Kunstvermittlung als künstlerische Praxis
Art mediation as an artistic practice
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- Issue 1 Sturm | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 „… warum denn liegt denn die da? …“ Kunstvermittlung und Verantwortung Eva Sturm „Heute, in Zeiten von Flüchtlingskrisen, Terroranschlägen, Präsidenten wie [(…]), Vladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, erstarken rechtspopulistische Parteien in Europa, Brexit und Klimawandel setzt eine neue Welle politischer Kunst ein.“ (Kikol 2018: 48) „Es gibt keine Kunst, die nicht ein sublimer Akt des Widerstandes wäre.“ (Cixous 2018: 5) Was nun kann in einer so gelesenen Situation Kunstvermittlung[1 ] leisten? Was kann Bildungsarbeit – ganz allgemein gefragt – dazu beitragen, dass womöglich nicht nur „sich empört“ wird, sondern wie kann vor allem gedacht und gehandelt werden? Wie können Zusammenhänge erkannt werden? Wie kann man Leid, Verwirrung, Ungerechtigkeit, rassistische Urteile, sichtbare massive Benachteiligungen, sprachlich-real unfaire Zuschreibungen, andauernde patriarchale Vereindeutigungen und gewaltsame Handlungen sehen und aushalten, ohne handlungs-un-fähig zu werden, gleichzeitig die eigene Unzulänglichkeit und Mit-Verantwortung erkennend? Welche Rolle spielt Kunst dabei, wenn man sich in ihrem Anregungshorizont und in ihrem Fragen aufhält? Wie kann man sich zu ihr verhalten? Hier winken Bildungsansprüche. „Es geht um Bildungsarbeit in postnazistischer, postmigrantischer Gesellschaft mit anderen, künstlerisch-kritischen Zugängen.“ (Katja Hoffmann)[2 ] Nicht Selbstberuhigung, sondern Sich-Verwickeln; nicht Komplexitätsreduktion und Dummheit (vgl. Pazzini 2015); nicht Unschuldsgefühle, sondern Verantwortung; nicht Harmonie, sondern kritischer Dissens. Ganz im Gegensatz zu einem solchen Bildungswollen und Kunst-Vermittlungs-Verständnis bemerkte Wolfgang Ullrich an der Universität der Künste Berlin 2018[3 ] skeptisch, Kunstvermittlung sei „betreute Erfahrung“. Dahinter stünde Misstrauen. Die Begegnung zwischen dem Publikum und dem, was gesehen wird, sei darum reglementiert. Ich vermute: Ullrich hat Angst vor der Reduktion der Komplexität von Kunst und deren Verharmlosung durch Vereinfachung und Linearisierung. Es gibt ja einen ähnlichen Verdacht gegenüber Didaktik ganz allgemein. StörDienst Meine Karriere als Kunstvermittlerin begann in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als mich Heiderose Hildebrand [4] fragte, ob ich nicht am Wiener Museum moderner Kunst Vermittlung machen wolle. Ich fand mich wieder in einer Gruppe. Da waren ein Physiker, eine Philosophin, mehrere Künstler/Kunstlehrer-Studentinnen, eine Grundschullehrerin u. a. Wir nannten uns „Kolibri flieg“, wollten die Fantasie fliegen lassen. Aber nachdem wir im Zusammenhang mit einem Leitungswechsel fast aus dem Museum geflogen wären, denn wir „störten“ die Museumsroutine, nannten wir uns in den 90er- Jahren „StörDienst“. Wir gingen davon aus, dass Kunst strukturell stört, und wir wollten das nicht heilen oder beruhigen, sondern Beunruhigungen lassen, eher weiter treiben als stoppen. Wie machten wir das? Wir lernten von Heiderose Hildebrand, dass nur das Sich-Verwickeln, das Von-etwas-angesprochen-Sein für den jeweiligen Menschen von Belang wird. Wir nutzten Tools, um von herkömmlichen Bewertungskriterien (… das kann ich auch … das ist keine Kunst …) abzulenken. Wir sagten zum Beispiel: „Nimm diesen Geschmack im Mund (zum Beispiel eine Zitrone) wahr und suche eine künstlerische Arbeit hier im Museum, die dem entspricht, was du schmeckst, denkst, erinnerst.“ Wir hörten zu und zwangen die anderen, auch zuzuhören. Wir diskutierten, nahmen Gegenpositionen ein, berichteten davon, was professionelle Sprecher:innen dazu gesagt hatten, zitierten die Künstler:innen, logen, deckten unser eigenes Sprechen auf, zitierten Verschiedenes und ließen nicht in Ruhe. Manche Lehrer:innen waren unzufrieden. Wir zeichneten, aßen, bauten, verrätselten, machten Musik und Geräusche, kostümierten etc., hinterließen Spuren und räumten alles wieder weg. Wir lasen, anders gesagt, das Museum und all seine Ausstellungen gegen den Strich, durchkreuzten unhinterfragte Ordnungssysteme. Manche Künstler:innen mochten das auch nicht. Verdacht auf Simplifizierung. Was sich hier zeigt: Es gibt einen Markt der Diskurse. Anders gesagt, es gibt legitimes und illegitimes Sprechen, es gibt Diskurse, die wertvoller und teurer sind als andere. Laiendiskurse sind im Grunde genommen zwar erlaubt, aber leise und wenig aufzeichnungswürdig. Aber da gab es auf der anderen Seite auch Kunst, die uns Kunstvermittler:innen widerstrebte. Zum Beispiel diese: John de Andreas „Woman on Bed“ von 1974. Ich zeige kein Bild. Ich bitte stattdessen, das Imaginäre aufzurufen. Zu sehen war/ist: Eine nackte Schöne, schlafend, etwas über 20 Jahre alt, mit kleinen Brüsten und schwarzem Haar, sie liegt auf einer Matratze mit weißem Bettlaken auf dem Museumsboden, allen Blicken ausgeliefert. Wir Kunstvermittler:innen saßen auf dem Boden vor der Skulptur, zerbrachen uns zu zweit den Kopf, wie wir mit dieser Nackten umgehen sollten, und erzählten uns von John de Andrea, da kam ein etwa vierjähriges Mädchen in den Raum gelaufen, sah die Figur und rief, ohne zu stoppen: „Warum denn liegt denn die da? Warum ist die nicht zugedeckt?“ Und weg war sie. Es folgte der lächelnde, kopfschüttelnde Vater. Das kleine Mädchen hatte uns etwas gezeigt. Sie wurde zu unserer Vermittlerin, genauer gesagt, sie nahm die Position der Vermittlerin ein, ließ uns sitzen in unserem Staunen, vor der entblößten Liegenden. Hélèn Cixous schreibt: „Wenn man die Frau sucht, kann man sich ziemlich sicher sein, sie immer in derselben Position zu finden, nämlich im Bett. Sie ist im Bett […] oder sie ist im ,er‘. Sie liegt und sie schläft: sie ist ,gestreckt‘ […]. Dornröschen wird aus diesem Bett durch den Mann herausgeholt, denn die Frauen wachen nicht von allein auf, wie ihr wißt, dafür sind die Männer nötig.“ (Cixous 1977: 19) Alterität und Verantwortung Welche Verantwortung haben also Kunstvermittler:innen? Welche haben Künstler:innen? Kann man danach fragen? Und was heißt das überhaupt: Verantwortung „haben“? Was meint „Empört euch!“? Im ersten Zitat dieses Textes traten diese Herren auf: Vladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan sowie generell rechtspopulistische Parteien in Europa – sie alle fühlen sich bestimmt verantwortlich, etwa für „das russische Volk“, „das Türkische“ etc. Die Anhänger der AfD in Deutschland singen gerne die deutsche Nationalhymne und schließen damit alle anderen aus, das heißt, sie stellen sich her als Nation, als Identität. „Die notwendige Grundlage für diese Konzeptionen von Verantwortung bildet ein spezifisches Verständnis eines autonomen und in diesem Sinne handlungsfähigen sowie zurechenbaren Subjekts. […]) Freiheit, Handlungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit stehen damit in einem intrinsischen Zusammenhang. Sie werden nicht nur vorausgesetzt, sondern zugleich dem Verantwortungsbegriff unterstellt.“ (Flatscher 2016) Das ist genau das Gegenteil des Verständnisses von Verantwortung, wie es Emmanuel Levinas denkt. Kein souveränes Subjekt, sondern im Gegenteil: Der Prozess der Subjektkonstitution wird aus alteritätsethischer Perspektive verstanden. Verantwortung wird zu der „wesentlichen, primären und grundlegenden Struktur der Subjektivität“ (Levinas 1992: 72). Die „Alterität, von der bei Levinas in Jenseits des Seins die Rede ist, lässt sich nicht als ein wie auch immer geartetes Gegenüber des Subjekts begreifen; sie erscheint nicht in den herkömmlichen Kategorien von Raum und Zeit, sondern widersetzt sich jeder möglichen Verortung sowie Datierung. Die Andersheit bestimmt – vor jeder bewussten Konstitutionsleistung oder generösen Aufnahme – das erst zu konstituierende Subjekt. Das Andere tritt somit nicht in einem zweiten Schritt zu einem bereits etablierten Subjekt hinzu, sondern hat es je schon heimgesucht.“ (Flatscher 2016) Das Andere ist so gesehen nicht nur die Voraussetzung jeden Subjekts, wir sind auch für das Verhältnis dazu und für das Andere verantwortlich. „In diesem Zusammenhang spricht Levinas von einem konstitutiven „Paradox der Verantwortung“ (Levinas 1998: 46), das darin besteht, dass das Subjekt in die Verantwortung genommen wird, ohne dass diese Verantwortung in ihm seinen Anfang findet. Diese „vor ursprüngliche“ Verantwortung wird daher auch niemals abzugelten sein, sondern sie „wächst“– wie Levinas nachdrücklich betont – „in dem Maße, in dem sie übernommen wird“ (Levinas 1998: 44). Jacques Derrida hat mit diesem Verständnis von Verantwortung weiter gedacht. Er wendet sich dem französischen Verb „répondre“ zu, das sowohl mit „antworten“ also auch „verantworten“ ins Deutsche übertragen werden kann. Matthias Flatscher denkt mit Derrida noch weiter: „Jede Inanspruchnahme der Sprache antwortet demnach bereits auf diskursive Vorgaben […]. Stets trägt oder übernimmt man Verantwortung für- (sich selbst, seine Handlungen, seinen Diskurs) und verantwortet sich vor -, indem man zunächst ant- wortet (jemanden auf-).“ (Flatscher 2016) Ein zentraler Begriff, an dem sich das Für-den-anderen-verantwortlich-Sein verdichtet, ist das „Antlitz“. Mit Bezug auf Levinas heißt es: „Diese äußerliche und ob der Nacktheit sichtbare Hilflosigkeit, die ein Gesicht ausdrückt, fordert mich auf zu helfen, nicht nur wenn es um das Antlitz geht, sondern wenn jemand hilflos auf der Straße liegt oder wenn ich die medialen Bilder des Fernsehens sehe. So sehen sich viele, auch Politiker angesichts der Bilder von erniedrigten und gequälten Menschen, plötzlich genötigt, diesen Menschen zu helfen, auch wenn es nicht unbedingt in ihr politisches Kalkül passt.“ https://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/verantwortung-fuer-fluechtlinge/ (Zugriff 10.3.2021) „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden“, sagte Levinas einmal. Wenn ich also frage, welche Verantwortung haben Kunstvermittler:innen, dann kann ich mit Levinas zumindest dies antworten: Der Andere ist unendlich fremd und ein immerwährendes Rätsel. Der Andere ist immer schon da. Die Verantwortung für mich und mein Handeln ist unendlich. Die Verantwortung für den Anderen ist unendlich. Ich bin kein souveränes Subjekt. Die Diskussionen und Verhandlungen, die Fragen und (Ver-)Antwort(ung)en müssen weitergehen. Kunst und die Gabe der Bildung Als Kunstvermittlerin fühle ich mich zu dem berufen, zu tun, was ich kann: mit Kunst zu arbeiten und Bildungsprozesse anzustoßen. Beides ist unvorhersehbar, nicht kontrollierbar, unendlich. Und darum eine ständige Infragestellung. In jedem Fall bin ich mit Alterität konfrontiert, bin gefordert, überfordert. Dieses Foto zum Beispiel. Ich betrachte es, zeige es, setze es der Frauenfigur des hyperrealistischen Künstlers John de Andrea gegenüber. Ich zeige das Bild an dieser Stelle (doch). Und ich antworte damit auf eine sich mir stellende Frage, ohne je die letztgültige Antwort zu bekommen: ob ich das „darf“. Oder: Bildung zum Beispiel. Die versuche ich hiermit zu initiieren, nicht wissend, ob das Quatsch ist, irgendwohin führt oder nur „Meins“ ist. Über Bildung habe ich bei dem Erziehungswissenschaftler Michael Wimmer, der sich auf Derrida und dessen Denken der Dekonstruktion bezieht, gelernt, dass diese eine „unmögliche[5] Auf-Gabe der Pädagogik“ (Wimmer 1996: 149) sei, weil man über Bildung niemals verfügen kann. Bildung ist eine Gabe, die da ist oder nicht: „Eine Gabe kann es […] nur geben, wenn es keine Reziprozität gibt, keinen Tausch, keine Gegengabe, keine Schuld als aufgeschobene Rückgabe.“ „alle Modalitäten der Intentionalität zerstören […] die Gabe.“ (Wimmer 1996: 154) Nicht Wissen wird im Bildungsprozess gegeben. Dies wird nur vermittelt. Denn Wissen allein „ist fieberfrei und leblos“ (Cixous 2017: 35), so Cixous. Gegeben wird die Gabe selbst als das Unmögliche und mit ihr das Selbst-denken-und-erkennen-Wollen, der Wille zum Wissen vielleicht. Und dieses Wissen beinhaltet auch das Wissen um die Notwendigkeit und die Übernahme von Ver-Antwortung, in der alles auf dem Spiel steht, vor allem das Subjekt selbst mit ihrem/seinem konstitutiven blinden Fleck. Eva Sturm, Prof., Mag., Dr., geb. in Österreich, Kunstpädagogin, Museumspädagogin und Germanistin. Lehrte 1998–2006 an der Universität Hamburg. Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin, Oldenburg und Erfurt 2003–2008. 2009–2015 Professur für Kunst-Vermittlung-Bildung in Oldenburg. Habilitation 2009. Lebt in Berlin. Mehrere Buchpublikationen. Arbeitsschwerpunkte: Sprechen über Kunst; (künstlerische) Kunstvermittlung; künstlerisch-publikumsintegrative Projekte; Von Kunst aus / Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Derzeit freiberufliche Kunstvermittlerin in Theorie und Praxis. Literatur Cixous, Hélène, 1977. Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Berlin: merve Cixous, Hélène, 2017. Gespräch mit dem Esel. Blind schreiben. Wien: zaglossus Cixous Hélène, 2018. Schriften zur Kunst. Berlin: Matthes & Seitz Flatscher, Matthias, 2016. Was heißt Verantwortung? Zum alteritätsethischen Ansatz von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. https://www.praktische-philosophie.org/flatscher-2016.html (Zugriff 10.03.2021) Freud, Sigmund, 1968. Notiz über den Wunderblock. In: ders.: Gesammelte Werke, 14 Bd. (Werke aus den Jahren 1925–1931 ). Frankfurt a. M.: S. Fischer Kikol, Larissa, 2019. Nett geknebelt. Zur Schalldichte der ‚L’art pour l’art politique’ . In: Kunstforum International Bd. 254, Juni/Juli 2019, S. 46–61 Levinas, Emmanuel, 1998. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Karl Alber Pazzini, Karl-Josef, 2015. Bildung vor Bildern. Kunst • Pädagogik • Psychoanalyse. Bielefeld: transcript Wimmer, Michael, 1996. Die Gabe der Bildung. Überlegungen zum Verhältnis von Singularität und Gerechtigkeit im Bildungsgedanken. In: Maschelein, Jan, Wimmer, Michael: Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, S. 127–162. Sankt Augustin: Academia Im Text zitiert: https://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/verantwortung-fuer-fluechtlinge/ (Zugriff 10.03.2021) John de Andrea: Woman on Bed, 1974 © Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien Valie Export: Aktionshose, Genitalpanik, 1969. Selbstinszenierung ©VALIE EXPORT, Bildrecht Wien, 2021, Foto: Peter Hassmann Courtesy VALIE EXPORT Endnoten [1] Kunstvermittlung als Arbeiten/Sprechen im Zusammenhang mit/über/in Folge von Kunst, meist Laienkunstvermittlung (zum Beispiel Führungen, Gespräche, Aktionen, performative Vorgangsweisen etc.) [Zurück zur Textstelle ] [2] E-Mail an die Autorin 2018 [Zurück zur Textstelle ] [3] „Gegen die Entmündigung von Kunst und Pädagogik“. Universität der Künste Berlin 2018 [Zurück zur Textstelle ] [4] Heiderose Hildebrand ist eine der wichtigsten Figuren in der österreichischen Vermittlungsszene. [Zurück zur Textstelle ] [5] Auch Sigmund Freud sprach von den drei „unmöglichen Berufen“, denen nicht Erfolg, sondern der ungenügende Erfolg gewiss ist: dem Regieren, dem Analysieren und dem Lehren (vgl. Freud 1968: 94). [Zurück zur Textstelle ] Anker 4 Anker 2 Anker 5 Anker 3 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12
- Issue 2 Kastner, Susemichel | appropriate
Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Identitätspolitiken: Im Gespräch mit Lea Susemichel und Jens Kastner Daphne Schüttkemper, Nano Bramkamp, Jonna Sophie Baumann Lea Susemichel, Foto: Jens Kastner Jens Kastner, Foto: privat Identitätspolitiken sind nicht nur in gegenwärtigen linken Diskursen ein wichtiges Streitthema, auch historisch reichen sie von der Arbeiter:innenbewegung über die verschiedenen Formen des Feminismus bis zu den Schwarzen Befreiungsbewegungen. Lea Susemichel und Jens Kastner schreiben darüber in ihrem Buch „Identitätspolitiken – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken” und erläutern das partizipatorische Potenzial und die Problematiken diverser sozialpolitischer Bewegungen. Diese Bewegungen, so unterschiedlich sie sein mögen, eint, dass sie sich gegen Diskriminierung auf Basis ihrer Identität wehren. Was ist eigentlich Identität? Identität kann sehr unterschiedlich definiert werden, zum Beispiel aus psychologischen, soziologischen oder philosophischen Blickwinkeln, letztendlich wird Identität jedoch fast immer individualpsychologisch gefasst. Lea Susemichel hebt hervor, dass traditionell vor allem der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung betont und selten die Identität einer kollektiven Gruppe betrachtet wurde. „Die großen Probleme, die die entsprechenden Theoretiker:innen umgetrieben haben, sind natürlich Kohärenz und Kontinuität, also wie kann ein Individuum eine gleichbleibende Identität haben, wo doch so offensichtlich ist, dass es mehr Verschiedenes als Gleiches gibt im Laufe eines Lebens. Wie lässt sich dennoch von individueller Identität sprechen?” Identität zeichnet sich besonders durch ihren fluiden Charakter aus, es handelt sich also um einen Prozess, an dem permanent gearbeitet wird. Das gilt auch für kollektive Identitäten. Linke Identitätspolitiken zeichnet aus, dass sie sich des konstruierten Charakters von Identität bewusst sind. Identität muss zunächst einmal hergestellt bzw. muss praktisch erzeugt werden. Sie versteht sich nicht von selbst und ist auch nicht in einem Wesen eines ,Volkes’ verankert. „Sie ist eben nichts Natürliches”, so Jens Kastner. Identität birgt auch verschiedene Ausschlussmechanismen. Mit jeder Identitätsbildung geht das sogenannte Othering einher: Es bedarf immer eines konstitutiven Außen, eines Anderen, von dem sich abgegrenzt werden muss, um sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Othering ist auch der Punkt, der Identität letztendlich so gefährlich macht, da sie immer abschließend ist und ein Anderes benötigt, um sich der eigenen Grenze zu versichern. Wie unterscheidet sich Identitätspolitik von anderen Politiken? Die große Identität, die Politik ansprechen will, ist das Volk. „Politik bezieht sich immer auf das Volk, das sie meint vertreten zu können. Das ist sozusagen das universelle Charakteristikum von Politik schlechthin und deshalb wird das nicht Identitätspolitik genannt“, antwortet Kastner. Selbstbestimmt hervorgebracht wurde der Begriff Identitätspolitik erstmals vom Combahee River Collective, einem Kollektiv schwarzer, lesbischer Feministinnen, die den Diskurs um Mehrfachunterdrückung identitätspolitisch prägten. Sie wiesen in ihrem Kampf eben nicht auf etwas Universelles hin, sondern auf etwas ganz Spezifisches, Partikulares, was das Universelle nicht beinhaltet, berücksichtigt oder adressiert. Der Ursprung linker Identitätspolitiken liegt also meist in der Reaktion auf Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen, um die eigenen Rechte einzuklagen. Und da sei auch der Knackpunkt, sagt Susemichel: „Es gibt eben das Privileg, sich als Universelles, Allgemeines setzen zu können, das diese Gruppen, die als identitätspolitische Gruppen gelabelt werden, nicht besitzen. Aber natürlich ist die Politik des viel zitierten hetero, alten, weißen Mannes auch Identitätspolitik.” Die Annahme, es gebe „auf der einen Seite den Kampf für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit und auf der anderen Seite eben diese identitätspolitischen Pille-Palle-Kämpfe”, wird laut Susemichel auch im gegenwärtigen Diskurs gerne reproduziert. Susemichels und Kastners Ansatz ist es auch, u. a. aufzuzeigen, dass genau dieser Unterschied nicht so groß ist; letztendlich geht es immer um einen ganz singulären Standpunkt, von dem aus für Rechte und Interessen eingetreten wird. Rechte vs. linke Identitätspolitik Wie unterscheiden sich dann linke von rechten Identitätspolitiken? Das naheliegendste Beispiel ist die ultrarechte Identitäre Bewegung, die Konzepte wie den Ethnopluralismus vertritt, laut dem Kulturen und Ethnien unter sich bleiben sollten und vor einem „großen Austausch“ gewarnt wird. Die Identitäre Bewegung naturalisiert und essenzialisiert Identität und ist sich im Gegensatz zu linken Identitätspolitiken nicht des Konstruktionscharakters von Identität bewusst oder leugnet ihn. Essenzialisierung liegt vor, wenn ein Wesensmerkmal einer Gruppe als elementar angesehen wird, um zu der Gruppe dazuzugehören. Die Abgrenzung zu dem Anderen erfolgt aggressiv und offensiv. Bei rechter Identitätspolitik geht es laut Kastner und Susemichel um die Sicherung von eigenen Privilegien und nicht um partizipatorische Ziele. Linke Identitätspolitiken dagegen sind sehr mit dem Gedanken der Partizipation verknüpft und zielen auf eine Ausweitung der Demokratie ab. „Wir verteidigen ja auch nicht jede Form von linker Identitätspolitik,” so Susemichel, „sondern versuchen zu analysieren, wann Identitätspolitik emanzipatorisch ist. Wir sind überzeugt, dass sie das sehr oft ist und dass Identitätspolitik extrem wichtig war in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir weisen aber trotzdem auf die Gefahren hin, zum Beispiel, dass sie ins Essenzialistische kippt oder zu partikularistisch wird, sodass am Ende tatsächlich kein kollektiver Kampf mehr möglich ist.” Ist das Ziel von Identitätspolitik, sich selbst zu überwinden? In der Theoriegeschichte gibt es häufig das Ziel, Identität aufzulösen bzw. ihre Nichtexistenz zu behaupten. Damit würden es sich die Theoretiker:innen aber zu einfach machen, so Kastner. Kollektive Identitäten entstehen meist durch gewaltsame Fremdzuschreibungen, auf die mit Rückbezug auf die zugeschriebene Identität reagiert wird. Daher muss die zugeschriebene Identität erst mal affirmiert werden, um sie langfristig abschaffen zu können. Dieses Motiv gibt es schon, seitdem es Identitätspolitiken von links gibt. „Diese Ambivalenz ist letztlich auch das, was emanzipatorische Identitätspolitik im Kern ausmacht”, erklärt Susemichel. „Es ist immer diese Ambivalenz von Affirmation und Ablehnung von Identität, weil sie immer auch mit Abwertung, Leid und Unrechtserfahrungen einhergeht, weil sie der Grund für Diskriminierung ist.” Ist also eine positive Bezugnahme auf Identität, wie zum Beispiel auf die konstruierte Kategorie Race, legitim, um sie zu überwinden? Ein gewisser strategischer Essenzialismus nach Gayatri Chakravorty Spivak sei „alternativlos”, so Kastner. Historisch sei die soziale Gleichheit immer größer geworden, wenn sich Menschen auf ihre spezifischen Diskriminierungs- und Ausbeutungsformen bezogen hätten, wie auch bei der Black-Lives-Matter-Bewegung. Strategischer Essenzialismus am Beispiel der Black-Lives-Matter-Bewegung ist die politisch motivierte und kalkulierte Bejahung eines gruppenspezifischen Wesensmerkmals wie der Kategorie Race. Dabei ist der Bewegung sehr stark bewusst, dass Identität und Race konstruiert sind. Warum hat der Begriff der Identitätspolitik so eine polarisierende und teils spaltende Wirkung, auch innerhalb linker Politik? In den verschiedenen politischen Diskursen wird oft die Meinung vertreten, Identitätspolitik verhindere den kollektiven Kampf für soziale Gerechtigkeit. Ihr wird die Schuld dafür gegeben, dass linke und sozialdemokratische Politik so geschwächt ist, da sie den kollektiven Kampf auf verschiedene „kleine” Kämpfe aufteile. Susemichel findet diesen politischen Tenor falsch und bezeichnet es letztendlich als ein Manöver, das davon ablenken will, dass es die Sozialdemokratie selbst ist, die dafür gesorgt hat, dass sie dem Untergang geweiht ist, einfach durch die neoliberale Politik, die sie in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Zudem sei es selten der Fall gewesen, dass jemand die eigene Politik Identitätspolitik genannt habe, das sei fast immer eine Zuschreibung von außen gewesen. Auch in Bezug auf sogenannte Political Correctness und „Sprachverbote” (Sahra Wagenknecht) wird ein Missverständnis geradezu geschürt, meint Kastner. „Als gäbe es Leute, die nur ein Gendersternchen wollen” und keine tieferen, beispielsweise feministischen, politischen Interessen hätten. Auch seien Identitätspolitiken „keine ,Luxusprobleme’, es sind im Gegenteil genau die Leute, die nicht den Luxus hatten, sich nicht um solche Sachen zu kümmern, die versucht haben, aus ihrer spezifischen Situation heraus politisch zu agieren.” Kulturelle Aneignung Genauso ist es mit Vorwürfen um den Diskurs der kulturellen Aneignung. Susemichel plädiert dafür, sich einzelne Fälle genau und individuell daraufhin anzuschauen, ab wann es eine Aneignung und ab wann nur eine solidarische Geste ist. Grundsätzlich solle „zwischen kultureller Aneignung und kultureller Ausbeutung unterschieden werden.” Ihrer Meinung nach macht es einen enormen Unterschied, ob ein großes Modelabel indigene Muster verwendet, um Kleidung für Hunderte Euros zu verkaufen, ohne eine Gewinnbeteiligung an die eigentlichen Eigentümer:innen auszuzahlen, oder ob jemand als subkulturelle Geste einen sogenannten Irokesenschnitt trägt. Ebenfalls problematisch sei die Annahme, es gebe so etwas wie eine kulturelle Reinheit. Kultur sei immer etwas Hybrides und beeinflusse sich gegenseitig. Doch wie Jens Kastner und Lea Susemichel schreiben: So emanzipatorisch sie in der Historie auch waren, „Identitätspolitiken sind erst der Anfang.” Lea Susemichel ist leitende Redakteurin des feministischen Magazins an.schläge und arbeitet als Journalistin, Lehrende und Vortragende in Wien. Jens Kastner ist freier Autor, Soziologe, Kunsthistoriker und Dozent an der Akademie der bildenden Künste Wien.
- Issue 6 Editorial | appropriate!
Editorial von Lena Götzinger, Benno Hauswaldt Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Editorial Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn ISSUE 6: Antifaschismus Bei der Vorbereitung zu dieser Ausgabe stießen wir auf eine Faschismusanalyse, die dessen Kern als ein Glaubenssystem beschreibt, das sich in folgenden Überzeugungen niederschlägt: Die ethnischen Mehrheitsgruppen sind ‚Opfer‘ von Einwanderung und Multikulturalismus; die Errungenschaften des Feminismus sollten rückgängig gemacht werden; […] Wissenschaft, Universitäten und Medien sind nicht vertrauenswürdig; die Nationen haben die Orientierung verloren und müssen ihre frühere ‚Größe‘ wiedererlangen; ein nicht näher bestimmtes katastrophales Ereignis wird die Dinge wieder ins Lot bringen. Jeder Faschist glaubt all das und mehr; jeder rechtspopulistische Wähler glaubt mittlerweile einen Teil davon; der autoritäre rechte Politiker appelliert in verschlüsselter Form an einige dieser Überzeugungen, um Vorteil daraus zu schlagen. (Mason 2022: 12–13) Inwieweit Politiker:innen wirklich antifaschistisch gesinnt sind, kann man laut dem Autor daran erkennen, ob sie bereit sind, die oben genannten demokratiefeindlichen Glaubensinhalte in Wort und Tat zu bekämpfen. Wenn aber die Politik beginnt, ihr Bekenntnis zu Vielfalt, Menschenrechten und Toleranz, gegen Antisemitismus und Rassismus, sowie das Recht auf ein Leben in Freiheit ohne Angst vor Diskriminierung oder Gewalt zu relativieren, dann öffnet sie die Tore für einen modernen Faschismus, der sich autoritärer, populistischer und antidemokratischer Methoden bedient. Sein Ziel ist es, die Demokratie zu zerstören. Antifaschismus ist deshalb für die demokratische Gesellschaft unverzichtbar. Issue 6 von appropriate! beschäftigt sich mit der Rolle, die Kunst zur Stärkung des Kampfes gegen Faschismus spielen kann. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich durch dialogische, aktivistische und partizipatorische Initiativen der Kunst und Vermittlung den antidemokratischen Entwicklungen in der aktuellen Politik etwas entgegensetzen lässt. Der Künstler Dmitry Vilensky setzt sich in seinem Gastbeitrag mit der komplexen Frage nach den richtigen Strategien im Kampf gegen den Faschismus auseinander. Ein Problem identifiziert er darin, dass Faschismus einer permanenten Wandlung unterzogen ist. So bezieht er sich etwa auf die paradoxe Situation in Russland, wo faschistische Ideen zu einem historischen Zeitpunkt – drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Bevölkerung populär werden, obwohl diese sich selbst niemals als faschistisch begreifen würde. Er schreibt: „The entire meaning of the war in Soviet education was as an anti-fascist struggle, where the Russians are on the side of the good and the fascists are the enemy. So there’s this odd business, which I call in the book ‘schizo-fascism’, where people who are themselves unambiguously fascists refer to others as fascists.“ In ihrem Gastbeitrag „Viral gehen und vergehen“ untersucht die Kunstwissenschaftlerin Elena Korowin die dynamische und oft flüchtige Natur von Inhalten in den sozialen Medien im Kontext des Ukraine-Krieges. Dabei geht sie auf die Vergänglichkeit von Memes und die Darstellung von Kriegen sowie die vereinfachte Darstellung von Helden- und Feindbildern auf Instagram und TikTok ein, die verdeutlichen, dass komplexere und reflektierte Gedanken in der viralen Welt oft keinen Platz finden. Ein wichtiges Grundmerkmal des Faschismus ist der Revisionismus. Durch ihn wird die Geschichte des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs verfälscht und Geschichtswissenschaft diskreditiert. Um dem Revisionismus in Deutschland entgegenzuwirken und die Erinnerungskultur zu demokratisieren, widmen sich zahlreiche zivilgesellschaftliche und künstlerische Projekte der Aufarbeitung der NS-Zeit. Linn Bergmann war Teil eines solchen Projektes, das 2021 ins Leben gerufen wurde, um die Geschichte des NS-Zwangsarbeitslagers im Rehburger Forst wissenschaftlich und künstlerisch aufzuarbeiten und in Form einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In ihrem Text „Fossilis – durch Graben gewonnen“ berichtet sie über ihre Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum und reflektiert Fragen nach der persönlichen Verantwortung in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Daphne Schüttkemper stellt in ihrem Praxisbericht das Kunst-projekt The Arts of Resistance vor, an dem Studierende der Kunst-vermittlung der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig mitwirkten. Anhand von Erkennungskriterien des Ur-Faschismus von Umberto Eco, Spuren der NS-Zeit im Braunschweiger Stadtbild und Aktivitäten von Neonazi-Gruppen wurde im Rahmen des Projekts mit Braunschweiger Schulen eine kollektive Skulptur gegen Faschismus und für Demokratie entwickelt. Um Faschismus und Rechtsextremismus bekämpfen zu können, braucht es auch eine geeinte und solidarische politische Linke. Diese ist aktuell jedoch gespaltener denn je, besonders in Bezug auf den Nahostkonflikt und die damit verbundenen Terroranschläge und Kriege. Im Kunst- und Kulturbetrieb manifestiert sich die polarisierte Debatte seit dem 7. Oktober 2023 in Form von offenen Briefen an Institutionen, Veranstaltungsabsagen, Ausladungen und Anfeindungen. Im Zentrum des Interviews von Lena Götzinger mit der Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin Saba-Nur Cheema stehen die historischen Hintergründe dieser Entwicklungen, der muslimisch-jüdische Dialog, persönliche Boykott-Erfahrungen und die Wichtigkeit multiperspektivischer Diskussionsräume. Über seine aktuellen Projekte, beispielsweise im NS-Dokumentationszentrum in München oder den Esch Clinics in Luxemburg, spricht der aus der Architektur kommende Markus Miessen im Interview mit Benno Hauswaldt. Darüber hinaus werden Theorien und Methoden der Partizipation, des Eingeladenwerdens und des Handelns ohne Mandat thematisiert, insbesondere die Frage, inwieweit an eine Verbindung von Agonismus und Teilhabe gedacht werden muss, um andere Strukturen, Räume und Öffentlichkeiten zu schaffen. Lena Götzinger und Benno Hauswaldt führten auch ein Gespräch mit der Künstlerin Henrike Naumann. Sie setzt sich künstlerisch mit historischen Inhalten und Ästhetiken des Nationalsozialismus und deren Weiterführung durch rechte Terrorgruppen, wie etwa den NSU, auseinander. Indem sie gefundene Objekte und dokumentarische Bezüge verändert, kombiniert und rekontextualisiert, sollen Geschichte und Gegenwart neu interpretiert und sichtbar gemacht werden. Über diesen Ansatz verleiht sie Themen ein Forum, das Rezipierende als Teil der gesamtgesellschaftlichen Situation mit in die Verantwortung nimmt, etwa für die Bekämpfung und Aufklärung rechten Terrors. Moriz Hertel rezensiert das Buch Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen von Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel. Dabei spannt er einen Bogen von polarisierter Streitkultur und Kompromissbereitschaft bis hin zur Aktion „Ausländer raus“ des Performancekünstlers Christoph Schlingensief im Jahr 2000 in Wien. Nastasia Schmidt rezensiert Kübra Gümüşays Buch Sprache und Sein , in dem die Autorin darstellt, wie strukturelle Diskriminierungsformen, darunter Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Ableismus, sprachlich in unserer Gesellschaft verankert und unterstützt werden. Die Beiträge in diesem Issue zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven die vermittelnden und verbindenden Potenziale von Kunst, Kultur und Aktivismus auf, die dazu beitragen sollen, dass die Gesellschaft in einem breiteren Zusammenhalt als bisher für eine vielstimmige und resiliente Demokratie einsteht. Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn Redaktion des Issue 6: Antifaschismus Literatur Mason, Paul, 2022. Faschismus. Und wie man ihn stoppt. Berlin: Suhrkamp Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. Martin Krenn , PhD, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 01
- „… this has nothing to do with art …”
Araba Evelyn Johnston-Arthur Iss ue 4│ Machtverhalten 1 Anker 1 „… this has nothing to do with art …” Notizen zu counter-amnesischen Praktiken und der Kunst der Kritik (Refugee Protest Camp Vienna-Bewegung) Araba Evelyn Johnston-Arthur Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 „I am interested in the, performativity' of memory. I am thinking about the quotidian of trauma alongside of the restoration and Magic of water cycles. partnering with my meditation on healing, dance and media as a physical tap into embodying memory.” Nia Love, gl(host): underCURRENT[1 ] „‚Glücklich ist wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.‘ Man könnte dies als die heimliche Hymne des Österreichers bezeichnen. Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren: nur Bewusstes kann verändert werden. Unbewusstes natürlich nicht.” Erwin Ringel, 1995. Die österreichische Seele: Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion, S 13 „Was man in einer Gesellschaft nicht wissen darf, weil es die Ausübung von Macht stört, muss unbewusst gemacht werden. […] Diese Produktion von Unbewusstsein muss gesellschaftlich organisiert werden, und der Ort, wo sie stattfindet, ist nicht so sehr die Familie, als jene Institutionen, die das öffentliche Leben regulieren.“ Mario Erdheim, 1982. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, S 38 „[…] die zwanghafte ewige Wiederholung der ersten Begegnung mit dem Fremden, ist ein Prozess, den ich als ,Rassismusamnesie‘ bezeichnet habe, die anhaltende Dialektik von rassistischer moralischer Panik und der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen (vgl. El-Tayeb 2015). In diesem aktiven Prozess des Vergessens werden Ereignisse und Bewegungen bedeutungslos gemacht, indem sie als vereinzelte Phänomene klassifiziert werden – ohne Kontext, ohne Ursache und Wirkung, kurz: ohne Bezug und damit ohne Ort im kollektiven Gedächtnis.“ Fatima El-Tayeb, 2016. Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der post-migrantischen Gesellschaft, S 15 „Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ Michel Foucault, 1992, Was ist Kritik?, S 15 „,You are only focusing on just leave […] We are … I told you we are going to leave […] It doesn’t mean… we are the refugees we are garbage […] We are ready we are going to leave […] for the human rights we are disappointed […] we had a lot of expectations … maybe you give … one … statement to the minister of interior what’s wrong with these people why are they here, what is the problem. You just focusing: empty this building, empty church, empty Kloster, empty Austria … for fucking refugees, they are not deserv[ing] to live here in this country.’” Einer der hier bewusst anonym gehaltenen Aktivisten des Refugee Protest Camp Vienna bei der Konfrontation mit dem Ultimatum der Rektorin der Akademie der bildenden Künste. Meine Videotranskription aus: Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 „The animation of thought by those who have their humanity questioned presents an ontological scandal.” Tendayi Sithole, 2020. The Black Register, S 1 Während vom Gebäude der Akademie der bildenden Künste Wien am Schillerplatz deutlich zu lesen noch immer das Transparent: „Stop Deportations!“ hing, stellte die damalige Rektorin Eva Blimlinger den Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna in der Aula der Akademie ein Ultimatum. Nach der polizeilichen Räumung des zeltlichen Refugee Protest Camp im Sigmund- Freud-Park im Dezember 2012, einem Hungerstreik in der gegenüberliegenden Votivkirche, der Verlegung des Protestes in das Servitenkloster, Abschiebungen und Festnahmen wegen des Verdachts der Schlepperei, begleitet von einer Kriminalisierungskampagne, hatten die Aktivist:innen der Bewegung im Oktober 2013 schließlich ihre Hoffnung in die praktische Solidarität der Akademie der bildenden Künste gesetzt. Am 29. Oktober nahmen Refugeeaktivist:innen den Raum der Aula ein. Passenderweise im Anschluss an die in der Akademie veranstalteten Diskussionsveranstaltung „Art, Activism, Academy“. In seinem zur Zeit dieser Akademieeinnahme entstandenen kurzen Text „Wie wird die Akademie der bildenden Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen?“[2 ] kommentiert der Archivar des Archivs der Migration Ljubomir Bratić (2013) diesen kritischen historischen Moment in der (vielfach noch zu schreibenden) marginalisierten widerständigen Bewegungsgeschichte Österreichs folgendermaßen: „Ein neuer Raum ist eingenommen und dieser scheint auch gehalten zu werden. Die Einnahme erfolgte durch diejenigen, die als Gruppe per definitionem in unseren Gesellschaften kein Recht auf Raum (egal welchen!) haben. Darum haben sie den Raum, der ihnen aus ihrer Position agierend, zugänglich ist, eigensinnig betreten. Ist dann die Tatsache zufällig, dass sie zuerst eine Kirche und derzeit eine Akademie, zwei sakrale Institutionen – eine der vergangenen Zeiten und [sic!] zweite der moderne – einnahmen? […] Und nun gerade die Akademie der bildenden Künste. Warum die Akademie? [….] Weil dieser Ort als einer der Freiheit gilt. […] KUNST IST FREI!“ „Doch wie“, fragt sich Bratić hier weiter, „steht es mit der Freiheit von Individuen und zwar ganz bestimmten Individuen und Gruppen von Menschen, in unserem Fall von denjenigen, die gezwungenermaßen außerhalb des Kunstfeldes stehen? Das, scheint mir war nie ein breit diskutiertes Thema an dieser Akademie. Vor allem nie eines, das auch zur Konkretisierung der Taten geführt hätte. Mehr noch, es meldet sich derzeit ein starker Zweifel, ob Kunst nicht gerade auf die Rechnung von denjenigen, die eben nicht frei und vor allem nicht gleich sind, ihre Freiheit und Größe in der Öffentlichkeit proklamieren und zelebrieren darf. Wie wird die Akademie der Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen? Mit den Überzähligen, die aus einer in einem rassistischem [sic!] System unmöglichen Position ihre Teilhabe aufbegehren, oder gegen Sie [sic!], als Teil eines breiten polizeylichen Systems, in dem die Akademie die Entfernung der Begehrenden eigenverantwortlich einschaltet. Das ist jetzt der Scheideweg!“ (Bratić 2013) Mit dem Ultimatum, das auf den sofortigen Auszug der Refugeeaktivist:innen pochte, entschied sich die Akademie für Letzteres, das heißt: den Rausschmiss derjenigen, die die hegemoniale Ordnung der Dinge stören und aus einer in einem neokolonialen Migrationsregime unmöglich gemachten Position heraus notwendigerweise aufbegehren. Der November 2013 kann also in vielerlei Hinsicht als folgenschwer erachtet werden, auch für den konkreten Fortbestand der kollektiven, selbst organisierten Protestbewegung des Refugee Protest Camp Vienna. Der Forderung der Rektorin folgend, räumten die Refugeeaktivist:innen die Aula der Akademie der bildenden Künste und zogen nach etwa einer Woche aus. Ungefähr ein Jahr zuvor, am 24. November 2012, hatten sich Refugeeaktivist:innen aus der wohl größten Erstaufnahmestelle für „Asylweber:innen“ in Österreich, dem Flüchtlingslager Traiskirchen, zu einem über 20 Kilometer langen Protestfußmarsch nach Wien aufgemacht. Während das Refugee Protest Camp Vienna hier seinen Anfang fand, stellte der Rausschmiss aus der Akademie („You are focusing on just leave“) ein Ende der kollektiven Raumeinnahme dar. Diese war eine für die selbstbestimmte Sprache der Bewegung zentrale Protestgrammatik. Die Kämpfe jener, deren Existenzen illegalisiert und kriminalisiert werden, jener, die (in Karl Marx’ Sinne)[3 ] als un(selbst)repräsentierbar gelten, jener, die als politische Subjekte undenkbar gemacht werden, für das (in Hannah Arendts Sinne) grundlegende Recht, überhaupt Rechte zu haben, rütteln an Fundamenten des neokolonialen Migrationsregimes. Angela Davis (2015) brachte die fundamentale Bedeutung dieser fortlaufenden Kämpfe im Mai 2015 bei ihrem Solidaritätsbesuch der Refugeeaktivist:innen, die die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg besetzt hatten, folgendermaßen zum Ausdruck: „The refugee movement is the movement of the 21st century. It's the movement that is challenging the effects of global capitalism. It's the movement that is calling for civil rights for all human beings.” Für Sylvia Wynter (2003: 261) stellen jene „refugee/economic migrants stranded outside the gates of the rich countries” neben „the criminalized majority Black and dark-skinned Latino inner-city males now made to man the rapidly expanding prison-industrial complex, together with their female peers – the kicked-about Welfare Moms – with both being part of the ever-expanding global, transracial category of the homeless/the jobless, the semi-jobless, the criminalized drug-offending prison population” heute die post- bzw. neokoloniale Übersetzung von Frantz Fanons Kategorie der kolonisierten „Verdammten dieser Erde“[4 ] des 21. Jahrhunderts dar. Der Übertitel meiner Notizen: “… this has nothing to do with art …” ist ein aus dem Zusammenhang der eingangs beschriebenen Ultimatumszene mit den Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna gerissener Satzfetzen der Rektorin. Ihm stelle ich mit Michel Foucault – Kritik als Kunst der machtkritischen Praxis der Entunterwerfung betrachtend – die Frage entgegen: „What if this has everything to do with art?” Kann die in der Ultimatumszene zitierte Kritik eines Aktivisten des Refugee Protest Camp Vienna („You just focusing: empty this building…“) exemplarisch für eine radikale Kunst der Kritik gelesen werden, die letztlich den Rahmen institutioneller Kritik sprengt, weil sie keinen Raum haben darf? Stellt nicht mit Tendayi Sithole (2020: 1) sprechend „die Animation der Gedanken derjenigen, deren Menschsein in Frage gestellt wird einen ontologischen Skandal dar“? Einen das „hegemoniale script“ so sehr flippenden Skandal, dass es ihn (den Skandal) in Erwin Erdheims und Erwin Ringels Sinne zu verdrängen und unbewusst zu machen gilt: damit der institutionelle Status quo unveränderbar bleibt, mit sich selbst glücklich ist und bleibt. Wie werden hegemoniale Machtverhältnisse durch den Rausschmiss von radikalen Interventionen, Kritiken und Widerständen aus dem (in El-Tayebs Sinne) Ort des kollektiven Gedächtnisses reproduziert? Aspekten von Lisa Yoneyamas Konzept der „counter-amnes(t)ic practices” folgend, stellen meine Überlegungen hier einen Versuch einer counter-amnesischen Praxis dar. Einer Praxis des kritischen Erinnerns, die, wie Yoneyama (2003: 61) es beschreibt, „become[s] urgently relevant to present efforts that seek social and cultural transformations.” Die im Kontext der Gewalt des rassifizierten Kapitalismus systematisch zu problematisierten Anderen Krisenobjekten (Stichwort unter vielen: „Flüchtlingskrise“) Gemachten brechen aus, organisieren sich selbst, sprechen als politische Subjekte zurück, üben Kritik, protestieren, fordern nicht Hilfe, sondern jenseits von plakativen Deklarationen praktische Solidarität ein. Mit dem (in Bratić’ Sinne) eigensinnigen Akt der Einnahme des öffentlichen Raumes und der radikalen Verkörperung des Streiks durch Hungern fand die Refugee Protest Camp Vienna-Bewegung eine Protest- und Widerstandssprache, die eine Auseinandersetzung mit marginalisierter, systemischer Kritik erzwang. Diese Widerstandssprache ist die einer größeren Sans-Papiers-Bewegung, die sich lautstark innerhalb der Festung Europas Räume radikaler Kritik erkämpft hat and weiterhin erkämpft. In Wien waren und sind diese Räume etwa die Straßen, die vom Flüchtlingslager Traiskirchen zum Sigmund-Freud-Park führen (während des kollektiven Protestmarsches), der Sigmund-Freud-Park selbst (mit der Errichtung eines Protestzeltlagers), die Votivkirche, das Servitenkloster und die Aula der Akademie der bildenden Künste Wien (mit deren Einnahme).Trotz polizeilicher Räumung und Rauschmiss haben sich die Kritiken in die multiplen (verdrängten) historischen Gegenwarten dieser Orte eingeschrieben und diese Räume verändert: Hier macht der Sigmund-Freud Park der von Erwin Ringel (2005: 13) als Verdrängungsgesellschaft beschriebenen österreichischen Gesellschaft nicht zuletzt mit der dort 1985 von der Stadt Wien errichtete Parkbenennungstafel alle Ehre. Als „Erinnerungszeichen“ fungierend verdrängt die Tafel die Tatsache, dass Sigmund Freud und seine Familie während des Naziterrorregimes ins Exil gedrängt wurden, um der Naziverfolgung zu entgehen.[5 ] Zum Ende meiner Notizen springend erinnert Bratić‘ Sinn für Eigensinnigkeit mich auch an verdrängte Dimensionen des ontologischen Skandals der Eigensinnigkeit (im Sinne von Sense of Self angesichts der objektisierenden Gewalt des Othering) von Josephine Soliman. Nach dem Tod des Vaters von Josephine Soliman am 21. November 1796 wurde hän[6 ] hänen[7 ] Menschlichkeit beraubt, zu einem exotischen Objekt reduziert und hänen[8 ] präparierten Leichenbruchstücke (später) gemeinsam mit denen von drei anderen schwarzen Menschen – einem kleinen Mädchen, dessen Namen als unbekannt gilt, Pietro Michaele Angiola und Joseph Hammer – im k. k. Hof- und Naturalienkabinett öffentlich zur Schau gestellt. Josephine Soliman protestierte dagegen, kämpfte für die Rückgabe der Leichenbruchstücke hänen[9 ] Vaters und damit für das grundlegende Recht, hän[10 ] begraben zu können. In diesem Sinne eigen-sinnig, schließe ich mit Jin Haritaworns (2008: 9) Gedanken: „,Eigen-Sinn’. Literally translated as ,sense of self’, its composite means ,stubbornness’ or ,unruliness’. This evokes what is at stake in inventing ourselves from the ashes of multiple, and repeated, onslaughts of pathologisation.” Araba Evelyn Johnston-Arthur ist Mitbegründerin von Pamoja. Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora und der Recherchegruppe zu Schwarzer österreichischer Geschichte. Ihre transdisziplinäre Arbeit beschäftigt sich mit intersektional widerständigen diasporischen Politiken und the “decolonizing art of mattering (embodied) memories“. Sie unterrichtet derzeit an der Howard University in Washington DC. Literatur Baumgartinger, Persson Perry, 2007. queeropedia. Wien: Referat für Homobitrans-Angelegenheiten, Österreichische HochschülerInnenschaft an der Universität Wien Bratić, Ljubomir, 2013. Wird die Akademie der bildenden Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen? Aula der Akademie der bildenden Künste Wien zur Zeit der Einnahme der durch Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna: Aktivistische Wandpresse Davis, Angela, 2015. The Refugee Movement: News from Inside https://oplatz.net/oplatzbox-the-refugee-movement-is-the-movement-of-the-21st-century/ (Zugriff: 22.01.2023) El-Tayeb, Fatima, 2016. Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der post-migrantischen Gesellschaft. Münster: Unrast Erdheim, Mario, 1982. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Fanon, Frantz, 1974. Die Verdammten dieser Erde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Foucault, Michel, 1992. Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag Haritaworn, Jin, 2008. Shifting Positionalities: Empirical Reflections on a Queer/Trans of Colour Methodology. Goldsmiths College Sociological Research Online 13(1)1. http://www.socresonline.org.uk/13/1/13.html (Zugriff: 20.12.2022) Love, Nia. gl(host): underCURRENTS. https://www.nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 20.12.2022 Marx, Karl, 1907. The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte. Chicago: Charles H. Kerr& Company. Ringel, Erwin, 2005. Die österreichische Seele. Wien: Buchverlage Kremayr&Scheriau/Orac Sithole, Tendayi, 2020. The Black Register. Cambridge: Polity Press Wynter, Sylvia. Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation—An Argument. In: The New Centennial Review, Volume 3, Number 3, Fall 2003. S. 257–337 Yoneyama, Lisa, 2003. Traveling Memories, Contagious Justice. JAAS 6, no. 1. S. 57–93 Endnoten [1] https://www.nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 20.12.2022 [2] Bratić‘ Text wurde neben anderen Texten während der Einnahme der Aula der Akademie der bildenden Künste Wien durch den Refugee Protest Camp Vienna an die Wände der Akademie plakatiert. [3] Siehe Marx. (1907:71): “The can not represent one another, the must themselves be represented.” [4] Bezugnehmend auf Frantz Fanon’s einflussreiches im französischen Original 1961 erschienenes Buch: Die Verdammten dieser Erde. [5] vgl. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Parkbenennungstafel_Sigmund_Freud (Zugriff: 20.01.2023) [6] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das deutsche männlich zugeordnete „er“. Es stellt einen Teil des Versuchs dar, (für mich neue) Praktiken der Auseinandersetzung mit dem Verlernen eigener verinnerlichter, heteronormativer Logiken zu entwickeln. Das heißt, hier sprachlich die Geschlechtsidentitäten von Josephine und Angelo Soliman nicht zu fixieren und offen zu lassen. Um mit Persson Perry Baumgartinger (2007: 58) (unter vielen anderen Mitbegründer von Queeropedia und von diskursiv - Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge) zu sprechen, geht es darum: „Sprache aus der Zweigeschlechtlichkeit zu befreien. Es gibt sehr viele phantasievolle, oft sehr unterschiedliche Ideen, Realisierungen, Widerstände gegen eine Sprache, die nur Männer und Frauen kennt.“ Auf dahingehend schon erkämpfte und kreierte vielseitige Sprachpraktiken Bezug nehmend, habe ich mich aufgrund meiner Vertrautheit mit der finnischen Sprache für die Form hän entschieden. Im Finnischen ist „[…] hän allgemein das Pronomen für Personen […] (im Finnischen gibt es keine grammatischen Geschlechter).“ vgl. https://geschlechtsneutral.net/pronomen/ (Zugriff: 20.01.2023) [7] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „seiner“. [8] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „seine“. [9] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) weiblich zugeordnete binäre „ihres“. [10] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „ihn“. Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10
- Kunstawards im Machtgefüge – Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft | Issue 4 | appropriate!
Johanna Franke, Katrin Hassler Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstawards im Machtgefüge – Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft Johanna Franke, Katrin Hassler Geographische Herkunft der Preisträger:innen nach Region und Geschlecht (Quelle: Franke, Johanna, 2022, Abbildung 5) Herkunftsländer der Preisträger:innen seit 2006 (Quelle: Franke, Johanna, 2022, Abbildung 6) „Girls run the world. That’s arguably especially true in the art world“. [1 ] Dieses Zitat des Kunstkritikers Brian Boucher ist eine gewagte These. Denn die Aussage steht im Widerspruch zu zahlreichen Aktivismen, die auf die persistenten Geschlechterasymmetrien im Kunstfeld aufmerksam machen – „Art and Feminism“, „Feminist Art Coalition“ oder auch „Mehr Mütter für die Kunst“ [2 ], um nur einige zu nennen. Boucher beruft sich hier auf die große Anzahl mächtiger und einflussreicher Kunstberaterinnen, Spezialistinnen in Auktionshäusern und Galeristinnen, die im internationalen Feld agieren [3 ]; wenngleich die Betitelung professioneller Kunstakteurinnen mit „Mädchen“ von einem eher geringen gendertheoretischen Reflexionsvermögen zeugt. Diskussionen um geschlechtsabhängige Machtverhältnisse im Kunstfeld erlangten in den vergangenen Jahren regelmäßig Aufmerksamkeit, in den Wissenschaften wie in den populären Medien gleichermaßen. Im Art Basel Report ist die Analyse von Geschlechterdifferenzen auf dem Kunstmarkt seit mehreren Jahren fester Bestandteil. [4 ] Bereits in den 1970er-Jahren diskutierte Linda Nochlin Machtstrukturen im Kunstfeld anhand von Genderkonfigurationen und der Exklusion von Frauen aus der Kunstgeschichte. Autonome Tätigkeiten werden, so die Kunsthistorikerin, von Individuen beeinflusst – die Qualität des Kunstwerks hängt von sozialen Strukturen ab. Nochlin verweist dabei auf den Ausschluss von Künstlerinnen von Kunsthochschulen und verdeutlicht, inwiefern die Tätigkeit kunstschaffender Frauen per se als dilettantisch abgehandelt wurde. [5 ] Unstrittig ist: Auch nach 50 Jahren Aktivismus und kunsthistorischem Genderdiskurs bestehen Machtstrukturen fort, die einen genderspezifischen Ausschluss von Künstlerinnen begünstigen. Sie finden sich in diversen Ausprägungen, abhängig von Akteurskonstellationen, Reputation oder auch der historischen Genese des jeweiligen Bereiches des Kunstfelds. [6 ] Inwiefern genderspezifische Machtkonstellationen auch in einer intersektionalen Verschränkung die Verleihung von Kunstawards prägen, verdeutlicht die folgende Darlegung des National Museum of Women in the Arts: „Only 29% of the winners of the Turner Prize, one of the best-known visual art awards, have been women—though several women have won over the past decade. In 2017, Lubaina Himid became the first woman of color to win.” [7 ] Bislang in der Forschung wenig beachtet zeigen sich Kunstpreise als aufschlussreicher Untersuchungsgegenstand bei der Analyse von Geschlechterasymmetrien im Feld der Kunst. Denn nicht zuletzt können solche von Museen verliehenen Preise als wirkmächtige Konsekrationsinstrumente in der Formung von Künstler:innenkarrieren begriffen werden. So lassen sich im Folgenden mittels einer Gegenüberstellung von drei renommierten Kunstpreisen deutscher Museen [8 ] – Wolfgang-Hahn-Preis (1994–2022), Preis der Nationalgalerie (2000–2021) und Kurt-Schwitters-Preis (1996–2022) – strukturelle Exklusionen im Feld veranschaulichen. Die Verleihung der Preise von 1994 bis 2022 weist interessanterweise eine ähnliche Relation auf, wie sie auch beim Turner Prize beobachtet wurde: Von 45 prämierten Künstler:innen waren 14 weiblich, woraus sich ein Künstlerinnenanteil von 33% ergibt. [9 ] Als machtvolles, strukturierendes Merkmal bei der Verleihung der Preise erwies sich neben dem männlichen Geschlecht des Weiteren eine Herkunft aus Staaten des globalen Nordwestens, wie aus Tabelle 1 hervorgeht. Weniger als ein Fünftel aller Preisträger:innen stammt aus einer nicht nordwestlichen Region der Welt. [10 ] Durchschnittlich weisen 68% der Preisträger:innen beide Merkmale auf – sie sind männlich und stammen aus den genannten Regionen. Auch eine Differenzierung nach Geschlecht bei der Gegenüberstellung der Künstler:innen mit nicht nordwestlicher Herkunft verdeutlicht eine Genderasymmetrie der ausgezeichneten Künstler:innen: Während im Durchschnitt 34% der Künstlerinnen entweder aus dem Südwesten (19%), Nordosten (10%) oder Südosten (5%) stammen, weichen die Werte bei ihren männlichen Kollegen deutlich ab. Letztere weisen zu 9% eine nicht nordwestliche Herkunft auf, 6% stammen aus dem Südwesten sowie 3% aus dem Südosten. Im Vergleich dazu stammen je nach Fallbeispiel 80% bis 100% der Künstler aus einer nordwestlichen Region, während es bei Künstlerinnen zwischen 43% und 80% sind. Wie lässt sich dieses Phänomen – immerhin eine Differenz von knapp 40 Prozentpunkten zwischen Künstlerinnen und Künstlern – erklären? Als aufschlussreich erweist sich diesbezüglich eine Untersuchung der Reputation der einzelnen Preise. Vergleicht man diverse Indikatoren wie die Position der jeweiligen Museen im Kunstfeld, das mit der Auszeichnung verbundene Preisgeld oder auch zusätzliche Konditionen wie eine mit dem Award verbundene Einzelausstellung oder eine Publikation, ergibt sich ein durchaus interessantes Bild: Das Museum mit dem höchsten Wert an nicht nordwestlichen Künstlerinnen (Preis der Nationalgalerie) ist zugleich mit dem geringsten Kapital sowie der geringsten Reputation ausgestattet. Daraus lässt sich schließen, dass Künstlerinnen nicht nordwestlicher Herkunft – vor allem aber bei einem Zusammenkommen beider Strukturmerkmale – laut der Daten eher dann mit einem Award ausgezeichnet werden, wenn dieser mit einer geringeren Reputation verbunden ist. Demzufolge erzielen Frauen insbesondere dann Präsenz im Kunstfeld mittels einer Auszeichnung, wenn der Reputationsgewinn vergleichsweise gering ist. Diese Beobachtungen verdeutlichen, dass Künstlerinnen dann eine höhere Chance auf globalen Erfolg haben, wenn sie nicht aus an kunstfeldbezogenen Ressourcen reichen Ländern stammen. Hier erweist sich ein Blick in den Global Gender Gap Report als hilfreich, der den weltweiten Gender Gap der Geschlechter analysiert. [11 ] Tabelle 2 zeigt eine an den Report angelehnte Berechnung des Mittelwerts des Rangs bzw. des dazugehörigen Scores der Herkunftsländer der Künstler:innen in den jeweiligen Verleihungszeiträumen. Für die Künstlerinnen ergibt sich ein durchschnittlicher Rang von 52 und ein Score von 0,714, für die Künstler ein durchschnittlicher Rang von 27 sowie ein Score von 0,786. [12 ] Der im Gegensatz zu den Künstlern niedrige Rang der Herkunftsländer der Künstlerinnen wird besonders durch die als prekär eingestufte Lage in Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, Mexiko, Pakistan und der Republik Korea beeinflusst, während aufseiten der männlichen Künstler nur in China ein großer Gender Gap vorzufinden ist. Dagegen beeinflussen die oberen Ränge von Dänemark, Deutschland, Kanada und der Schweiz den relativ guten bis durchschnittlichen Rang. Aus der Ranganalyse des Global Gender Gap Report lässt sich schließen, dass Erfolg im Kunstfeld für Frauen eher dann möglich ist, wenn die Profession als Künstler:in in ihrem Heimatland mit verhältnismäßig wenig gesellschaftlicher Reputation verbunden ist sowie mit vergleichsweise weniger symbolischem Kapital behaftet. [13 ] Betrachtet man darüber hinaus die Aufenthaltsorte von Künstler:innen, fällt auf, dass diejenigen, die nicht aus dem globalen Nordwesten stammen, sich meist dennoch in westlichen Kunstzentren aufhalten, um in jenen Ländern Anerkennung und Reputation zu erhalten. Ein Brain-Drain-Muster zwischen der Abwanderung aus der Peripherie ins Zentrum eröffnet demnach ein weiteres Spannungsverhältnis im Kunstfeld. Künstler:innen sollten sich in nordwestlichen Regionen und Kunstmetropolen aufhalten, um am Kunstgeschehen teilnehmen zu können. [14 ] Zusammenfassend kann durch die Auswertung der empirischen Daten zwar bewiesen werden, dass Künstlerinnen im Laufe der Zeit häufiger ein Award gewidmet wurde als zu Beginn des Verleihungszeitraums. Diese zunächst positive Entwicklung muss gleichwohl aus einer intersektionalen Perspektive neu gefasst werden: Die Herkunft aus einem westlichen Kunstfeld ist nach wie vor zentral für die Erlangung von Reputation. Diese Vormachtstellung des Westens bildet zusammen mit dem nach wie vor wirksamen Konzept des männlichen Künstlergenies die zentrale Machtkonstellation des Feldes. Diese Mechanismen, die nur zu gern einer Verschleierung unterliegen, sollten sensibel und mit einem geschärften Blick analysiert und in den Fokus gerückt werden – so positiv die verstärkte Inklusion von Künstlerinnen in die Reputationsmechanismen des Feldes bei der Verleihung von Kunstawards auch ist. Literatur Boucher, Brian, 2015. 25 Women Curators Shaking Things Up. In: ArtnetNews, March 17, 2015. Buchholz, Larissa/Wuggenig, Ulf, 2005. Cultural globalization between myth and reality: The case of the contemporary visual arts. In: ART-e-Fact: Strategies of Resistance, an online magazine for contemporary art & culture: Omnimedia D.O.O. Zagreb. Nach: Galtung, Johan, 2000. Globale Migration. In: Butterwege, Christoph/Hentges, Gudrun (Hg.), 2000. Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Opladen: Westdeutscher Verlag. 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[2] Siehe dazu https://artandfeminism.org/ ; https://feministartcoalition.org/ ; http://mehrmütterfürdiekunst.net/ [21.12.2022]. [3] Vgl. Boucher 2015. [4] siehe dazu zum Beispiel McAndrew 2022; siehe dazu auch Hassler 2017: 226 ff. [5] vgl. Nochlin [1971] 2021. [6] siehe dazu Hassler 2017. Die Reduktion der Geschlechtervariable auf eine weibliche und eine männliche Genusgruppe beschreibt eine paradoxe Problematik, indem ein Denken in dichotomen Geschlechterkategorien erhalten wird, das im Grunde bekämpft werden soll (siehe dazu auch Graw 2003: 10). Dieses von poststrukturalistischen wie dekonstruktivistischen Ansätzen der Geschlechterforschung zu Recht kritisch hinterfragte Vorgehen bedarf einer Erklärung. Trotz des Wissens um die soziale Konstruktion von Geschlecht zeigt sich eine Geschlechterdichotomie im Kunstfeld nach wie vor als persistent. Ausgehend von diesem Faktum liegt der Fokus der Analyse auf der Sichtbarmachung dieser geschlechtsbedingten sozialen Ungleichheiten und dichotomen Strukturen, um sie zu hinterfragen und ihnen letztlich entgegenwirken zu können. In diesem Sinne dient die Untersuchung auch dazu, den Stimmen entgegenzuwirken, die sich auf den heute ausgeglichenen Zugang zum Bildungssystem und eine gleichwertige Inklusion in professionellen Feldern berufen. Neben den zweifelsohne erfolgten Veränderungen dürfen die nach wie vor tief in unseren gesellschaftlichen Strukturen und Denkschemata verankerten dichotomen geschlechtlichen Herrschaftsverhältnisse nicht außer Acht gelassen werden. Sie können dann aufgebrochen werden, wenn sie reflektiert, entschleiert und sichtbar gemacht werden – die Studie leistet hierzu einen Beitrag. Offen bleibt eine Sichtbarmachung queerer Positionen, die in Ermangelung nutzbarer Daten in diesem Rahmen nicht dargestellt werden konnten. Ein Dilemma, das in der Forschung dringend stärkere Beachtung finden muss (siehe hierzu auch Hassler 2017: 153 ff.). [7] National Museum of Women in the Arts 2022. [8] Die Bezugnahme auf diese Preise basiert auf einem Ranking von artfacts.net , das nach dem Prestige der dort ausgestellten Künstler:innen erstellt wurde. Da in der Analyse ausschließlich zeitgenössische Künstler:innen im Fokus standen und sich die Preise nicht auf ein bestimmtes Genre beziehen sollten, wurden die drei genannten Preise ausgewählt. Siehe dazu Grafik „Die erfolgreichsten Kunstmuseen Deutschlands, ermittelt durch die Punktezahl der Künstler:innen der Sammlung“ (Daten zur Verfügung gestellt von Artfacts.net, in persönlicher Korrespondenz mit Marek Classen, 28.09.2021). [9] Die Analyse zu Genderasymmetrien von Kunstawards wurde im Rahmen einer Masterarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg im Studiengang Kulturwissenschaften von Johanna Franke vorgelegt. Siehe dazu Franke 2022. [10] Die Einteilung Northwest, Southwest, Northeast und Southeast erfolgt nach Johan Galtung. Um die Position des Westens zu analysieren, erweist sich eine Einteilung nach Regionen als sinnvoll. Galtungs Einteilung der Welt in „the four corners of the world“ bietet hierfür eine Strukturierungsmöglichkeit. Somit kann nicht nur zwischen europäischen Kunstmetropolen sowie den USA und der restlichen Welt unterschieden werden, vielmehr zwischen vier Regionen: „The ‚Northwest‘ encompasses Anglo-Saxon North America and Western Europe (countries of the EU in the borders before 2004); the ‚Northeast‘ includes the former Soviet Union, Eastern Europe, Turkey, the former Soviet republics with a Muslim majority, Pakistan and Iran. The ‚Southwest‘ comprises Latin America, Mexico, the Caribbean, West Asia, the Arab world, Africa, South Asia and India; the ‚Southeast‘ East Asia, Southeast Asia, the Pacific Islands, China and Japan.“ (siehe dazu auch Buchholz/Wuggenig 2005. Nach: Galtung 2000. [11] Der Global Gender Gap Report wird jährlich vom World Economic Forum (WEF) in Kooperation mit der Harvard Universität und der University of Berkeley veröffentlicht. Erstellt werden Länderrankings auf der Grundlage nationaler Geschlechterungleichheiten nach ökonomischen, politischen, bildungs- und gesundheitsbasierten Kriterien. Vgl. Hausmann/Tyson/Zahidi 2006. [12] Der Global Gender Gap Report ermittelt eine Punktzahl (Score) zwischen 0 und 1 zur Verdeutlichung der Geschlechtsungleichheiten. Je höher der Wert, desto geringer ist der ermittelte Gender Gap. Hinsichtlich dieses Scores werden die Länder im Ranking platziert (Rang). [13] siehe dazu auch Hassler 2017: 196. [14] Ähnliche Ergebnisse finden sich auch in der Analyse des internationalen Feldes zur Einnahme von Spitzenpositionen. Hier konnte insbesondere für Europa und Afrika eine gegenläufige Tendenz der Geschlechterasymmetrie in der Besetzung von Positionen im Kunstfeld und der vom WEF definierten globalen Geschlechterungleichheit gezeigt werden. Afrika, ein Kontinent mit relativ starken Differenzen nach Geschlecht, wies in der Analyse einen vergleichsweise hohen Künstlerinnenanteil im Spitzenfeld der Kunst auf. In Europa, einem Kontinent mit relativ geringer Ungleichheit nach Geschlecht, bestand hingegen eine verhältnismäßig schwache Inklusion von Künstlerinnen. Im Anschluss an Konzepte der vertikalen Segregation ließ sich im Hinblick auf diese entgegengesetzte Ausrichtung der globalen und der kunstfeldbezogenen Geschlechterasymmetrie schlussfolgern, dass Künstlerinnen insbesondere dann Präsenz im Kunstfeld erhalten, wenn vergleichsweise geringe Chancen vorliegen, über diesen Beruf Reputation und Macht zu erlangen (siehe dazu Hassler 2017: 195 ff). Katrin Hassler (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt in der Kunstsoziologie und den Gender Studies, ist Mitarbeiterin im Projekt Geschlechteraspekte im Blick sowie Referentin für Karriereentwicklung von Wissenschaftlerinnen an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie lehrt an der Leuphana sowie an der NABA (Nuova Accademia die Belle Arti) in Mailand. Johanna Franke ist Kulturwissenschaftlerin und studierte in Hildesheim, Lüneburg und in Finnland mit den Schwerpunkten Kunst- und Medienwissenschaften. In ihrer Abschlussarbeit analysierte sie Genderasymmetrien im zeitgenössischen Kunstbetrieb und Machtgefüge von Kunstawards. Als Projektmanagerin in einer Kreativagentur beschäftigt sie sich mit digitalen Technologien wie Augmented Reality und Virtual Reality sowie immersivem Storytelling für Unternehmen und Kulturinstitutionen. 1 Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14
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English version KUNSTPROJEKT IM RAHMEN DES 75. JUBILÄUMS AM NIEDERSÄCHSISCHEN LANDTAG Projektion von Videostatements https://enlightening-the-parliament.de
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Buchrezension von Sara Hegenbart Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Kann Kunst demokratische Räume schaffen? Buchrezension von Sarah Hegenbart Anmerkung der Redaktion: Da appropriate! ein Journal der Kunstvermittlung der HBK Braunschweig ist, wollen wir hier auch aktuelle Publikationen des Lehrganges vorstellen. Wir haben deshalb Sarah Hegenbart eingeladen als Gastautorin diese Rezension zu verfassen. In einem jüngst erschienenen Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung riet der Unternehmensberater Peter Molder zu mehr „Basic Talk“ (Molder 2024: 41 ), um populistische Politiker:innen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Basic Talk unterscheide sich vom intellektuell unterfütterten High Talk durch kurze Sätze, Einfachheit, fehlende Originalität, Langsamkeit und eine hohe Lautstärke (Molder 2024: 41 ). Als Beispiel für erfolgreichen Basic Talk nennt Molder einen Schlagabtausch zwischen Alice Weidel und Marie-Agnes Strack-Zimmermann, in dem die FDP-Politikerin der AFDlerin Weidel gekonnt mit einfachen Phrasen wie „Machen Sie’s konkret“, die sie gleich viermal wiederholte, konterte. Obwohl sich diese Auseinandersetzung letztlich als rhetorisches Nullsummenspiel, das inhaltsleer verbleibt, zusammenfassen lässt, schätzt Molder sie als erfolgreich ein. Ist es womöglich lediglich inhaltsleere Rhetorik, die heutige politische Diskurse überhaupt noch ermöglicht? Oder weisen Publikationen wie Molders Gastbeitrag oder auch sein Buch Mit Ignoranten sprechen: Wer nur argumentiert, verliert (2019) nicht vielmehr darauf hin, was heutigen Demokratien vor allem fehlt: Räume, in denen ernstgemeinte Diskurse stattfinden können, in denen die Sprechenden sich miteinander austauschen und aufeinander eingehen. Ebensolche Räume intendiert die Demokratieplattform: Platz_nehmen zu schaffen, die in der von Martin Krenn und Melanie Prost herausgegebenen Publikation mit demselben Titel detailliert dokumentiert und anhand zahlreicher verschiedener Aufsätze, Interviews und Stellungnahmen multiperspektivisch weitergeführt wird. Die Plattform wird durch eine Raumskulptur gebildet, die Studierende des von Martin Krenn geleiteten Studiengangs Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) selbst bauten. Ganz in der Tradition des Animatographen von Christoph Schlingensief sollte diese Raumskulptur auf verschiedenen Plätzen errichtet werden, um dort eine Möglichkeit des Dialogs mit der lokalen Bevölkerung zu eröffnen. Während die Plattform zum ersten Mal im September 2021 auf dem Wollmarkt im Braunschweiger Stadtzentrum zum diskursiven Austausch einlud, wanderte sie in den nächsten Monaten auch in den Interkulturellen Garten, auf den Vorplatz der HBK sowie vor das Braunschweiger Rathaus (Krenn/Prost 2023: 22 ). Dabei entstanden urbane Partnerschaften mit zivilgesellschaftlichen Bündnissen wie Quartier:Plus, dem Bündnis gegen Rechts Braunschweig sowie Amo – Braunschweig Postkolonial e.V. „Demokratie“, so konstatieren Krenn und Prost, sei „offensichtlich keine Selbstverständlichkeit: Sie ist konfliktreich und muss permanent ausgehandelt, wiedererrungen und verteidigt werden“ (Krenn/Prost 2023: 24 ). Die von ihnen veröffentlichten Beiträge intendieren dementsprechend, „einen Raum für eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Demokratie als Voraussetzung für ein gerechteres Zusammenleben [zu schaffen], fragen nach der Rolle von Kunst in diesem Prozess und betonen die Notwendigkeit, den aktuellen Stand der Demokratie beständig kritisch zu reflektieren“ (Krenn/Prost 2023: 24 ). Damit stehen sie in der Tradition der sozial engagierten Kunst und knüpfen an Krenns eigene Kunstpraxis an – exemplarisch seien hier Democracy and Welfare for All (2009) und das digitale Interview-Projekt The Political Sphere in Art Practices (2013–2016) genannt. Die Frage, auf welchen Demokratiebegriff die Demokratieplattform: Platz_nehmen rekurriert, wird jedoch nicht adressiert und bleibt auch in der Publikation unbeantwortet. Wie wichtig ein „demokratische[s] Referenzmodell“ (Merkel 2016 ) jedoch ist, betont der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Denn es hängt eben von diesem Referenzmodell ab, welchen Stellenwert Partizipation und Austausch innerhalb des Demokratieverständnisses einnehmen. Während eine „minimalistische Demokratiedefinition“ sich vor allem auf die „formal-demokratische Korrektheit der Wahlen“ (Merkel 2016 ) fokussiere, spiele Partizipation bei radikaldemokratischen Ansätzen eine viel wichtigere Rolle. Merkel schlägt das Modell der „eingebetteten Demokratie“ als „Basiskonzept“ vor, das „die Demokratie als ein Gesamtsystem von interdependenten Teilregimen“ versteht (Merkel 2016 ). Folgen wir Merkels Theorie einer eingebetteten Demokratie, wird deutlich, dass sich das Braunschweiger Kunstprojekt vor allem im Bereich der Partizipation ansiedelt. Indem es versucht, neue Diskursräume zu eröffnen, möchte es ebendiesen Austausch zwischen Communities ermöglichen, die jüngst höchstens noch im Basic-Talk-Schlagabtausch miteinander ins Gespräch kamen. Gezielt sollen dabei marginalisierte Communities angesprochen werden, da Studien zeigen, dass sich Partizipation weniger auf sie, sondern vor allem auf die „oberen zwei Schichten“ bezieht (Merkel 2016 ). Laut Merkel sind es „nicht die Mittelschichten, sondern die unteren Schichten, die aussteigen. Letztere haben sich längst aus der politischen Teilnahme entfernt. Die entwickelten Staaten sind hinsichtlich der Partizipation in der Zweidritteldemokratie angekommen. Man könnte das ignorant als eine fast unvermeidliche Elitisierung der Politik in Zeiten der Komplexität abtun. Die Ignoranz dürfte aber aufhören, wenn diese bildungsferneren Schichten stärker von rechtspopulistischen Parteien mobilisiert werden können“ (Merkel 2016 ). Interessant wäre es, mehr darüber zu erfahren, ob ebendieses Erreichen jener Communities erfolgreich war oder ob die partizipierenden Akteur:innen aus der Öffentlichkeit, die auf der Demokratieplattform „Platz nahmen“, eher dem gebildeten Bürger:innentum zugeordnet werden. Während dies offenbleibt, zeugen aber die in der Publikation veröffentlichten Interviews, bspw. mit Ayat Tarik, Gründerin des gemeinwohlorientierten Quartierentwicklungsprojekts, oder mit der Architekturprofessorin und ehemaligen Kandidatin für das Braunschweiger Oberbürgermeister:innenamt Tatjana Schneider, von einem Bewusstsein für die sozialen Anliegen in einem urbanen Umfeld, das demokratische Prozesse innerhalb der Stadtplanung und Gestaltung egalitärer ausformen will. Einen besonders wichtigen Akzent setzt dabei der Aufsatz der Jugendbildungsreferent:in Mimi Lange, der sich mit der Vereinnahmung des Stadtraums durch rechte Bewegungen beschäftigt, deren Strategie „kontinuierliche Vereinzelung, Einschüchterung und Zermürbung“ von Andersdenkenden zum Ziel habe, „um Widerstand zu minimieren und daraus gleichzeitig durch enthemmte Gewaltausübung Stärke zu ziehen“ (Lange, in Krenn/Prost 2023: 38 ). Dementsprechend plädiert sie für das „Schaffen und Ausgestalten von gemeinsamen (Frei-)Räumen fernab von Konkurrenz und egoistischer Verwertungslogik“ (Lange, in Krenn/Prost 2023: 41 ), was sie als zentral für die „Praxis und Notwendigkeit außerparlamentarischer Demokratiestärkung“ (Lange, in Krenn/Prost 2023: 41 ) erachtet. Genau solche Räume initiiert die Demokratieplattform, deren urbane Funktionalität und Anpassungsfähigkeit Rahel Puffert in ihrem Beitrag detailliert herausarbeitet (Puffer, in Krenn/Prost 2023: 30 ). Als besonders positiv bewertet sie die Möglichkeit der Plattform, „Gegenwartsbewusstsein darin zu beweisen, das politisch Notwendige zu tun, ohne die präzise Suche nach der künstlerischen Form zu vernachlässigen“ (Puffer, in Krenn/Prost 2023: 33 ). Eine besondere Verantwortung besteht dabei darin, in einem rassismuskritischen Bewusstsein diese öffentlichen Räume zu gestalten. So erfahren die Leser:innen aus dem Erfahrungsbericht von Céline Bartholomaeus und Jamila Mouhamed, dass es keine rassismusfreien Räume gebe. Denn, wie Jamila Mouhamed betont, der öffentliche Raum wurde nicht für „BiPoC konzipiert, sondern aus einer und für eine normprivilegierte weiße Gesellschaft“ (Mouhamed, in Krenn/Prost 2023: 51 ). Lina Winter beschreibt in ihrem Beitrag, wie Alltagssituationen im öffentlichen Raum aus transweiblicher Perspektive wahrgenommen werden. Zusätzlich zu diesen Beiträgen ermöglichen zahlreiche Abbildungen der im Rahmen der Demokratieplattform veranstalteten Kunstaktionen und Performances auch denjenigen Leser:innen einen guten Einblick in das Projekt, die selbst nicht daran teilnehmen konnten. Gäbe es mehr solcher Demokratieplattformen in und außerhalb Deutschlands, würde Molders oben erwähntes Plädoyer für mehr „Basic Talk“ schnell widerlegt. Was wir und unsere Demokratien ermöglichen, ist eben kein inhaltsleerer „Basic Talk“, sondern die Möglichkeit des Austausches, des Diskurses, des Teilens von Erfahrungswissen. Wie künstlerische Aktionen zu ebensolchem Austausch beitragen können, beweist die Demokratieplattform eindrücklich. Dr. in Sarah Hegenbart ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität München. Vor ihrer Promotion am Courtauld Institute of Art in London absolvierte sie einen Master of Studies in Ancient Philosophy an der University of Oxford und einen Magister in Philosophie und Kunstgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie Mainz und des Konsortiums des Horizon-2020-Forschungsprojekts „Art and Research on Transformations of Individuals and Societies“. Literatur: Krenn, Martin / Prost, Melanie (Hrsg.), 2023. Demokratieplattform: Platz_nehmen. Beiträge über Kunst, zivilgesellschaftliches Engagement und die Aneignung von urbanem Raum. Marburg: Jonas Verlag Merkel, Wolfgang, 2016. Krise der Demokratie? Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff. In: APuZ, 30.09.2016, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/234695/krise-der-demokratie/ (12.03.2024) Molder, Peter, 2024. Wie man sich gegen Trump behauptet. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 58, 9./10. März 2024, S. 41 01 02 03
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ART PROJECT IN THE CONTEXT OF THE 75TH ANNIVERSARY AT THE LOWER SAXONY STATE PARLIAMENT Projection of video statements https://enlightening-the-parliament.de QUESTION POOL The questions are divided into two blocks "Threatened Democracy" and "Possible ways to save Democracy '', as well as many sub-points. The footnotes refer to studies and texts on which the questions are based on. YOUR STATEMENT: Choose three (or more) questions from the pool that you find important and prepare your statements on them. You are also very welcome to suggest new questions, which seem essential to you. THREATENED DEMOCRACY Equality Democracy, as the promise of equality [1] creates, as Hannah Arendt describes, Islands of certainty and predictability in an ocean of uncertainty [2]. Is this promise still being redeemed today or did it lose its credibility? What is the democracy of your country most threatened by? Which function does art fulfil towards democracy? What is its task? Does democracy need art and does art need democracy? Democracy ceases to exist, as soon as it becomes legitimate to violate human rights in its name. To what extent are Western democracies aware of this problem?[3] Many people share the opinion that the gap between the political elite and the citizens is too wide [4] Do you also hold this view and how do you think this gap could be closed? Right-wing populism and extremism Do you see a correlation between the growing influence of right-wing populism [5] and right-wing extremist violence [6]? Do you witness an increase of far-right/new right ideology fragments amongst the people in your surroundings? Decreasing voter turnout In many countries, the voter turnout decreased drastically within the last decades (in Germany it went from 91,1% in 1972 down to 76,6% in 2021 [7] [8]). What do you think are the reasons for this development? Dominance culture and discrimination The notion of “dominance culture” (Dominanzkultur) points out that racism is not only the problem of small neo-nazi groups in German’s Nazi history. The notion of the dominance culture emphasises [9] that “The powerful, as well as the powerless, are racist oriented if they have grown up in this society and have not learned to consciously distance themselves from it” [10]. What do you think about this statement? “I think that education, under our circumstances, is an existential necessity because democracy is the only form of government that has to be learned” [11]. What has to be done so that this continuing process of learning can be maintained? Gayatri Chakravorty Spivak advocates "unlearning one's privilege as one's loss". Meant by that is a critical praxis that thinks democratization and decolonization together. What does the majority of society have to unlearn to create space for more justice? [12] Lost middle class: anti-democratic positions in society In Germany, as well as in other western countries, a large part of the population is in favour of democracy as a form of government, but at the same time believes in the idea that some groups of the society are less equal than others. [13] Can this contradiction be observed in your own environment? Decreasing trust in the political system According to a study by the Friedrich Ebert Foundation (Germany 2020), 80 per cent of the survey respondents have little or no trust in political parties. 60 per cent have even lost confidence in the German federal government. What is the cause of this and how should it be addressed? Loss of power of parliaments About half of the German population thinks that politicians are just marionettes that are controlled by hidden powers (especially by the economy) [14] . How do you evaluate this claim? How does such a belief promote conspiracy theories? The supposed principle that the “free market” is a salvation for the just distribution of wealth still resonates. Others see it as an illusion and argue that “neoliberal illusions about the nature of markets, and their supposed benign operation to secure fair distributions of new wealth, have obscured some of the most blatant inequalities, or underplayed their significance because things will work out in the end.”[15] . What position should politics take in this context? Is there an imbalance in the democratic processes, which favours the government over the parliament? Globally operating corporations are continually gaining power and political influence. Relationships between corporations and the state, as well as states among themselves, are thus becoming more complicated and harder to see through. What does this mean for the welfare state? [16] “We will not win the battle against xenophobic populism without tackling the justified sense of neglect felt by many working- and middle-class people.” [17] Do you agree with this statement and how can the fight on these two fronts be fought? Missing representation Do political parties reflect the diversity of society in your country [18] [19]or is there a representational crisis of democracy? How does this show? Intransparent politics Where can non-transparent politics be witnessed and how much does it threaten democracy? According to a German study, forty-two per cent of the survey respondents think that “in the current political system it's not possible to freely voice one’s opinion” [20]. What consequences must be drawn from this? Do you share this opinion and how do you define freedom of speech in society? Fake news and missing trust in the media In a study of the Bosch-Foundation from 2021, fifty-three per cent of German survey respondents agreed to the statement: “The media is pursuing its own intentions instead of reporting the facts” [21]. Where do politics and the media have to start to diminish the (partly justified) alarming doubts in reporting/media coverage? Social media and digital communication technologies offer broad and quite easy access to information and “convey the impression that their views and actions matter” [22]. In “Web 2.0” however, an increase in hate messages can be witnessed as well. Do policymakers recognize the danger of radical polarization and depoliticization of society arising from this? Do they respond adequately? POSSIBLE WAYS TO SAFE DEMOCRACY Participation in representative structures In 2021, 14 per cent of adults in Germany were not allowed to vote on the federal level. [23] How can this imbalance in participation be counteracted? Should the right to vote be granted to non-EU citizens that are living in Germany/your country? Should the right to vote be granted, at least on the municipal level, to non-EU citizens (EU citizens are entitled to do so [24]), if so under what conditions? Radicalization of Democracy Political theorist Chantal Mouffe advocates the concept of agonistic pluralism as a form of a radical democracy, which emphasises the positive aspects of political conflict. Democracy is described as a field of struggle in which one must have the opportunity to act out the differences and different interests with the others. However, the others should be seen as opponents and not as enemies. To what extent does the model of Citizens' assemblies fulfil or contradict this idea of a radical democracy? [25] According to Chantal Mouffe, " Society is divided and crisscrossed by power relations and antagonisms, and representative institutions play a crucial role in allowing the institutionalization of this conflictual dimension." [26] How must institutions be changed to serve this function? Participatory forms of involvement (e.g. civil dialogue) What examples of civic involvement, which has contributed to politically sustainable solutions come to your mind? [27]? What steps must policymakers take to ensure that the public's desire for more participation [28] [29] [30] is met more effectively? How can barriers be reduced to participate in civic involvement, such as the initial "fear" that "one's abilities would not be sufficient for the complexity of the issues"?[31] Citizens' assemblies [32] What method of lottery procedure was chosen for the composition of your Citizens' assembly? Describe the most important experience you have had as a member of a Citizens' assembly? How did a Citizens' assembly come into being in your country/region? [33] What real political effects on society has the Citizens' assembly in which you took part? Should the Citizens' assembly model be institutionalized, and to what extent should parties be forced to take a position on the recommendations of the respective citizens' assembly? [34] In times of an "increasingly hateful" debate climate that is no longer oriented toward compromise, most members of a citizens' assembly report that they have experienced a very factually conducted debate. [36] Does this coincide with your experience? Members of a Citizens' assembly proposed measures that put the general interest above their personal benefit (e.g., reducing the tax rate, strong environmental laws).[37] Did the Citizens' assembly in which you participate make similar demands, and how did recommendations of this type come about? Social issues How can the fact that educationally disadvantaged and socially disadvantaged groups are less reached by civic participation[38] be addressed concretely? [39] Communication with all participants at eye level How should mediation and information in the Citizens' assembly be structured so that communication between all citizens involved can take place at eye level? Creating transparency What factors must be taken into account to ensure that civic participation is transparent? [41] Which methodological approach[42] should be taken by Citizens' assemblies to create transparency? What factors must be taken into account to ensure that the processes in parliaments and governments are more transparent? Is there still a need to catch up here? How did you experience the role of the mediator in your citizens' council? Feedback and reflection What forms of feedback and reflection should be institutionally embedded in a Citizens' assembly or other forms of citizens' participation? [43] What could a European network of citizens' assemblies look like and how could it reflect on global issues? Should there be a European Citizens' Council? Endnotes (German) [1] In der „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung 2018/19 waren zum Beispiel 36 Prozent der Befragten der Meinung, man könne im nationalen Interesse nicht allen Menschen die gleichen Rechte gewähren. https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69084 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [2] vgl. Arendt Hannah 1960: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart [3] Rainer Forst: „Wer etwa sagt, dass Menschen mit gleicher Würde geboren werden, wie es in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung steht, der weiß ja zugleich, dass dieser Satz empirisch ganz falsch ist, weil es nirgendwo so ist. Aber lässt das diesen Satz falsch werden? Die Philosophie muss aufklären, wie er zugleich falsch und unumstößlich richtig sein kann.“ https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/rainer-forst-politik-ohne-vernunft-fuehrt-ins-verderben-90822595.html (Zugriff: am 5. Jänner 2021) Rainer Forst: „Wenn Leute versuchen, den Begriff der Demokratie populistisch umzudeuten, muss man irgendwann sagen, das hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Aber nicht zu sagen, auch hier gibt es einen Widerspruch zwischen Menschrechte und Demokratie, in dem Moment ist man ihnen ein Stück weit auf den Leim gegangen, weil man ihnen den Begriff der Demokratie überlassen hat.“ https://youtu.be/wqLFMevtutk?t=3429 ) (Zugriff: am 5. Jänner 2021) Georg Lohmann: „Demokratie und Menschenrechte sind aufeinander verweisende politische Ideen. Historisch wurden in Amerika und Frankreich die Menschenrechte zugleich mit den Gründungsaktien der modernen Demokratien deklariert. Die revolutionären Gründungen der modernen Demokratien verstehen sich als Umsetzung, als Verwirklichung der jedem Menschen zustehenden Menschenrechte. Die neue Staatsform der Demokratie soll die Menschenrechte schützen und sichern.“ https://www.jstor.org/stable/43593865 (Zugriff: am 2. Februar 2022) https://www.jstor.org/stable/43593865 (Zugriff: am 10. Februar 2022) [4] Patrizia Nanz, Charles Taylor, Madeleine Beaubien Taylor, Das wird unsere Stadt, Edition Körber, Hamburg 2022 [5] „Die völkisch-rassistische Ideologie des klassischen Rechtsextremismus zeigt sich ganz ähnlich auch bei der »Neuen Rechten«, die enge Beziehungen in den rechtsextremen ‚Flügel‘ der AfD unterhält. Am bekanntesten ist hier die selbsternannte ‚Identitäre Bewegung‘“ https://www.deutschlandundeuropa.de/79_20/demokratie_krise.pdf#page=79 (Zugriff: am 11. Februar 2022) [6] In den „Attentaten von Halle und Hanau, die sich in eine ganze Reihe furchtbarer Anschläge von Utøya, El Paso bis Christchurch einreihen, zeigt sich die Verachtung von Würde und Gleichwertigkeit von Menschen in extremster Form.“ https://www.deutschlandundeuropa.de/79_20/demokratie_krise.pdf#page=79 (Zugriff: am 12. Februar 2022) [7] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2274/umfrage/entwicklung-der-wahlbeteiligung-bei-bundestagswahlen-seit-1949/ (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [8] „Mangelnde Beteiligung bei Wahlen ist häufig ein Indiz für Kritik am demokratischen System oder Politikverdrossenheit.“ https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69083 (Zugriff: am 11. Februar 2022) [9] Vgl.: Kastner, Jens, Susemichel Lea, Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken 2019 [10] Rommelspacher, Birgit, Rechtsextremismus und Dominanzkultur, vgl. Kastner, Jens, Susemichel Lea, Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, 2019 [11] Negt, Oskar, Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen, in: Positionen der politischen Bildung, Schwalbach 2004, S. 197 [12] Vgl.: http://www.migrazine.at/artikel/un-wissen-verlernen-als-komplexer-lernprozess (Zugriff: am 11. Februar 2022) [13] Die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Ein Großteil befürwortet Demokratie als Staatsform, zugleich hat jedoch ein Anteil derselben Befragten ein illiberales Verständnis von Demokratie und vertritt Vorstellungen der Ungleichwertigkeit diverser Bevölkerungsgruppen. https://www.deutschlandundeuropa.de/79_20/demokratie_krise.pdf#page=79 , S. 82 (Zugriff: am 2. Februar 2022) [14] https://youtu.be/OnfSq1uruMo?t=244 (Zugriff: am 11. Februar 2022) [15] Die Illusion der neoliberalen Ideologie, dass es das Wesen der freien Märkte sei, für eine auf Leistung basierende gerechte Verteilung des neuen Reichtums zu sorgen, verschleiert die katastrophalen Ungleichheiten und die nachhaltige Schädigung der Umwelt, die der Kapitalismus hervorbringt. Vgl. Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 2 [16] Populistische Parteien bieten Menschen, die sich deshalb von der Politik vergessen fühlen, politische Alternativen an. Insbesondere Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten kritisieren nicht nur die Eliten, sondern sprechen sich auch für eine nationale Abschottung und gegen Globalisierung aus. https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69083 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [17] Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 2 [18] In den letzten Jahrzehnten hat sich sowohl bei den Bürger:innen, als auch in demokratischen Institutionen ein individualisierter Freiheitsbegriff etabliert. In einer fragmentierten Gesellschaft fällt es politischen Parteien zunehmend schwerer ein Allgemeinwohl zu formulieren, welches mehr ist als ein Aufsummieren von Einzelinteressen https://www.derstandard.at/story/2000131822761/die-individualisierung-des-allgemeinwohls (Zugriff: am 10. Februar 2022) [19] In einer fragmentierten Gesellschaft können die älteren Parteien die zunehmend individueller werdenden Meinungen nicht mehr integrieren. Die Parteien spiegeln außerdem nicht die Vielfalt der Gesellschaft wider. https://www.lpb-bw.de/krise-der-demokratie#c69083 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [20] Vgl. Studie der Bosch-Stiftung „Beziehungskrise? Bürger und ihre Demokratie in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und den USA“, S. 22 [21] Vgl. Studie der Bosch-Stiftung „Beziehungskrise? Bürger und ihre Demokratie in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und den USA“, S. 23 [22] Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, S3, 2020 [23] https://politik.watson.de/deutschland/analyse/570366330-bundestagswahl-wer-in-deutschland-kein-wahlrecht-hat-und-wer-es-einfordert (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [24] Das Grundgesetz schließt die Teilnahme von Ausländerinnen und Ausländern an Wahlen sowohl auf der staatlichen als auch auf der kommunalen Ebene grundsätzlich aus (vgl. BVerfGE 83, 37, 59 ff.). Die Ausnahme bilden EU-Bürger:innen, die auf der kommunalen Ebene an Wahlen teilnehmen dürfen. https://www.bmi.bund.de/DE/themen/verfassung/wahlrecht/auslaenderwahlrecht/auslaenderwahlrecht-node.html (Zugriff: am 26. Jänner 2022) [25] Chantal Mouffe: „Das Ziel ist nicht, den Staat zu erobern, sondern, wie Gramsci es formuliert, ‚Staat zu werden‘.“ Mouffe, Chantal, Für einen linken Populismus. Suhrkamp Verlag, 2018 [26] Mouffe, Chantal, Für einen linken Populismus. Suhrkamp Verlag, 2018 [27] Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 72 [28] Eine repräsentative Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 zeigt, dass nur noch 47 Prozent der befragten Deutschen damit zufrieden sind, wie die Demokratie funktioniert. Vier von fünf Befragten befürworteten allerdings die Idee, dass Bürgerinnen und Bürger den Bundestag mittels Volksinitiativen auffordern können, sich mit bestimmten Themen zu befassen. Auch befürwortete mehr als die Hälfte die Idee, dass zufällig ausgewählte Gruppen verschiedene Themen diskutieren und dem Bundestag dazu Vorschläge machen sollten. [29] Die Menschen in Deutschland haben laut EU-Barometer 2020 ein vergleichsweise hohes Vertrauen in die EU sowie in die nationale Regierung und das nationale Parlament. Doch auch die Ergebnisse dieser Umfrage deuten auf die positive Wirkung von Bürgerbeteiligung hin: So stimmten 2020 75 Prozent der Eurobarometer-Aussage zu, dass eine stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die Entscheidungsprozesse ihre Motivation steigern würden, bei der nächsten EU-Wahl wählen zu gehen. https://www.lpb-bw.de/beteiligung#c62090 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [30] “More than ever, citizens want to engage in shaping the circumstances of their lives, whether with regard to urban districts, local communities, or regions, or to plans for the public sphere. They are searching for new modes of political participation and demand direct involvement—with increasing success.” Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 56 [31] https://www.heidelberg.de/site/Heidelberg_ROOT/get/documents_E-1993975137/heidelberg/Objektdatenbank/12/PDF/B%C3%BCBe/pdf_12_%20Intensivinterviews_Fritz%20Thyssen%20Projekt.pdf (Zugriff: am 28. Jänner 2022) [32] „Das Besondere an Bürgerräten ist, dass die Teilnehmenden zufällig aus der Bevölkerung ausgelost werden. Akademiker sitzen dort neben Handwerkerinnen, Rentnerinnen neben Jugendlichen, hier geborene Menschen neben Zugewanderten. Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam Lösungen für politische Probleme vorzuschlagen. Diese Empfehlungen werden dem jeweils zuständigen Parlament oder Gemeinderat zur Beratung vorgelegt.“ [33] Mit Hilfe der Atlantic Philanthropies Foundation organisierten die Politikwissenschaftler:innen David Farrell und Jane Suiter im Juni 2011 eine Bürgerversammlung unter dem Titel "We the Citizens". Einhundert irische Bürgerinnen und Bürger unter der Leitung eines Moderator:innenteams diskutierten Fragen zur Reform und Steuerpolitik in Irland. In der Folge wurden die Ergebnisse der ersten Versammlung an die Parlamentarier weitergegeben, einschließlich der Idee einer landesweit organisierten Bürgerversammlung. Die Irish Citizens’ Assembly war geboren.“ Vgl. Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020 [34] Die Irish Citizens’ Assembly veranlasste 2013 Irlands damaligen Premierminister ein Referendum gleichgeschlechtliche Ehe einzuleiten. Im April 2013 entschied die Irish Citizens’ Assembly in geheimer Abstimmung über umfangreiche Vorschläge für Verfassungsreformen und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Am 22. Mai 2015 stimmten 62 Prozent der Iren für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, was eine Verfassungsänderung nach sich zog. Vgl.: Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 65 [35] https://www.heidelberg.de/site/Heidelberg_ROOT/get/documents_E-1993975137/heidelberg/Objektdatenbank/12/PDF/B%C3%BCBe/pdf_12_%20Intensivinterviews_Fritz%20Thyssen%20Projekt.pdf , S.16 (Zugriff: am 15. Jänner 2022) [36] Diskurskrise S.131 https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2021-07/Studie_Beziehungskrise_B%C3%BCrger_und_ihre_Demokratie.pdf (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [37] “Surprisingly, citizens argued against tax reduction in their final report. Subsequently, the results of the first assembly were passed on to parliamentarians, including the idea of a nationally organized citizens’ assembly.” Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 64 [38] So zeigt sich, dass es sich trotz Losverfahren bei den Teilnehmenden an Bürger:innenräten um „überdurchschnittlich viele politisch interessierte und informierte“ handeln kann. https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergerrat_ueberblick_zusammenfassung.pdf (Zugriff: am 4. Februar 2022) [39] „Praktisch fühlen sich bildungsferne und sozial benachteiligte Gruppen von anderen Beteiligungsmöglichkeiten keineswegs gleich angesprochen wie beispielsweise von Wahlen. Mehr Beteiligung kann daher statt zu mehr Gerechtigkeit auch zu mehr Verzerrung führen, weil die Teilnahmebereitschaft an Beteiligungsverfahren umso höher und ausgeprägter ist, je höher der formale Bildungsgrad, das Einkommen, der berufliche Status und die persönliche Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist. Alter und Geschlecht spielen ebenfalls eine Rolle.” https://www.lpb-bw.de/beteiligung#c62090 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [40] „But one thing is certain: the desire for participation and the readiness of citizens for political engagement is there and will not dwindle in the foreseeable future.” Charles Taylor, Patrizia Nanz, Madeleine Beaubien Taylor, Reconstructing Democracy, 2020, S. 72 [41] „Das Ziel muss klar benannt worden sein. Die Rahmenbedingungen müssen klar sein: Welche Gestaltungsspielräume gibt es? Wo liegen die Grenzen der Mitwirkung? Wo liegt die Entscheidungshoheit letztendlich? Es muss Klarheit über die verschiedenen Interessen bestehen. Warum wurde gerade dieses Partizipationsverfahren bzw. diese Methode gewählt? Welche Eigenheiten hat es? Ist es für diesen Fall gut geeignet? Informationen müssen frei und umstandslos für alle Teilnehmenden sowie Außenstehende zugänglich sein.“ https://www.lpb-bw.de/beteiligung#c62090 (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [42] Ein methodischer Ansatz wäre es, drei Evaluationskriterien einzuführen: Inklusive Beteiligung, Prozessqualität, Effekte und diese an eine Kombination von fünf Methoden zu koppeln: Vor-/Nachbefragungen der Teilnehmenden zu den Regionalkonferenzen und zum Bürgerrat, Teilnehmende Beobachtungen, Dokumentenanalyse, Interviews mit den Hauptakteuren, Medienanalyse. https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergerrat_ueberblick_zusammenfassung.pdf (Zugriff: am 25. Jänner 2022) [43] „Im Nachhinein muss mindestens den Teilnehmenden rückgemeldet werden, welche ihrer Entscheidungen/Forderungen berücksichtigt wurden, welche nicht und warum.“ https://www.lpb-bw.de/beteiligung (Zugriff: am 25. Jänner 2022)
- Issue 1 Krenn | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 vermittlung vermitteln. Fragen, Forderungen und Versuchsanordnungen von Kunstvermittler:innen im 21. Jahrhundert Buchbesprechung von Martin Krenn „Warum müssen wir als Kunstvermittler:innen immer wieder um die gleichen Themen und Bedingungen bei den Institutionen kämpfen?“ Dies war eine der Ausgangsfragen einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel „vermittlung vermitteln“ der documenta Professur an der Kunsthochschule Kassel, die von November 2018 bis Juli 2020 stattfand. Vor ein paar Monaten ist ein kleiner Sammelband mit demselben Titel erschienen, der Beiträge zu aktueller Kunstvermittlung versammelt. Die Herausgeberinnen Ayşe Güleç, Carina Herring, Gila Kolb, Nora Sternfeld und Julia Stolba beschreiben im Vorwort ihre Zielvorstellungen: Es gehe darum, „Geschichte(n) und Gegenwart(en), Theorie und Praxis, Kritik und Alltag zusammenzudenken“. Dadurch sollten „neue Ansätze imaginiert und mögliche Konvergenzen zwischen historischen emanzipativen Bildungsprojekten und aktuellen post-digitalen Strategien, zwischen Arbeitskämpfen und Zukunftsvisionen, zwischen lokalen Diskussionen in Kassel und transnationalen Vermittlungsdebatten“ hergestellt werden. Die Publikation enthält zehn Beiträge, in denen die Thematik aus verschiedensten Perspektiven diskutiert wird. Die Vielfalt schlägt sich auch in den unterschiedlichen Textsorten nieder: Neben Interviews, einem Forderungskatalog und Projektberichten bildet sogar eine Art Begriffsglossar einen eigenständigen Beitrag. Das ambitionierte Layout betont die Vielgestaltigkeit, indem die Artikel unterschiedlich gestaltet und sogar in verschiedenen Schriftarten gesetzt worden sind. Diese vielen Satzbilder wirken sich allerdings nicht immer positiv auf den Lesefluss aus, zudem ist der Bundsteg (linker bzw. rechter Innenrand der Buchseite) bei einigen Beiträgen etwas zu schmal geraten. Diese kleine Schwäche des Layouts sollte aber nicht davon abhalten, sich in die Lektüre der verschiedenen Positionen zu vertiefen. Alle Beiträge eint nämlich, dass sie emanzipatorisch und selbstreflexiv ausgerichtet sind. Der Forderungskatalog der doc14_workers zeigt gleich zu Beginn auf, dass die prekäre Situation von progressiven und kritischen Kunstvermittler:innen überwunden werden muss und dass es dazu notwendig ist, sich besser zu organisieren. Interviews und Projektberichte geben wichtige Einblicke in historische und gegenwärtige Formen kritischer Kunstvermittlung. Herausgegriffen sei hier ein Gespräch von Claudia Hummmel mit Ayşe Güleç und Gila Kolb. Claudia Hummel verweigert sich der „Anrufung des neoliberalen Bildungssystems, alles neu erfinden zu müssen“, und setzt stattdessen auf das frei werdende Potenzial von Archivfunden. So sollen zum Beispiel längst vergessene Praxen der 1970er-Jahre re-aktualisiert und in neue Praxen für die Gegenwart transformiert werden. Die Wiederaufführung des künstlerisch-edukativen Projektes „Spielclub“ aus den Jahren 1970/71 stellt ein solches Beispiel dar. 50 Jahre nach der Erstaufführung fand nämlich in der Berliner neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK)erneut ein „Spielclub“ mit dem Zusatz „Oranienstraße 25“ statt, in dessen Rahmen eine Arbeitsgruppe mit Kindern und Jugendlichen dem historischen Beispiel folgend spielerisch aktuelle Fragen der Stadtentwicklung kritisch behandeln wollte. Allerdings schien der Versuch, mit den Schüler:innen die Mietproblematiken in der Stadt im Jahr 2019 zu besprechen, auf wenig Gegenliebe zu stoßen, da es die Schüler:innen vorzogen, Fridays-for-Future-Demonstrationen im Rahmen des „Spielclubs“ zu organisieren. Die Offenheit der Künstler:innen und Vermitler:innen, einen solchen Vorschlag anzunehmen und von und mit den Schüler:innen zu lernen, anstatt sie zu belehren, zeichnet aber gerade eine solche Re-Aktualisierung aus. Die Re-Aktualisierung des Projektes „Bauvorhaben Mitmachstadt“ von 1979, das seinerzeit von Studierenden und Lehrenden des „Modellversuchs Künstlerweiterbildung“ entwickelt worden ist, ist ein weiteres Beispiel für Claudia Hummels kunstvermittlerischen Re-Aktualisierungsansatz. Im Rahmen des Projektes „Kontext Labor Bernau“ re-inszenierte sie die Mitmachstadt, um „Fragen von Privatisierung und Kapitalisierung von Stadt“ 2015 erneut zu stellen. Mehrere Tonnen von rohem Ton wurden dafür nach Bernau gebracht und im Zeitraum von drei Monaten wurde mit Bernauer Schulklassen und bis zu 700 Stadtbürger:innen ein Modell geknetet, „Privatisierung gespielt, Stadtteile wieder abgerissen und die Nutzung in Workshops verhandelt“. Am Ende stellte sich heraus, dass die Bernauer:innen zwar kein großes Problem mit Privatisierung hatten, allerdings durch das Knetprojekt auf das Defizit eines fehlenden Kinderkunstortes aufmerksam wurden, was dazu führte, dass bei der Projektabschlussveranstaltung beschlossen wurde, eine dauerhafte Kinderkulturstädte in Bernau zu schaffen. Am Ende des Bandes überrascht schließlich das Wiener Kollektiv trafo.K mit einer kommentierten Begriffssammlung, die sich dem Phänomen von sogenannten Buzzwords im neoliberalen Kulturbetrieb entgegenstellt und das Ziel verfolgt, Begriffe, die zunehmend „leer und schal“ erscheinen, für kritische Vermittlung zurückzuerobern und wieder nutzbar zu machen. Das letzte Wort der Auflistung ist „Zugang“ und trafo.K fragen, inwieweit „Kultur für alle“ ein Leitmotiv der kritischen Kunstvermittlung sein kann: „Zurecht sagten uns Jugendliche, mit denen wir arbeiteten: ‚Nur weil ihr uns ausschließt, müssen wir da nicht rein wollen!‘ oder ‚Ich gehe nie in Museen, die sind nicht für mich gemacht.‘ Das wollen wir ernst nehmen.“ Die gelungene Zusammenstellung von wesentlichen Themen und Fragestellungen der Vermittlung, die in den Beiträgen zum Teil auch konkret behandelt werden, macht dieses kleine Büchlein zu einer wahren Fundgrube für all jene, die nach neuen progressiven kunstvermittlerischen Praxen Ausschau halten. „vermittlung vermitteln. Fragen, Forderungen und Versuchsanordnungen von Kunstvermittler:innen im 21. Jahrhundert“ kann direkt beim Verlag nGbK – neue Gesellschaft für bildende Kunst bestellt werden und kostet 9,50 Euro. vermittlung vermitteln. Fragen, Forderungen und Versuchsanordnungen von Kunstvermittler:innen im 21. Jahrhundert Bild: Martin Krenn Anker 2 Anker 3
- Issue 1 Bartel | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Ein Gespräch mit Sebastian Bartel über Kunstvermittlung und künstlerische Praxis Geführt von Marius Raatz und Claas Busche Sebastian Bartel ist Künstler und Kunstvermittler und an unterschiedlichen Häusern tätig. Das Gespräch mit ihm dreht sich um Begriffe wie Zugänglichkeit und lernendes Museum sowie um das Potenzial von Partizipation zur Aneignung von Kunst. Inwieweit ist Kunstvermittlung für dich auch eine künstlerische Praxis? Da werde ich kurz was zu meiner Biografie sagen: Ich habe Kunst auf Lehramt studiert und freie Kunst an der HBK im Anschluss, weil mir klar war, dass ich nicht an einer Schule Kunstlehrer werden möchte. Und im zweiten Studium der freien Kunst habe ich tatsächlich viel in musealen Kontexten in der Kunstvermittlung gearbeitet und gleichzeitig meine eigene künstlerische Arbeit in den Fokus gestellt. Ich trenne das für mich ein bisschen: In meiner künstlerischen Arbeit ist es nicht so, dass ich ständig vermittelnde Aspekte mitdenke oder dass ich dort Verknüpfungen mache. Es gibt aber in der Kunstvermittlung sehr viele Momente, viele Ereignisse, Erfahrungen, die ich gesammelt habe zum Beispiel mit Studierenden, Schüler:innen, Lehrer:innen und Erwachsenen in unterschiedlichsten Kontexten, in denen meine eigene künstlerische Tätigkeit wichtige Impulse liefert; dadurch begreife ich die Initiierung künstlerischer Prozesse als wichtigen Bestandteil der Kunstvermittlung. Daher hat mein künstlerisches Handeln oft Einfluss auf meine Vermittlungstätigkeit. Es geht um künstlerische Abläufe, künstlerische Strategien und das Wissen um Qualitäten und Potenziale künstlerischer Schaffensprozesse, die ich für meine Vermittlungstätigkeit nutze. Was bedeutet für dich Zugänglichkeit im Zusammenhang mit Kunstvermittlung? Ich denke, Zugänglichkeit ist ein sehr wichtiges und interessantes Stichwort. Dies ist jedoch ein Begriff, der sehr vielfältig ist und in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Es gibt zum Beispiel den räumlichen Zugang oder die Frage danach, wie Interesse an Kunst geweckt werden kann. Und warum gibt es Menschen, die das Museum oder Kunsträume überhaupt nicht betreten wollen oder können, welche Barrieren gibt es? Ist der Zugang attraktiv gestaltet? Wie entsteht erst mal der Kontakt mit den Besucher:innen? Und da sind natürlich Museen gefragt, zeitgemäße Strategien zu entwickeln, sowohl im Analogen als auch im Digitalen. Gibt es einen barrierefreien Zugang für Menschen mit Behinderung? Was erwartet die Besucher:innen innerhalb der Institutionen und wie kann man diese Institution gestalten, sodass viele Menschen Zugang bekommen? Was bedeutet für dich der Begriff lernendes Musum? Wie kann das autoritative Museum in ein lernendes Museum transformiert werden? Also wenn eine Institution lernt, bedeutet das für mich, dass sie reflexiv vorgeht, dynamisch ist und sich verändern kann. Die Institution ist gefragt, ihre eigenen Inhalte, Grundsätze oder Haltungen in diversen Kontexten zu reflektieren, zu modifizieren und zu transformieren. Oder, dass man selbst das Gefühl hat, dass die Institution etwas von ihren Besucher:innen lernen will. Sie kann sich bestimmten gesellschaftlich wichtigen Fragestellungen/Themenstellungen widmen und sich dahingehend selbst überprüfen, welche Haltung sie eigentlich vertritt. Welche Bedingungen muss ein Museum/eine Institution erfüllen, um ein lernendes Museum zu sein? Ich denke, dass es eine enge Verbindung zwischen allen Bereichen im Museum geben muss, also zwischen Vermittlungs- und kuratorischen Tätigkeiten, und gleichzeitig benötigt das Haus ein gut aufgestelltes Team, also sowohl qualifiziertes Personal als auch ausreichend Personal, um Strukturen, die man gemeinsam für Ausstellungen und Präsentationen plant, organisieren und umsetzen zu können. Darüber hinaus braucht die Institution natürlich auch eine Struktur, die Bedarfe und Anregungen der Besucher:innen ermittelt, aufbereitet und diese in Arbeitsprozesse mit einfließen lässt. Wie hängen Partizipation (Möglichkeit auf aktive Teilnahme) und Zugänglichkeit zusammen? Ich denke, ich habe schon in der zweiten Frage versucht, auf den Bezug der Zugänglichkeit einzugehen. Zunächst muss man sich fragen: Was motiviert oder was interessiert die Besucher:innen? Ich denke, dass über den Weg der Partizipation sich die Besucher:innen ernst- und wahrgenommen fühlen. Partizipation ist eine Möglichkeit, selbst Erfahrungen zu machen, sich mit der Kunst zu stimulieren, mit der Umwelt, mit sich selbst, der Gesellschaft und verschiedensten Themen und Fragestellungen auseinanderzusetzen. Durch die Partizipation werden andere Zugänge und Blickwinkel möglich gemacht, da die Besucher:innen die Möglichkeit haben, gestaltend einzugreifen und an den Prozessen beteiligt und in sie integriert zu werden. Aufgrund ihrer eigenen Biografie sind für die partizipierenden Besucher:innen der Bezug und die Nähe zu der Institution, zu den Inhalten und Themen ganz andere, als wenn sie auf die Rolle der passiven Betrachter:innen reduziert werden. Vermittlungskonzepte in Museen oder Ausstellungen sollten im besten Fall im Austausch mit Besucher:innen weiterentwickelt werden- Soll Kunstvermittlung in Museen möglichst autonom gehalten werden oder soll sie sich der kuratorischen Ausrichtung der jeweiligen Institutionen unterordnen? Dieser Punkt wird innerhalb der Institutionen stark diskutiert – inwiefern die Vermittlung eine untergeordnete Stellung einnimmt und tatsächlich eher als Dienstleister für die wissenschaftliche Aufbereitung oder kulturwissenschaftliche Aufbereitung eines Themas fungiert. Ich glaube, dass die Kunstvermittlung ein großes Potenzial hat, das für eine Institution sehr interessant sein sollte. Und ich glaube, es gibt unterschiedlichen Bedarf. Es gibt tatsächlich den Bedarf von Besucher:innen, über eine inhaltliche, wissenschaftlich fundierte Analyse des Themas des Künstlers oder der Künstlerin an die Arbeit/das Werk heranzugehen, beispielsweise durch Ausstellungstexte oder Ähnliches, was vollkommen okay ist. Ich glaube allerdings, dass wir mit den Angeboten, die wir für Schüler:innen, Studierende usw. entwickelt haben, als Vermittler eine gute Arbeit leisten, im Sinne von Barrieren abzubauen, Interesse zu wecken und für die Auseinandersetzung mit Kunst und deren Potenzialen zu sensibilisieren, also Zugänglichkeit zu erhöhen. Außerdem finde ich es total spannend, wenn es Prozesse gibt, die angestoßen werden, in denen Menschen außerhalb der Institutionen oder Museen eben auch transformative Prozesse einleiten können und sich dann möglicherweise andere Dinge daraus ergeben, zum Beispiel neue Formen der Präsentation, Produkte digitaler oder analoger Art, die dann wieder für die vermittlerische Tätigkeit genutzt werden können. Welche anderen Orte brauchen deiner Meinung nach Vermittlungsarbeit, wo sie bisher noch gar nicht oder nur bedingt stattgefunden hat? Ich habe neulich bei einem rassismuskritischen Workshop teilgenommen und die Workshop-Leiter:innen haben ganz stark auf den städtischen Raum verwiesen und auf die Prozesse und Dinge, die damit im Zusammenhang stehen. Etwa postkoloniale Strukturen, die in urbanen Räumen eigentlich sichtbar sind, an welchen wir jedoch häufig vorbeilaufen, ohne sie wahrzunehmen. Ich dachte, das ist interessant, da braucht's vielleicht irgendwie an der einen oder anderen Stelle noch mal jemanden, der mich als Einwohner:in einer Stadt auf Denkmäler, auf bestimmte Straßennamen, auf bestimmte Gebäudeflächen aufmerksam macht, um dadurch Geschichte zu dekonstruieren … Projekte dieser Art gibt’s ja tatsächlich auch schon. Das ist zwar kein neuer Gedanke, aber vielleicht kann ein solcher Ansatz auf den digitalen Raum ausgeweitet werden. Wir sehen ja, dass der digitale Raum gerade viele neue Möglichkeiten aufzeigt, diverse Austauschformen, Diskussionsplattformen usw. Da passiert gerade so viel, dass das für mich teilweise schwer ist zu überblicken. Es wächst gerade ganz viel aus dem Boden und ich weiß nicht immer, ob ich das jeweilige Angebot überhaupt wirklich nutzen möchte. Aber gerade deswegen finde ich diesen Raum so spannend und er benötigt ganz bestimmt mehr Vermittlung, auch als Hilfestellung für mehr Zugänglichkeit. Hast du ein utopisches Vermittlungsprojekt, welches du gerne realisieren möchtest? Gibt es dafür einen Wunschort? Darum geht's eher weniger. Ich habe da spontan gerade nichts in der Schublade. Der digitale Raum interessiert mich wirklich sehr und ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Raum in der Zukunft für mich eine noch größere Relevanz haben wird und ich dort auch an der Entwicklung und Umsetzung von Vermittlungsprogrammen beteiligt sein werde. Allerdings finde ich sehr wichtig, hier auch hybride Formate zu denken und zu entwickeln. Dass es ebenfalls Präsenzveranstaltungen gibt. Ich halte die Betrachtung originaler Kunstwerke und Artefakte vor Ort für sehr bedeutsam. Und das Erleben und Betrachten, das Zusammenspiel von Betrachter:innen und Kunstwerk im musealen Raum finde ich sehr spannend, wesentlich und daher unverzichtbar für die Vermittlungsarbeit. Ich merke auch, dass mich die Arbeit mit Studierenden sehr interessiert. Der Austausch mit Studierenden ist für mich sehr bereichernd. Außerdem finde ich das praktische Handeln in der Kunst interessant und möchte das stärker in den Fokus nehmen, zum Beispiel die digitalen Werkzeuge als Gestaltungswerkzeuge begreifen. Sebastian Bartel, Künstler und Kunstvermittler, geb. in Mönchengladbach. Von 2004 bis 2011 erstes Staatsexamen für das Lehramt Kunst, Universität Duisburg-Essen; 2009 Auslandssemester, University of Art and Design in Helsinki; 2011 bis 2013 Diplom an der HBK Braunschweig; 2013 bis 2014 Meisterschüler Student bei Wolfgang Ellenrieder. Verschiedene Auszeichnungen und Residencies. Derzeit eine Ausstellung im Kunstverein Erlangen. (c) Sebastian Bartel, Foto: Nina Gschlößl, 2018 Anker 2 Anker 4 Anker 3
- Was haben Äpfel mit Kunst und dem Klimawandel zu tun? Über Kunst und Klimaaktivismus | appropriate!
Selin Aksu, Anika Ammermann und Jonna Baumann im Gespräch mit Antje Majewski Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Was haben Äpfel mit Kunst und dem Klimawandel zu tun? Selin Aksu, Anika Ammermann und Jonna Sophie Baumann im Gespräch mit Antje Majewski Two film stills (Antje cutting the branch and apples on wooden boards): Antje Majewski Die Freiheit der Äpfel , 2014-2015 HD video (color, sound), 120 min. © Antje Majewski / VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin Exhibition view: Antje Majewski (mit Paweł Freisler) Der Apfel. Eine Einführung. (Immer und immer und immer wieder) Kunsthalle Lingen, Lingen DE, 24.03-21.05.2018 © Antje Majewski / VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin Group photo (a large group of people in front of a grey building and Antje speaking at an event) are related to the exhibition in Łódź: Antje Majewski (with pawel Freisler) Apple. An introduction (over and over and once again) Muzeum Sztuki, Łódź, PL, 17.10.2014 - 11.01.2015 © Antje Majewski / VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin Der Apfel „ist das Obst, mit dem wir als Kinder aufwachsen, […] das Obst, um das sich sozusagen unsere Obsterfahrung im Leben dreht“, so die Künstlerin Antje Majewski. „Und gleichzeitig ist es verblüffend, wie wenig wir eigentlich über das Obst wissen, obwohl wir so viel von ihm zu uns nehmen.“ In der klassischen Plantagen-wirtschaft werden Äpfel so angebaut, dass sie maschinell ab-gefahren werden können. Die Sorten, die sich weltweit durch-gesetzt haben, stammen von wenigen alten Sorten wie dem Golden Delicious , sagt Antje Majewski. „Das ist ein Apfel, der sehr, sehr fragil ist und in 80 Prozent der Kulturäpfel, die auf dem Markt sind, drinsteckt.“ Diese genetische Einengung führe zu höherer Anfälligkeit gegenüber Schädlingen, weswegen mehr gespritzt werden müsse. „Der Apfel. Eine Einführung (immer und immer und immer wieder)“ ist ein kollaboratives, prozessorientiertes Ausstellungsprojekt mit dem polnischen Konzeptkünstler Paweł Freisler. Der Kontakt kam über eine Gruppenausstellung zustande, bei der unter anderem Agnieszka Polska teilgenommen hat. „Wir kommunizieren nur über E-Mail. Und bis heute haben wir uns nicht persönlich kennen-gelernt. Paweł ist jetzt über 80 und er schreibt in einem sehr poetischen und rätselhaften Stil. [...] Er meinte, ich solle mir vor-stellen, dass alle Kunstinstitutionen der Welt Obstgärten wären, die wir zu bepflanzen haben“, erzählt Majewski. Freisler ist ein institutionskritischer Künstler, der vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren in Polen aktiv war. Er wolle nicht in Sammlungen oder Katalogen auftauchen, sondern eine mündliche Legendenbildung initiieren, erklärt Majewski. Seine bekannteste Arbeit „Stalowe jajo (The Egg)“ von 1967 ist ein Ei aus Stahl, das er verschiedenen Künstler:innen anvertraut hat. Diese sollten dann davon erzählen, es aber nie ausstellen, um das Stahlei zu mystifizieren. 2011/12 zeigte Antje Majewski einen Banksafe, in den das Stahlei weggeschlossen wurde, und vergrub, ohne Autorisierung von Freisler, eine Kopie des Eis in ihrem Garten. Freisler gab nachträglich seine Erlaubnis mit der Bedingung, dass ein Apfelbaum über das Ei gepflanzt werden sollte. Als Majewski den Künstler später zu einer gemeinsamen Ausstellung einlud, begann eine Zusammmenarbeit, die sich bis heute um Äpfel dreht. Gemeinsam entwickelten sie das Ausstellungskonzept, bestehend aus Ölmalereien von Majewski, getrockneten Äpfeln mit ein-geschnitzten Ornamenten und identischen Klonen der Äpfel aus dem 3D-Drucker von Freisler, jungen Apfelbäumen alter Sorten und Majewskis Film „Die Freiheit der Äpfel (2014)“. Darin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie die alte Sortenvielfalt in Zeiten des Klimawandels bewahrt werden und gleichzeitig eine (bestenfalls nachhaltig erwirtschaftete) Nahrungsmittelsicherheit hergestellt werden könne. Außerdem kommt der Pomologe Eckardt Brandt zu Wort, der alte Apfelsorten kultiviert. Majewskis Stillleben basieren auf Fotos seiner Äpfel. Seit der ersten gemeinsamen Schau im Muzeum Sztuki in Łódź 2014 haben Antje Majewski und Paweł Freisler diverse internationale Ausstellungen realisiert, die jeweils in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen lokalen Akteur:innen entstanden sind. Dabei fungierte Majewski gewissermaßen als Vermittlerin für Freisler, der persönlich nie anwesend war. Die multimediale Ausstellung ist selbst nach klimafreundlichen Kriterien gestaltet, Ausstellungsmobiliar wird wiederverwendet. Antje Majewski fährt innerhalb Europas konsequent mit dem Zug, nur nach Kasachstan allerdings sei es dann nicht anders als mit dem Flugzeug gegangen. Dorthin wurde sie auf Wunsch der Kuratorin eines regionalen Museums eingeladen. „Auf Kasachstan wollte ich auf keinen Fall verzichten, weil der Apfel an sich ursprünglich aus Kasachstan kommt und weil dort ein ganz großes Bedürfnis nach Austausch besteht“, erzählt die Künstlerin. Zusätzlich sieht sie eine starke Bedrohung durch das sich verändernde Klima für die wilden Apfelwälder des Malus sieversii in Kasachstan. „Ich würde mir sehr wünschen, dass es auch im Westen Initiativen gibt, um diese Apfelwälder in Kasachstan zu erhalten, wo diese Millionen von wilden Apfelbäumen stehen. [...] Das ist ein Riesenreservoir an Vielfalt, welches durch den Klimawandel momentan extrem bedroht ist.“ Verschärft wird die Lage durch importierte Bäume, die die wilden Apfelbäume verdrängen. „Das sind so Prozesse, die dazu führen könnten, dass sie in 150, 200 Jahren ganz verschwunden sind.“ Fundamentaler Bestandteil des Ausstellungsprojektes ist das Pflanzen alter Apfelbaumsorten. Es würden laut Majewski immer Sorten gesetzt, „die alle ernten können und die hier im deutschsprachigen Raum auf Mundraub kartiert werden“ sowie „lokale Sorten, die an diese Böden angepasst sind und die es nicht so häufig gibt“. Die alten Sorten seien insofern relevant, als sie noch Resistenzen haben, weil sie zum Teil noch nicht so intensiv genutzt wurden. Die Förderung der Artenvielfalt kann durch Nachbarschaftsinitiativen, gemeinschaftlich genutzte Streuobstwiesen und Straßenbäume sowie durch den Kauf unterschiedlicher, auch unbekannter Sorten gelingen. Das ließe sich auch auf jegliche Obst- und Gemüsesorten übertragen, so Majewski. Es gebe im städtischen Raum allerdings große bürokratische Hürden, wie sie am Beispiel von Berlin erklärt. Die Pflanzung von Obstbäumen, die allen gehören, werde durch verschiedene Eigentumsverhältnisse erschwert. Majewski verfolgt konsequent partizipative Ansätze, die sich dem niedrigschwelligen Zugang zu den Institutionen für alle Bevölkerungsschichten verschrieben haben. 2014 dachte sie zusammen mit den Kuratorinnen des Muzeum Sztuki in Łódź über die Ökologie der Institution nach, „also den Oikos, diesen gemeinsamen Haushalt innerhalb der Institution, und wie man den in die Stadt hinein erweitern könnte, um vielleicht auch andere Leute ins Museum zu bringen, die da sonst gar nicht hingehen“. So waren bereits Kinder, Mitarbeiter:innen der Aufsicht, Köch:innen sowie Gärtner:innen Teil der Ausstellungen. Kunstvermittlung nimmt in Majewskis Arbeit, insbesondere im Kontext des Apfelprojektes, eine große Rolle ein. Hierfür arbeitet sie ergebnisoffen mit unterschiedlichen lokalen Akteur:innen zusammen, die an der Ausstellung im weitesten Sinne beteiligt sind, sowie mit Schulen, Wissenschaftler:innen oder beispielsweise Gärtnereien. Für die Künstlerin ist jeder Lernprozess Teil der Museumspädagogik, nicht nur in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, sondern auch mit Erwachsenen. „Für mich fängt die Kunstvermittlung eigentlich bereits mit den Saalwärter:innen an.“ Es sei ihr besonders wichtig, diese Personen mit einzubeziehen, da sie ein, zwei Monate lang in der Ausstellung stünden und vom Publikum angesprochen würden. Im Vorfeld einer institutionellen Ausstellung trifft sie sich mit den Mitarbeiter:innen, um die Themen der Ausstellung zu besprechen. Die Beteiligten bringen sich auch deutlich über das klassische Format hinaus ein: So gab es bereits Museumsangestellte, die mit ihrer Band aufgetreten sind, während im Garten der Institution Apfelbäume gepflanzt wurden. Majewskis Ausstellung in Lingen ist hierfür beispielhaft, wo es eine dauerhafte Kollaboration mit der örtlichen Kunstschule gibt, die unter anderem Kurse für Kinder und Menschen mit Beeinträchtigungen anbietet. Die Bilder, die aus diesen Kursen entstanden, wurden auch in der Ausstellung aufgehängt. In Thun wurde es ähnlich gehandhabt, wobei nicht nur Bilder, sondern auch Apfelrezepte gesammelt wurden. Diese wurden in einen Handlungsraum des Museums integriert, wo sie Teil der Schau wurden. Antje Majewski zeigt in ihrer Arbeit konkrete Handlungsmöglichkeiten auf, wie den vielschichtigen Problemen des Klimanotstandes begegnet werden kann. Sie unterrichtet nicht nur über die Lage der Äpfel in einer globalisierten Welt, sondern regt zudem Teilhabe und Diskurse an, die über die jeweiligen Kunstinstitutionen hinausgehen. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Kooperation mit Paweł Freisler. Nach dem Gespräch mit Majeswki fiel uns auf, wie beschränkt tatsächlich im Supermarkt das Sortiment von Obst und Gemüse ist. Die Zusammenarbeit trägt im wahrsten Sinne des Wortes Früchte, so lange, bis jede Kunstinstitution zu einem Obstgarten wird. Prof.in Antje Majewski unterrichtet seit dem Wintersemester 2023/24 an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig mit dem Schwerpunkt Malerei. Ihre Arbeiten beschäftigen sich unter anderem mit der Kulturgeschichte von Pflanzen und Landwirtschaft sowie mit Fragen des Klimawandels und der Biodiversität. Ihre Praxis ist oft kollaborativ und geht aus der Institution in den städtischen bzw. ländlichen Raum hinein. Bei der Tagung „Kunst im Klimanotstand” am 06.12.2023 in der HBK Braunschweig stellte sie ihr Projekt „Apple. An Introduction (Over and over and once again)“ vor. Im Anschluss daran führten wir ein Gespräch mit ihr. http://www.antjemajewski.de Jonna Sophie Baumann (sie/ihr) studiert freie Kunst und Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich multimedial mit queerer Popkultur. Anika Ammermann studiert Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Malerei bei Prof. Wolfgang Ellenrieder sowie Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Selin Aksu studiert Freie Kunst in der Klasse von Prof. Antje Majewski sowie Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 01
- Open Call Issue 3
Open Call für Issue 3 Inhalt CLICK HERE FOR THE ENGLISH VERSION OF THE OPEN CALL KURZINFO Einreichen können: Studierende und Angehörige aller Institute der HBK Braunschweig Thema: Vermittlung Abgabetermin (Abstract): 20 Februar 2022 Sprachen: Deutsch, Englisch Das appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst, wird im Rahmen der Kunstvermittlung der HBK, im Frühjahr, die dritte Ausgabe herausgeben. Die Redaktion sucht Textbeiträge rund um das Thema Vermittlung. Die Möglichkeit für das appropriate! einen Beitrag zu verfassen und zu veröffentlichen wird allen Studierenden der HBK geboten. Es erscheinen Beträge in den Kategorien: Theorie, Praxisberichte, Gesprächsberichte (Interviews), Buchrezensionen. Die Beiträge können sowohl in Deutsch als auch in Englisch verfasst werden. Die Texte, die schließlich in Ausgabe 3 erscheinen werden, werden redaktionell betreut und professionell Korrektur gelesen. Solltest du dich dafür interessieren in einer der Kategorien einen Text zu verfassen und zu veröffentlichen, dann bewirb dich bis zum 02.02.2022 mit einem kurzen Entwurf/Abstract, indem du benennst, in welcher unserer Sparten du deinen Text schreiben möchtest und wie genau der thematische Zusammenhang zur Vermittlung aussieht. Alle Bewerbungen bitte an: j.teubert@hbk-bs.de Einsendeschluss: 20.02.2022 Hier kannst du dir einen Eindruck vom Journal machen: https://www.appropriate-journal.art Wir freuen uns auf eure Bewerbungen! Viele Grüße Redaktion Issue 3: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert (Tutorin des Journals) THEMATISCHE AUSRICHTUNG Das Issue 3 des Journals appropriate! widmet sich dem Thema Vermittlung. Vermittlung gleicht Gegensätze aus, ist eine Dienstleistung, schafft Verbindungen, dient der Mediation und stellt Einigung zwischen unterschiedlichen Ansichten und Interessen her. Vermittlung als Handlungsform mit und für andere Menschen, ermöglicht Wissenserwerb und den Meinungsaustausch zwischen den Teilnehmer:innen über einen zu vermittelnden Gegenstand. Nach Alexander Henschel wird der Begriff im Zusammenhang mit Kunst „als Marker für kunstbezogene Bildungsarbeit in verschiedensten institutionellen Settings ebenso verwendet wie für Formen des Curatings, der Kunstkritik, des Galerieverkaufs oder des Kulturmanagements.“ Henschel zeigt auf, dass Kunstvermittlung unterschiedlich je nach Zweck und Auffassung ausgelegt werden kann. In dieser Ausgabe wird die Bezeichnung deshalb im Sinne einer kritischen Kunstvermittlung eingegrenzt: Wir verstehen Kunstvermittlung als eine engagierte Praxis. Der Status quo wird kritisch betrachtet und/oder dekonstruiert. Das Kunstwerk, die Künstler:in, die Ausstellung oder das Kunstprojekt werden innerhalb des gesellschaftlichen Kontexts verortet und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet. Vermittler:innen bewegen sich ‚dazwischen‘ und erfüllen die Funktion von Mediator:innen, die zu einem ergebnisoffenen Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Meinungen beitragen können. Einige Fragen, die uns im Rahmen des Issue 3 besonders interessieren, sind folgende: Muss Kunst vermitteln und vermittelbar sein? Gibt es Kunst, die sich nicht vermitteln lässt? Kann heute noch eine Kunst bestehen, in der der Vermittlungsaspekt nicht mitgedacht wird? Welche Bedeutung kommt hierbei der ästhetischen Autonomie zu? Vertreter:innen einer idealisierten Sichtweise der Autonomie von Kunst behaupten, Kunst müsse selbsterklärend sein und habe keine Vermittlung nötig. Eine solche Vorstellung läuft Gefahr die soziale Funktion der Kunst zu übersehen und einem Warenfetischismus anheim zu fallen, der sowohl die Künstler:innen als auch ihre Werke verdinglicht. Werden Kunstobjekte als Spekulationsobjekte mißbraucht, dann misst sich der Wert eines Kunstwerks nicht mehr an seiner sozialen Funktion, sondern an der Höhe des erzielten Verkaufspreises. Verbindet man die Funktion der Autonomie in der Kunst jedoch mit dem Diskurs über die soziale Relevanz der Kunst, also spricht man der Kunst eine notwendige konkrete soziale Funktion innerhalb der Gesellschaft zu, dann ergibt sich eine zweite Möglichkeit Autonomie in der Kunst zu denken. Die Autonomie der Kunst wird nicht idealisiert, sondern strategisch eingesetzt: Kunst ist nicht selbsterklärend und auch nicht unvermittelt erfahrbar, sondern sie erkämpft sich ihre Autonomie als dialogisch-ästhetische oder konfrontativ-widerständige Praxis, die sich in gesellschaftliche Machtstrukturen „einnistet“, um diese zu verändern. Aus dieser Perspektive kann Kunst und ihre Vermittlung gesellschaftliche Relevanz entfalten die über das Kunstsystem und den Kunstmarkt hinausgeht. Vermittlung als politische und soziale Praxis Sobald erkannt wird, dass Kunst und Vermittlung immer politisch Position beziehen müssen, da auch eine vermeintlich neutrale unpolitische Position den Status Quo und die damit verbundenen Machtstrukturen bestätigen würde, ergeben sich vielversprechende Handlungsmöglichkeiten. Als Mittel um bestehende Strukturen zu befragen und zu dekonstruieren ist Vermittlung in der Kunst ein Werkzeug, das Missstände im Kunstkanon aufzeigen kann und soll. Die Frage, wer den Diskurs bestimmt, berührt nicht nur die Vermittlung als Handlung, sondern auch Kunstvermittlung als veränderbares Konstrukt innerhalb einer Institution. Vermittlung ist ein Angebot, Kunst zu hinterfragen und bietet einen Ansatz darüber zu sprechen, warum, weshalb, wieso Kritik an Kunst und Kontext angebracht und wichtig ist. In diesem Sinne steht sie für eine produktive Streitkultur. Vermittlung – Mediation Mediation hat die Aufgabe einen Gesprächsraum innerhalb verhärteter Fronten, die sich zwischen unterschiedlichen Ansichten und Interessen gebildet haben, zu schaffen. Der Gesprächsausgang wird nicht konkret festgelegt, sondern bleibt offen. Kunstvermittlung ist häufig mit verhärteten Fronten konfrontiert, etwa zwischen der:dem Betrachter:in und einem sie:ihn provozierenden Werk. Der Wunsch, dass Kunst unvermittelt erfahren werden soll, prallt auf den Anspruch, dass Kunst sich nicht selten bewusst einer allgemeinen Verständlichkeit entzieht. Solcherart Fronten haben auch eine schützende und abgrenzende Funktion, die nicht beigelegt werden muss. Übt ein Kunst- und/oder Vermittlungsprojekt Institutionskritik, dann würde eine scheinbare und voreilige Beilegung des aufgezeigten Konfliktes dazu führen, dass die adressierten Ungleichheiten, sowie die machtvollen Interessen, die hinter den Fronten stehen, verharmlost werden. Dies ist nicht im Sinne der kritischen Kunstvermittlung. Es liegt im Arbeitsbereich der Vermittlung auftretende Fronten gemeinsam auf ihre Berechtigung und Wirksamkeit hin zu untersuchen und Konflikte produktiv zu machen. Das Issue 3 des appropriate! wird sich rund um die beschriebenen Schwerpunkte der Vermittlung drehen, die in Praxisberichten, Gesprächen in Textform, Buchrezensionen und Gäst:innenbeiträgen vertieft werden. Die Ausgabe erscheint im Frühjahr 2022 im Rahmen der Kunstvermittlung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. BEITRAGSTYPEN Praxisberichte In den Praxisberichten haben Studierende die Möglichkeit über ihre selbstentwickelten Vermittlungsprojekte zu schreiben. Dabei geht es jedoch nicht allein um eine Beschreibung der Projektumsetzung, denn ein elementarer Bestandteil der Praxisberichte ist auch, dass die Überlegungen, die der Umsetzung vorangegangen sind, sowie der Kontext, in dem das Projekt stattfand, den Leser:innen nahegebracht werden. Eine kritische Reflexion des Projekts und ein kurzes Fazit sollte enthalten sein. Wenn du gerne einen Praxisbericht verfassen möchtest, dann erkläre uns bitte auf einer halben Seite kurz, worum es sich bei deinem Projekt gedreht hat, und wie sich darin das Thema der Vermittlung widerspiegelt. Buchrezensionen Eine Buchrezension ist eine informative, aber auch kritische Buchvorstellung, in der die wichtigsten Inhalte des Buchs besprochen werden. Gleichzeitig bietet die Rezension Raum für eine persönliche Stellungnahme oder Empfehlung und ein begründetes Urteil über die Relevanz des Buchs. In unserem Journal möchten wir vorzugsweise aktuell erschienene Bücher vorstellen (2021/2022). Wenn du ein Buch rezensieren möchtest, dann nenne bitte auf einer halben Seite kurz, um welches Buch es sich genau handelt (Titel, Autor:in, Verlag, Jahr) und welchen Bezug es auf das Thema Vermittlung hat. Gespräche und Interviews Unter dieser Kategorie haben Studierende die Möglichkeit, eine Person zu einem Gespräch oder Interview einzuladen, die über eine Expertise oder besonderen Erfahrungswert in Bezug auf das aktuelle Thema des Journals verfügt, oder deren kunstvermittlerische Arbeit man in Hinblick auf das aktuelle Thema des Journals befragen möchte. Über das Gespräch soll im Anschluss ein Fließtext in eigenen Worten geschrieben werden, der dann im Journal erscheint. Wenn du ein Gespräch oder Interview im Rahmen des Webjournals führen möchtest, um deinen Gesprächsbericht anschließend in der aktuellen Ausgabe zu veröffentlichen, dann bitte fasse auf einer halben Seite kurz zusammen, wen du gern als Gesprächspartner:in interviewen möchtest und wieso diese Person deiner Meinung nach in Verbindung zum aktuellen Thema der Vermittlung dafür geeignet ist. Für uns sind diese Informationen wichtig, damit wir sie in unsere Entscheidung über die Beitragsauswahl mit einbeziehen können. Theoriebeiträge Zu jeder Ausgabe laden wir zwei bis drei Gäst:innen dazu ein, zum aktuellen Thema einen Text zu verfassen. Wir möchten durch diese Beiträge Aspekte unseres aktuellen Themas beleuchten, die wir über Praxisberichte, Gesprächsbeiträge oder Buchrezensionen möglicherweise nicht abdecken können, die für uns aber so relevant sind, dass sie nicht fehlen dürfen. Außerdem bietet sich so die Chance, der Expertise aus anderen Fachbereichen Raum zu geben. Wenn du einen Vorschlag hast, welche Person eine besonders interessante Position zum aktuellen Thema vertritt und einen wertvollen Beitrag zum Thema Vermittlung verfassen könnte, freuen wir uns über einen kurzen Vorschlag. Anker 1 Open Call for submissions – Web journal appropriate! Issue 3 SHORT INFO The Open Call is open to students and members of all institutes of the HBK Braunschweig Topic: Mediation/Education (Vermittlung) Deadline for abstract: 20 February 2022 Languages: German, English The appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst (Journal for Appropriation and Mediation of Art), will publish its third issue this spring as part of the HBK's art mediation program. The editorial team is asking for text contributions on the topic of mediation/education (Vermittlung). Contributions will be published in the categories: Theory, Experience Report, Interview Report, Book Review. The contributions can be written in German as well as in English. The texts that will eventually appear in issue 3 will be editorially supported and professionally proofread. If you are interested in writing and publishing a text in one of the categories, please apply by 20.02.2022 with a short draft/abstract stating in which of our categories you would like to write your text and how exactly the thematic connection to mediation/education looks like. Further down in this e-mail you will find a description of the topic of Issue 3 as well as a brief explanation of the four types of contributions. Please send all applications to: j.teubert@hbk-bs.de Deadline: 20.02.2022 We look forward to receiving your applications! Best regards Editorial Team Issue 3: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert (Tutor of the Journal) ISSUE 3, MEDIATION/EDUCATION (VERMITTLUNG) Issue 3 of the journal appropriate! is dedicated to the topic of mediation/education. Mediation balances opposites, is a service, creates connections, serves as a mediator, and establishes an agreement between different views and interests. Mediation as a practice with and for other people enables the acquisition of knowledge and the exchange of opinions between participants about a subject to be communicated. According to Alexander Henschel, the term is used in connection with art "as a marker for art-related educational work in a wide variety of institutional settings as well as for forms of curating, art criticism, gallery sales, or cultural management." (Translated by the editorial team) Henschel points out that art education can be interpreted differently depending on its purpose and conception. Therefore, in this issue, the meaning of the term is narrowed to critical art mediation. We understand art mediation as an engaged practice. The status quo is critically examined and/or deconstructed. The artwork, the artist, the exhibition, or the art project are located within the social context and viewed from different perspectives. Art mediators move 'in between' and fulfil the function of mediators who can contribute to an open-ended exchange between people with different backgrounds and opinions. The following are some of the topics that are of particular interest to us in Issue 3: Must art mediate itself and be communicable? Is there art that cannot be communicated? Can even art exist today in which the mediation aspect is not taken into consideration? What is the significance of aesthetic autonomy in this context? Proponents of an idealized view of the autonomy of art claim that art must be self-explanatory and that there is no need for mediation. Such a concept of art runs the risk of overlooking its social function and thereby falling prey to a commodity fetishism that reifies both the artists and their works. If artworks are misused as objects of speculation, then their value is no longer measured by their social function, but by the amount of the selling price achieved. However, if one connects the function of autonomy in art with the discourse on its social relevance, in other words, if one assigns art being a necessary concrete social function within society, then a second way of thinking about autonomy in art emerges. The autonomy of art will be used strategically. Art autonomy is not understood as being simply given it has to be achieved permanently. As a dialogical or confrontational practice, art fights for its autonomy and ‘nests’ in social power structures to change them. From this perspective, art and its mediation can develop social relevance that goes beyond the art system and the art market. Mediation as political and social practice Even if art tries to take a neutral and non-political position it would confirm the status quo and its power structures. Especially in the context of socially engaged art and mediation practices it is necessary to recognize this condition. To question and deconstruct existing structures, mediation in the art can be used as a tool that points out social injustices in the art canon. The question of who determines the discourse touches not only mediation as an action, but also art mediation as a changeable construct within an institution. Mediation is an offer to question art and offers an approach to talk about reasons why criticism of art and context is appropriate and important. In this sense, it stands for a productive culture of dispute. (Art) Mediation Mediation has the task of creating a space for discussion within hardened fronts that have formed between different views and interests. The outcome of the conversation is not concretely determined but remains open. In art mediation, one is often confronted with hardened fronts such as the ones between the viewers and provocative artworks. The desire to consume and experience art more or less effortlessly clashes with the claim that art intentionally avoids finite interpretation and often eludes general comprehensibility. Such fronts also have a protective and delimiting function that should not be overcome. If an art project and/or mediation project exercise institutional critique, then an apparent and hasty settlement of the highlighted conflict would lead to downplaying the addressed inequalities, as well as the powerful interests that stand behind the fronts. This is not in the sense of critical art mediation. It is within the field of work of art mediation to examine occurring fronts together for their justification and effectiveness and to make conflicts productive. Issue 3 of appropriate! will revolve around the described main focuses of mediation, which will be explored in-depth in experience reports, conversations in text form, book reviews and guests' contributions. The issue will be published in spring 2022 as part of the art mediation program of the Braunschweig University of Arts. CONTRIBUTION TYPES Experience Report In the experience report, students can write about their self-developed art mediation projects. However, it is not only about a description of the project realization. An elementary component of the experience report is that the considerations that preceded the realization, as well as the context in which the project took place, are made accessible to the reader. A critical reflection of the project and a short conclusion should be included. If you would like to write an experience report, please explain briefly in half a page what your project was about and how it reflects the topic of mediation. Book Reviews A book review is an informative, yet critical, book introduction that discusses the main content of the book. At the same time, the review provides space for a personal statement or recommendation and a reasoned judgment about the relevance of the book. In our journal, we prefer to present books that have been recently published (2021/2022). If you would like to review a book, please state briefly on half a page exactly what the book is about (title, author, publisher, year) and how it relates to the topic of mediation. Conversations and Interviews Under this category, students may invite a person/group to participate in a conversation or interview who has expertise or special experiential value related to the current topic of the journal, or whose art education work suits the current topic of the journal. A continuous text in your own words should then be written about the conversation, which will be published in the journal. If you would like to conduct a conversation and write an interview report to be published in the next issue, please summarize on half a page who you would like to interview and why you think this person is suitable concerning the current topic of mediation. Theory contributions For each issue, we invite two to three guests to write a text on the current topic. By these contributions, we would like to shed light on aspects of our current issue that are not covered in the other types of text. It also provides an opportunity to give space to expertise from other disciplines. If you have a suggestion about which person holds a particularly interesting position on the current topic and could write a valuable contribution on the topic of mediation, we would be happy to receive a brief suggestion.









