wie bei Anna Heringers Lehmbau in Rudrapur, Bangladesch (2008) (Abb. 19) oder Cynthia und John Hardys an die Urhütte erinnernden Green School aus Bambus in Bali (2008), erfolgen muss, gilt es weiter zu erforschen. Literatur Adam, Peter, 1987. Eileen Gray Architect/Designer. New York Boeri, Stefano, 2016. Towards a Forest City. In: Antony Wood, David Malott, Jingtang He (Hrsg.), Cities to Megacities: Shaping Dense Vertical Urbanism. A Collection of State-of-the-Art, Multi-Disciplinary Papers on Urban Design, Sustainable Cities, and Tall Buildings, (1), Proeceedings of the CTBUH 2016 International Conferences, Shenzhen, Guangzhou, Hong Kong, China, Council on Tall Buildings and Urban Habitat: Chicago, S. 59–66. https://global.ctbuh.org/resources/papers/download/2861-towards-a-forest-city.pdf (abgerufen am 06.01.2024) Grüntuch-Ernst, Almut / IDAS Institute for Design and Architectural Strategies (Hrsg.), 2018. The Power of Architecture and Plants. Berlin: Jovis Hindle, Richard L., 2012. A vertical garden: origins of the vegetation-bearing architectonic structure and system (1938). In: Studies in the history of gardens & designed landscapes. An International Quarterly, 32 (2), 99–110. https://escholarship.org/uc/item/62m5k813 (abgerufen am 05.01.2024) Kietzmann, Norman, 2014. Bosco Verticale gewinnt internationalen Hochhauspreis. In: G + L: Garten + Landschaft, 25.11.2014. https://www.garten-landschaft.de/bosco-verticale-gewinnt-internationalen-hochhauspreis/ (abgerufen am 06.01.2024) Laugier, Marc-Antoine, 1755. Essai sur l’Architecture. Paris: Chez Duchesne. https://www.e-rara.ch/zut/doi/10.3931/e-rara-128 (abgerufen am 27.01.2024) Lootsma, Bart, 2000. From above the tumult – under the paving stones, the beach. In: Stefano Boeri, 2G (62), 18–25 Maier, Hans-Rudolf, 2013. Rückführungen. Spolien in der zeitgenössischen Architektur. In: Stefan Altekamp, Carmen Marcks-Jakobs, Peter Seiler (Hrsg.), Perspektiven der Spolienforschung 1: Spoliierung und Transposition, S. 333 –350. Berlin: de Gruyter Maier, Hans-Rudolf, 2020. Spolien: Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur. Berlin: Jovis Maier-Solgk, Frank 2020. Von den Hängenden Gärten zur Zeitgenössischen Hortitecture. In: Stefan Schweizer (Hrsg.), Die Hängenden Gärten von Babylon: Vom Weltwunder zur grünen Architektur, S. 161–191. Berlin: Wagenbach Reynolds, John M., 2011. Falling Water: Integrated Architecture’s Modern Legacy and Sustainable Prospect. In: Lynda Waggoner (Hrsg.), Fallingwater, S. 244–259. New York: Rizzoli International Publications Schweizer, Stefan, 2020. Die Hängenden Gärten von Babylon: Vom Weltwunder zur grünen Architektur. Berlin: Wagenbach Taut, Bruno, 1904/2007. Natur und Kunst. In: Manfred Speidel (Hrsg.), Bruno Taut: Ex Oriente Lux, Die Wirklichkeit einer Idee, S. 50–52. Berlin: Gebr. Mann Verlag Tietenberg, Annette, 2023. Wo das Domestizierte und das Domestische sich begegnen: Monstera Delicisiosa und Ficus Elastica als Komponenten des Wohnens in der ‚Neuen Sachlichkeit‘. In: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hrsg.), Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens. Häusliches und Domestisches in der visuellen Moderne, S. 91–113. Bielefeld: transcript Wagner, Monika, 1996. Gras, Steine, Erde. Naturspolien in der zeitgenössischen Kunst. In: Museumskunde 61 (1), 26–36 Wagner, Monika, 2013. Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. 2. Auflage der broschierten Sonderausgabe. München: C.H. Beck Weiß, Heiko, 2015. Die Baumsäule in Architekturtheorie und -praxis, von Alberti bis Hans Hollein. Petersberg: Imhof Wiechula, Arthur, 1926/2012. Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend. Osnabrück: Packpapier Verlag CV Ursula Ströbele ist Professorin für Kunstwissenschaft mit Schwerpunkt Kunst der Gegenwart an der HBK Braunschweig. 2019–2023 leitete sie das Studienzentrum zur Kunst der Moderne und Gegenwart am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Sie promovierte an der HHU Düsseldorf zu den Bildhaueraufnahmestücken der Pariser Akademie (1700–1730). 2020 wurde sie mit einer Arbeit zur skulpturalen Ästhetik des Lebendigen (Hans Haacke, Pierre Huyghe) habilitiert. Forschungsschwerpunkte: digitale, zeitbasierte Phänomene des Skulpturalen, Kunst und (queere) Ökologien, Que(e)rschnittsgeschichte der Skulptur des 20. Jahrhunderts, Infrastrukturen der Moderne. [1] Vitruv verknüpft die bei sogenannten „primitiven Völkern“ vorkommende Bauweise eines einräumigen Hauses (Tugurium) mit den Anfängen der Technik und Baukunst, denn auch die Casa Romuli des römischen Stadtgründers sei eine einfache Strohhütte gewesen (Vitruv, De Architectura, II, 1., u. a. 6–17). [2] Vgl. http://www.tanzlinde-peesten.de , https://tanzlindenmuseum.de/tanzlinde/ (abgerufen am 05.01.2024). [3] Vgl. https://fallingwater.org (abgerufen am 05.01.2024). [4] Vgl. https://dortemandrup.dk/work/whale-norway (abgerufen am 05.01.2024). [5] Vgl. https://www.cottodeste.de/projekte/vertical-forest (abgerufen 05.01.2024). [6] Vgl. https://www.stefanoboeriarchitetti.net/en/news/casa-bosco/ (abgerufen 05.01.2024). [7] Vgl. https://www.ingenhovenarchitects.com/projekte/weitere-projekte/koe-bogen-ii-duesseldorf/description (abgerufen am 05.01.2024). [8] Vgl. https://www.verticalgardenpatrickblanc.com/realisations/kuala-lumpur/le-nouvel-kuala-lumpur (abgerufen am 05.01.2024). 01 02 03 04 05 06 07 08

  • Impressum | appropriate

    Anker 1 Impressum Anschrift Hochschule für Bildende Künste Braunschweig z.H.: Martin Krenn Johannes-Selenka-Platz 1 38118 Braunschweig Kontakt Telefon: +49 (531) 391 9011 E-Mail: m.krenn@hbk-bs.de Rechtsform und gesetzliche Vertretung Prof. Martin Krenn Technische Betreuung des Web-Service Prof. Martin Krenn, HBK Braunschweig Web-Content Diese Webseite hosted das Webjournal "appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst" der Kunstvermittlung, Institut FREIE KUNST, HBK Braunschweig. Das Journal wurde am 29.4.2021 gelauncht. Inhaltlich verantwortlich gemäß §55 Abs. 2 RStV: Prof. Martin Krenn, Kunstvermittlung, Institut FREIE KUNST, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig Copyright Das Urheberrecht aller in appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst veröffentlichten Inhalte liegt bei den AutorInnen. Falls nicht anders im Beitrag ausgewiesen, gelten die vom Gesetz gewährten Rechte u.a. die Vervielfältigung für den privaten Gebrauch sowie das Zitatrecht. Darüber hinaus ist die Nutzung für nicht-kommerzielle, wissenschaftliche und pädagogische Zwecke sowie der Verweis auf appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst als externer Link ausdrücklich erwünscht. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Seiten, die auf appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst verlinken.

  • Issue 2 Wydrowska | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Queer Activism in Poland's split society Political education through Bożna Wydrowska's performance artworks Pinar Dogantekin "Everyone has to take the side, you can feel it in everyday life." With the assumption of power by law and justice in Poland, society has become more polarized. The current government, led by president Andrzej Duda, controls the state media only showing news and shows with an undemocratic view on the LGBT+ community but also a traditional picture of what a Polish woman ought to be like. "The medial situation is making citizens' views more extreme", the young artist Bożna Wydrowska explains. Today, a growing number of journalists seeks political and economic refuge on the internet. Due to the increasing censorship of government privatizing media and preventing journalists and civilians from criticizing its actions Poland has a problem with freedom of opinion. Right-wing conservative politics appeals to a part of society but the other half is completely against it. Bożna Wydrowksa describes a national feeling of being pressurized. “Everyone has to take the side, you can feel it in everyday life“, she explains. Being gender fluid themself, Bożna Wydrowska deals a lot with the situation of Polish LGBT+ community being targeted by law and justice which promote the traditional and catholic family model. The current government not only excludes the entire LGBT+ community. Creating so-called LGBT+ -free zones, the president gave a statement regarding the LGBT+ community calling them an ideology more harmful than communism. But the government also bends women's rights by considering declarations regarding the withdrawal from the Istanbul Convention, enforcing a near-total abortion law and not protecting women when experiencing physical violence. “Ballroom and voguing led me to the topic of redefining gender.“ Not only as a political activist but also as a political artist Bożna Wydrowska knows about the influence artworks can have in and on society. Most Polish artists are now politically involved in the fight against the current system while law and justice have been taking over and censoring cultural institutions for some time now promoting its right-wing ideology. “The world of arts is very much needed now because it is the only way to directly reach and communicate with recipients from various environments“, Bożna Wydrowska says. Wydrowska expresses feelings and thoughts by performing art. As a ballroom and voguing dancer and teacher they integrates her knowledge about these powerful themes. Ballroom culture originated in the 1970s among the underground BIPoC queer community of New York City. The first mentions of drag balls appeared in the second half of the twenthieth century; at that time they were huge shows for several thousand people. But although this was a place of integration for the queer community, it was still subject to strong racial inequalities. After some time, the black queer community decided to create balls on its own terms. Ballroom consists of categories that reflect its lived experiences through performance and dance. Voguing is a dance form that comes from improvisation; it also emerged in the community in the 1970s. Inspired by the style of ancient Egyptian hieroglyphs and the famous images of models in Vogue magazine, voguing is characterized by striking a series of poses as if one is modeling for a photo shoot. Arm and leg movements are angular, linear, rigid, and move swiftly from one static position to another. The story of voguing starts with ballroom icon Paris Dupree. “One day as he was listening to music while flipping through a Vogue magazine, he noticed the different poses that the models were doing and took them and decided to imitate those poses to music. Sometimes holding different poses to the music. He began doing this new dance at the clubs and at the balls. That is how Vogue was introduced into the ballroom scene.“ (Jamal, 2017) Voguing offers a chance for a broader exploration of gender identity and articulation of sexuality. In 2012 Bożna Wydrowska was one of the first artists who introduced this culture to the wider public in Poland by teaching classes, organizing workshops, and giving lectures. “Ballroom culture has given me not only a new chosen family but also a new perspective and strategies on examining machinery of the social relations beyond the culture. It led me to the topic of reclaiming and redefining masculinity and femininity regardless of gender and also pushed me to experiment with different images, transforming my body to become my own fantasy and that of others“, the young artist explains. In 2016 Bożna decided to start organizing balls in Warsaw into which she engaged Polish DJs and dancers as well as guests from abroad. The goal was not only to popularize the ballroom culture in Poland and the local club scene but also to create a safe space for everybody who feels excluded from society. As ballroom culture and voguing have always been a form of protest fighting against race, class, gender and sexual oppression Bożna Wydrowska has begun adopting a similar strategy in the Polish ballroom community after the intensification of homophobic and nationalist movements related to the change of the ruling party in Poland. It became a creative response to the dangers against the political and social background. After strong repressions against the Polish LGBT+ community and women's rights ballroom has become a form of performing resistance and rebellion against the system. How everyone's body can help to reshape the understanding of the world As the body itself is the basis for Bożna Wydrowska‘s artwork they interprets it as the “essential ground of human identity“. The message of the artwork achieves to have a real impact on social life: “Our bodily encounters with the physical environment shape and reshape our understanding of the world. I believe our bodies are as public and important as our thoughts and opinions. Body in motion is a powerful tool to fight against social and political oppression.“ Currently artists are facing big challenges in Poland's political situation. Artistic institutions become more and more controlled. The current censorship does not allow many young artists to speak up in the public discourse. “The consent to fascist behavior in the Polish public sphere is disturbing“, Bożna Wydrowska says. Unfortunately, especially female artists suffer from financial stress. The art market itself reproduces this poverty, often refusing to pay artists for work, or proposing really small budgets. Also the government’s subsidies for artistic activities are very small. “That is why it is so important to create bottom-up mechanisms of solidarity and mutual support, to set up cooperatives and collectives, and to enable them to join work outside institutions“, Bożna Wydrowska appeals. 27- year-old performance artist, dancer and model Bożna Wydrowska is a socio-political activist fighting against political oppression and hierarchies in Poland. The graduate of Warsaw Academy of Fine Arts expresses herself as a sometimes more fluid, sometimes more unidentified and sometimes more feminine experimental identity in a society that is controlled by a conservative party. References Amnesty Journal, 2021. Polen- Gehen oder bleiben? https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/polen-gehen-oder-bleiben (visited September 25, 2021) Hämäläinen, Janita, 2020. Dudas homophober Endspurt. Polens Präsident und sein Anti-LGBT Wahlkampf. https://www.spiegel.de/ausland/polen-im-anti-lgbt-wahlkampf-andrzej-dudas-homophober-endspurt-a- 3bb97ad3-5746-46cd-8134-84b9f1a4554c (visited September 25, 2021) BBC, 2012. Istanbul Convention: Poland to leave European treaty on violence against women. https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-53538205.amp (visited September 25, 2021)Milan, Jamal, 2017. The History of Vogue. http://www.jamalmilan.com/439287344 (visited September 25, 2021) Queer Activism, photo by Piotr Kład Queer Activism, photo by Marta Kaczmarek

  • Issue 2 Teubert | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 MEHRDEUTIGKEITEN GESTALTEN Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik Buchbesprechung von Julika Teubert Ambiguität – was ist das überhaupt? Schon der Titel des im Folgenden vorgestellten Buchs lässt vermuten, dass es sich hierbei um eine Lektüre handelt, die eine gewisse Auseinandersetzung mit bildungssprachlichen Begriffen erfordert. Dem Thema der Ambiguität oder – einfach ausgedrückt – der Mehrdeutigkeit wird von insgesamt 15 Personen aus Kunst, Vermittlung, Kultur- und Politikwissenschaft multiperspektivisch im Kontext der kulturellen und politischen Bildung nachgegangen. Der 298 Seiten und 14 Aufsätze umfassende Band wurde im Sommer 2021 gemeinsam von Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg und Linda Kelch im transkript Verlag in der Kategorie Pädagogik herausgegeben. Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich aus jeweils drei bis vier Texten zusammensetzen. Allem voran bietet dabei die Einleitung Hintergrundinformationen über eine 2019 stattgefundene Tagung, deren Titel „Ambiguität. Demokratische Haltungen bilden in Kunst und Pädagogik“ nun auch die Publikation prägt. Zudem enthält das Werk eine Erklärung und Einordnung zur Thematik der Ambiguität, um gleichzeitig eine Reihe von Fragen zu stellen, denen sich anschließend in den Gesprächs- und Textbeiträgen gewidmet wird: Wie lässt sich eine offene Haltung gegenüber Uneindeutigkeiten und fremden Eindrücken entwickeln und kräftigen? Wie könnte sich eine solche Haltung in der kulturellen Bildung, wie in der politischen Bildung äußern? Lässt sich eine ambiguitätstolerante Haltung, die in Bezug auf eine spezifische Thematik entstanden ist, auf andere Bereiche übertragen? Die Grundlage des Bandes ist die These, „dass es sowohl für politische Bildung als auch für die Kunstpädagogik gerade unaufgelöste, ambige Situationen sind, die in ihrer Kontroversität das Potenzial haben, bildsam zu sein“, und so die Bildung demokratischer Haltungen fördern. Das Buch beschreibt sich allerdings selbst als paradox in dem Versuch, das Thema der Ambiguität besonders eindeutig und klar erfassen und beschreiben zu wollen. Grundlegend wird die Verbindung von Ambiguität, Kunst und Demokratie folgendermaßen hergestellt: Die Aufgabe der Kunst sei allgemein nicht die, bestehende Überzeugungen zu festigen, sondern zu irritieren und vielfältige Reize zu setzen, die in der Auseinandersetzung mit ihnen in neuen Erfahrungen münden können. Eine Beschäftigung mit Kunst könne so die Erkenntnis fördern, dass Uneindeutiges und Unbekanntes nicht nur aushaltbar, sondern außerdem bereichernd sein können. Die Fähigkeit, mit Ambiguitäten umgehen zu können, lässt sich also als Ambiguitätstoleranz bezeichnen – und dies sei erlernbar. Auch eine demokratische Politik beruht auf Vielfalt und der Pluralität der Gesellschaft. Toleranz für Ambiguität ist somit eine wichtige Eigenschaft einer Demokratie und ihrer Mitglieder. Der Schnittpunkt von freier Kunst und echter Demokratie bestehe darin, dass beide einerseits auf ein ambiguitätstolerantes Umfeld angewiesen seien, um zu wachsen, andererseits seien sie nur frei, echt und plural, wenn sie selbst von Grund auf bereits ambige Züge aufwiesen. Ein erklärtes Ziel der kulturellen und politischen Bildungsarbeit sei es demnach, eine Haltung zu fördern, die in befremdlichen Situationen nicht automatisch ablehnend und abgrenzend reagiert, sondern Vielfalt begrüßt und den Umstand aushalten kann, nicht immer alles einordnen und festlegen zu können. Die Förderung oder Herausbildung von Ambiguitätstoleranz als Teil einer Haltung ist folglich eine demokratische Praxis. Besonders erkenntnisreich waren für mich die Beiträge von Anja Besand, Sabine Dengel und Linda Kelch sowie Katja Hoffmann und Oliver Klaassen. In ihren Texten geht es unter anderem um die Frage, was die politische und die kulturelle Bildungsarbeit voneinander lernen können. Meiner Meinung nach ist das ein wichtiger Aspekt, denn eine politische Positionierung wird im kulturellen Sektor immer relevanter. Außerdem wird das Konzept der Ambiguitätstoleranz kritisch durchleuchtet, was im Sinne der Ambiguität selbst zu einem umfassenderen Bild der Thematik führt. Ein interessanter Aspekt ist auch, dass Ambiguität als künstlerische Strategie eine Schutzfunktion für marginalisierte Personen bieten kann, denn bis heute andauernde diskriminierende Strukturen erfordern vielerorts einen solchen uneindeutigen, mehrdeutigen Kunstraum, der vor Angriffen schützt. Durch ihre zugängliche Wissensvermittlung und verständliche Sprache haben sich für mich Dorothée de Néve, Ulaş Aktaş, Hans-Christoph Koller und Julia Hagenberg hervorgehoben. Ihre Beiträge beschäftigen sich generell mit der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Veränderung; sei es die Bedürftigkeit der Demokratie, sich aktuellen Diskussionen und Aushandlungen zu stellen, oder die der Kunst und Vermittlung, einen positiven Einfluss auf Gesellschaft, Welt- und Selbstverständnis zu nehmen. Dazu passend wird die Frage aufgeworfen, wie Museen ihre Verantwortung als machtvolle Institutionen mit großem Wissenskapital und exklusiven Handlungsspielräumen wahrnehmen sollten. Als Folge dessen muss sich demnach eine kritische Aufarbeitung von Ausstellungspraxis und Sammlungen etablieren. Schlussendlich handelt es sich um ein Fachbuch, das das komplexe Thema der „Ambiguität und Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“ aus unterschiedlichsten Blickwinkeln umfassend beleuchtet. Den Herausgeber:innen gelingt es allerdings nicht ganz, ihren in der Einleitung betonten Anspruch, das Thema klar zu vermitteln und zu beschreiben, einzulösen. So ist die Artikelzusammenstellung wie auch die -reihenfolge nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Beispielsweise erscheint mir der Beitrag von Aurora Rodonò als Einstieg in das Thema besonders geeignet, er wurde jedoch als letzter Artikel gereiht. Die Aufteilung des Buchs in vier nummerierte Abschnitte zielt darauf ab, Autor:innen aus verschiedenen Fachbereichen zusammenzubringen, doch es fehlen hilfreiche Kapitelnamen. Die Einleitung selbst ist komplizierter geschrieben als einige Beiträge und wirft die Frage auf, welche Personen die Zielgruppe der Publikation bilden. Eine Empfehlung dieser Lektüre kann ich deshalb nur unter Vorbehalt aussprechen: Sie ist bereichernd und eignet sich gut für eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik, jedoch kann sie bei interessierten Leser:innen, die sich nicht regelmäßig mit bildungssprachlichen Sammelbänden befassen, eine ambige Leseerfahrung mit sich bringen. „MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“ kann direkt über den transkript Verlag erworben werden und kostet 30 Euro. Mehrdeutigkeit gestalten, Foto: Julika Teubert 2021

  • Issue 1 Sturm | appropriate

    Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 „… warum denn liegt denn die da? …“ Kunstvermittlung und Verantwortung Eva Sturm „Heute, in Zeiten von Flüchtlingskrisen, Terroranschlägen, Präsidenten wie [(…]), Vladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, erstarken rechtspopulistische Parteien in Europa, Brexit und Klimawandel setzt eine neue Welle politischer Kunst ein.“ (Kikol 2018: 48) „Es gibt keine Kunst, die nicht ein sublimer Akt des Widerstandes wäre.“ (Cixous 2018: 5) Was nun kann in einer so gelesenen Situation Kunstvermittlung[1 ] leisten? Was kann Bildungsarbeit – ganz allgemein gefragt – dazu beitragen, dass womöglich nicht nur „sich empört“ wird, sondern wie kann vor allem gedacht und gehandelt werden? Wie können Zusammenhänge erkannt werden? Wie kann man Leid, Verwirrung, Ungerechtigkeit, rassistische Urteile, sichtbare massive Benachteiligungen, sprachlich-real unfaire Zuschreibungen, andauernde patriarchale Vereindeutigungen und gewaltsame Handlungen sehen und aushalten, ohne handlungs-un-fähig zu werden, gleichzeitig die eigene Unzulänglichkeit und Mit-Verantwortung erkennend? Welche Rolle spielt Kunst dabei, wenn man sich in ihrem Anregungshorizont und in ihrem Fragen aufhält? Wie kann man sich zu ihr verhalten? Hier winken Bildungsansprüche. „Es geht um Bildungsarbeit in postnazistischer, postmigrantischer Gesellschaft mit anderen, künstlerisch-kritischen Zugängen.“ (Katja Hoffmann)[2 ] Nicht Selbstberuhigung, sondern Sich-Verwickeln; nicht Komplexitätsreduktion und Dummheit (vgl. Pazzini 2015); nicht Unschuldsgefühle, sondern Verantwortung; nicht Harmonie, sondern kritischer Dissens. Ganz im Gegensatz zu einem solchen Bildungswollen und Kunst-Vermittlungs-Verständnis bemerkte Wolfgang Ullrich an der Universität der Künste Berlin 2018[3 ] skeptisch, Kunstvermittlung sei „betreute Erfahrung“. Dahinter stünde Misstrauen. Die Begegnung zwischen dem Publikum und dem, was gesehen wird, sei darum reglementiert. Ich vermute: Ullrich hat Angst vor der Reduktion der Komplexität von Kunst und deren Verharmlosung durch Vereinfachung und Linearisierung. Es gibt ja einen ähnlichen Verdacht gegenüber Didaktik ganz allgemein. StörDienst Meine Karriere als Kunstvermittlerin begann in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als mich Heiderose Hildebrand [4] fragte, ob ich nicht am Wiener Museum moderner Kunst Vermittlung machen wolle. Ich fand mich wieder in einer Gruppe. Da waren ein Physiker, eine Philosophin, mehrere Künstler/Kunstlehrer-Studentinnen, eine Grundschullehrerin u. a. Wir nannten uns „Kolibri flieg“, wollten die Fantasie fliegen lassen. Aber nachdem wir im Zusammenhang mit einem Leitungswechsel fast aus dem Museum geflogen wären, denn wir „störten“ die Museumsroutine, nannten wir uns in den 90er- Jahren „StörDienst“. Wir gingen davon aus, dass Kunst strukturell stört, und wir wollten das nicht heilen oder beruhigen, sondern Beunruhigungen lassen, eher weiter treiben als stoppen. Wie machten wir das? Wir lernten von Heiderose Hildebrand, dass nur das Sich-Verwickeln, das Von-etwas-angesprochen-Sein für den jeweiligen Menschen von Belang wird. Wir nutzten Tools, um von herkömmlichen Bewertungskriterien (… das kann ich auch … das ist keine Kunst …) abzulenken. Wir sagten zum Beispiel: „Nimm diesen Geschmack im Mund (zum Beispiel eine Zitrone) wahr und suche eine künstlerische Arbeit hier im Museum, die dem entspricht, was du schmeckst, denkst, erinnerst.“ Wir hörten zu und zwangen die anderen, auch zuzuhören. Wir diskutierten, nahmen Gegenpositionen ein, berichteten davon, was professionelle Sprecher:innen dazu gesagt hatten, zitierten die Künstler:innen, logen, deckten unser eigenes Sprechen auf, zitierten Verschiedenes und ließen nicht in Ruhe. Manche Lehrer:innen waren unzufrieden. Wir zeichneten, aßen, bauten, verrätselten, machten Musik und Geräusche, kostümierten etc., hinterließen Spuren und räumten alles wieder weg. Wir lasen, anders gesagt, das Museum und all seine Ausstellungen gegen den Strich, durchkreuzten unhinterfragte Ordnungssysteme. Manche Künstler:innen mochten das auch nicht. Verdacht auf Simplifizierung. Was sich hier zeigt: Es gibt einen Markt der Diskurse. Anders gesagt, es gibt legitimes und illegitimes Sprechen, es gibt Diskurse, die wertvoller und teurer sind als andere. Laiendiskurse sind im Grunde genommen zwar erlaubt, aber leise und wenig aufzeichnungswürdig. Aber da gab es auf der anderen Seite auch Kunst, die uns Kunstvermittler:innen widerstrebte. Zum Beispiel diese: John de Andreas „Woman on Bed“ von 1974. Ich zeige kein Bild. Ich bitte stattdessen, das Imaginäre aufzurufen. Zu sehen war/ist: Eine nackte Schöne, schlafend, etwas über 20 Jahre alt, mit kleinen Brüsten und schwarzem Haar, sie liegt auf einer Matratze mit weißem Bettlaken auf dem Museumsboden, allen Blicken ausgeliefert. Wir Kunstvermittler:innen saßen auf dem Boden vor der Skulptur, zerbrachen uns zu zweit den Kopf, wie wir mit dieser Nackten umgehen sollten, und erzählten uns von John de Andrea, da kam ein etwa vierjähriges Mädchen in den Raum gelaufen, sah die Figur und rief, ohne zu stoppen: „Warum denn liegt denn die da? Warum ist die nicht zugedeckt?“ Und weg war sie. Es folgte der lächelnde, kopfschüttelnde Vater. Das kleine Mädchen hatte uns etwas gezeigt. Sie wurde zu unserer Vermittlerin, genauer gesagt, sie nahm die Position der Vermittlerin ein, ließ uns sitzen in unserem Staunen, vor der entblößten Liegenden. Hélèn Cixous schreibt: „Wenn man die Frau sucht, kann man sich ziemlich sicher sein, sie immer in derselben Position zu finden, nämlich im Bett. Sie ist im Bett […] oder sie ist im ,er‘. Sie liegt und sie schläft: sie ist ,gestreckt‘ […]. Dornröschen wird aus diesem Bett durch den Mann herausgeholt, denn die Frauen wachen nicht von allein auf, wie ihr wißt, dafür sind die Männer nötig.“ (Cixous 1977: 19) Alterität und Verantwortung Welche Verantwortung haben also Kunstvermittler:innen? Welche haben Künstler:innen? Kann man danach fragen? Und was heißt das überhaupt: Verantwortung „haben“? Was meint „Empört euch!“? Im ersten Zitat dieses Textes traten diese Herren auf: Vladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan sowie generell rechtspopulistische Parteien in Europa – sie alle fühlen sich bestimmt verantwortlich, etwa für „das russische Volk“, „das Türkische“ etc. Die Anhänger der AfD in Deutschland singen gerne die deutsche Nationalhymne und schließen damit alle anderen aus, das heißt, sie stellen sich her als Nation, als Identität. „Die notwendige Grundlage für diese Konzeptionen von Verantwortung bildet ein spezifisches Verständnis eines autonomen und in diesem Sinne handlungsfähigen sowie zurechenbaren Subjekts. […]) Freiheit, Handlungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit stehen damit in einem intrinsischen Zusammenhang. Sie werden nicht nur vorausgesetzt, sondern zugleich dem Verantwortungsbegriff unterstellt.“ (Flatscher 2016) Das ist genau das Gegenteil des Verständnisses von Verantwortung, wie es Emmanuel Levinas denkt. Kein souveränes Subjekt, sondern im Gegenteil: Der Prozess der Subjektkonstitution wird aus alteritätsethischer Perspektive verstanden. Verantwortung wird zu der „wesentlichen, primären und grundlegenden Struktur der Subjektivität“ (Levinas 1992: 72). Die „Alterität, von der bei Levinas in Jenseits des Seins die Rede ist, lässt sich nicht als ein wie auch immer geartetes Gegenüber des Subjekts begreifen; sie erscheint nicht in den herkömmlichen Kategorien von Raum und Zeit, sondern widersetzt sich jeder möglichen Verortung sowie Datierung. Die Andersheit bestimmt – vor jeder bewussten Konstitutionsleistung oder generösen Aufnahme – das erst zu konstituierende Subjekt. Das Andere tritt somit nicht in einem zweiten Schritt zu einem bereits etablierten Subjekt hinzu, sondern hat es je schon heimgesucht.“ (Flatscher 2016) Das Andere ist so gesehen nicht nur die Voraussetzung jeden Subjekts, wir sind auch für das Verhältnis dazu und für das Andere verantwortlich. „In diesem Zusammenhang spricht Levinas von einem konstitutiven „Paradox der Verantwortung“ (Levinas 1998: 46), das darin besteht, dass das Subjekt in die Verantwortung genommen wird, ohne dass diese Verantwortung in ihm seinen Anfang findet. Diese „vor ursprüngliche“ Verantwortung wird daher auch niemals abzugelten sein, sondern sie „wächst“– wie Levinas nachdrücklich betont – „in dem Maße, in dem sie übernommen wird“ (Levinas 1998: 44). Jacques Derrida hat mit diesem Verständnis von Verantwortung weiter gedacht. Er wendet sich dem französischen Verb „répondre“ zu, das sowohl mit „antworten“ also auch „verantworten“ ins Deutsche übertragen werden kann. Matthias Flatscher denkt mit Derrida noch weiter: „Jede Inanspruchnahme der Sprache antwortet demnach bereits auf diskursive Vorgaben […]. Stets trägt oder übernimmt man Verantwortung für- (sich selbst, seine Handlungen, seinen Diskurs) und verantwortet sich vor -, indem man zunächst ant- wortet (jemanden auf-).“ (Flatscher 2016) Ein zentraler Begriff, an dem sich das Für-den-anderen-verantwortlich-Sein verdichtet, ist das „Antlitz“. Mit Bezug auf Levinas heißt es: „Diese äußerliche und ob der Nacktheit sichtbare Hilflosigkeit, die ein Gesicht ausdrückt, fordert mich auf zu helfen, nicht nur wenn es um das Antlitz geht, sondern wenn jemand hilflos auf der Straße liegt oder wenn ich die medialen Bilder des Fernsehens sehe. So sehen sich viele, auch Politiker angesichts der Bilder von erniedrigten und gequälten Menschen, plötzlich genötigt, diesen Menschen zu helfen, auch wenn es nicht unbedingt in ihr politisches Kalkül passt.“ https://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/verantwortung-fuer-fluechtlinge/ (Zugriff 10.3.2021) „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden“, sagte Levinas einmal. Wenn ich also frage, welche Verantwortung haben Kunstvermittler:innen, dann kann ich mit Levinas zumindest dies antworten: Der Andere ist unendlich fremd und ein immerwährendes Rätsel. Der Andere ist immer schon da. Die Verantwortung für mich und mein Handeln ist unendlich. Die Verantwortung für den Anderen ist unendlich. Ich bin kein souveränes Subjekt. Die Diskussionen und Verhandlungen, die Fragen und (Ver-)Antwort(ung)en müssen weitergehen. Kunst und die Gabe der Bildung Als Kunstvermittlerin fühle ich mich zu dem berufen, zu tun, was ich kann: mit Kunst zu arbeiten und Bildungsprozesse anzustoßen. Beides ist unvorhersehbar, nicht kontrollierbar, unendlich. Und darum eine ständige Infragestellung. In jedem Fall bin ich mit Alterität konfrontiert, bin gefordert, überfordert. Dieses Foto zum Beispiel. Ich betrachte es, zeige es, setze es der Frauenfigur des hyperrealistischen Künstlers John de Andrea gegenüber. Ich zeige das Bild an dieser Stelle (doch). Und ich antworte damit auf eine sich mir stellende Frage, ohne je die letztgültige Antwort zu bekommen: ob ich das „darf“. Oder: Bildung zum Beispiel. Die versuche ich hiermit zu initiieren, nicht wissend, ob das Quatsch ist, irgendwohin führt oder nur „Meins“ ist. Über Bildung habe ich bei dem Erziehungswissenschaftler Michael Wimmer, der sich auf Derrida und dessen Denken der Dekonstruktion bezieht, gelernt, dass diese eine „unmögliche[5] Auf-Gabe der Pädagogik“ (Wimmer 1996: 149) sei, weil man über Bildung niemals verfügen kann. Bildung ist eine Gabe, die da ist oder nicht: „Eine Gabe kann es […] nur geben, wenn es keine Reziprozität gibt, keinen Tausch, keine Gegengabe, keine Schuld als aufgeschobene Rückgabe.“ „alle Modalitäten der Intentionalität zerstören […] die Gabe.“ (Wimmer 1996: 154) Nicht Wissen wird im Bildungsprozess gegeben. Dies wird nur vermittelt. Denn Wissen allein „ist fieberfrei und leblos“ (Cixous 2017: 35), so Cixous. Gegeben wird die Gabe selbst als das Unmögliche und mit ihr das Selbst-denken-und-erkennen-Wollen, der Wille zum Wissen vielleicht. Und dieses Wissen beinhaltet auch das Wissen um die Notwendigkeit und die Übernahme von Ver-Antwortung, in der alles auf dem Spiel steht, vor allem das Subjekt selbst mit ihrem/seinem konstitutiven blinden Fleck.   Eva Sturm, Prof., Mag., Dr., geb. in Österreich, Kunstpädagogin, Museumspädagogin und Germanistin. Lehrte 1998–2006 an der Universität Hamburg. Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin, Oldenburg und Erfurt 2003–2008. 2009–2015 Professur für Kunst-Vermittlung-Bildung in Oldenburg. Habilitation 2009. Lebt in Berlin. Mehrere Buchpublikationen. Arbeitsschwerpunkte: Sprechen über Kunst; (künstlerische) Kunstvermittlung; künstlerisch-publikumsintegrative Projekte; Von Kunst aus / Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Derzeit freiberufliche Kunstvermittlerin in Theorie und Praxis. Literatur Cixous, Hélène, 1977. Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Berlin: merve Cixous, Hélène, 2017. Gespräch mit dem Esel. Blind schreiben. Wien: zaglossus Cixous Hélène, 2018. Schriften zur Kunst. Berlin: Matthes & Seitz Flatscher, Matthias, 2016. Was heißt Verantwortung? Zum alteritätsethischen Ansatz von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. https://www.praktische-philosophie.org/flatscher-2016.html (Zugriff 10.03.2021) Freud, Sigmund, 1968. Notiz über den Wunderblock. In: ders.: Gesammelte Werke, 14 Bd. (Werke aus den Jahren 1925–1931 ). Frankfurt a. M.: S. Fischer Kikol, Larissa, 2019. Nett geknebelt. Zur Schalldichte der ‚L’art pour l’art politique’ . In: Kunstforum International Bd. 254, Juni/Juli 2019, S. 46–61 Levinas, Emmanuel, 1998. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Karl Alber Pazzini, Karl-Josef, 2015. Bildung vor Bildern. Kunst • Pädagogik • Psychoanalyse. Bielefeld: transcript Wimmer, Michael, 1996. Die Gabe der Bildung. Überlegungen zum Verhältnis von Singularität und Gerechtigkeit im Bildungsgedanken. In: Maschelein, Jan, Wimmer, Michael: Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, S. 127–162. Sankt Augustin: Academia Im Text zitiert: https://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/verantwortung-fuer-fluechtlinge/ (Zugriff 10.03.2021) John de Andrea: Woman on Bed, 1974 © Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien Valie Export: Aktionshose, Genitalpanik, 1969. Selbstinszenierung ©VALIE EXPORT, Bildrecht Wien, 2021, Foto: Peter Hassmann Courtesy VALIE EXPORT Endnoten [1] Kunstvermittlung als Arbeiten/Sprechen im Zusammenhang mit/über/in Folge von Kunst, meist Laienkunstvermittlung (zum Beispiel Führungen, Gespräche, Aktionen, performative Vorgangsweisen etc.) [Zurück zur Textstelle ] [2] E-Mail an die Autorin 2018 [Zurück zur Textstelle ] [3] „Gegen die Entmündigung von Kunst und Pädagogik“. Universität der Künste Berlin 2018 [Zurück zur Textstelle ] [4] Heiderose Hildebrand ist eine der wichtigsten Figuren in der österreichischen Vermittlungsszene. [Zurück zur Textstelle ] [5] Auch Sigmund Freud sprach von den drei „unmöglichen Berufen“, denen nicht Erfolg, sondern der ungenügende Erfolg gewiss ist: dem Regieren, dem Analysieren und dem Lehren (vgl. Freud 1968: 94). [Zurück zur Textstelle ] Anker 4 Anker 2 Anker 5 Anker 3 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12

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