Kunstvermittlung als künstlerische Praxis
Art mediation as an artistic practice
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- Was haben Äpfel mit Kunst und dem Klimawandel zu tun? Über Kunst und Klimaaktivismus | appropriate!
Selin Aksu, Anika Ammermann und Jonna Baumann im Gespräch mit Antje Majewski Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Was haben Äpfel mit Kunst und dem Klimawandel zu tun? Selin Aksu, Anika Ammermann und Jonna Sophie Baumann im Gespräch mit Antje Majewski Two film stills (Antje cutting the branch and apples on wooden boards): Antje Majewski Die Freiheit der Äpfel , 2014-2015 HD video (color, sound), 120 min. © Antje Majewski / VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin Exhibition view: Antje Majewski (mit Paweł Freisler) Der Apfel. Eine Einführung. (Immer und immer und immer wieder) Kunsthalle Lingen, Lingen DE, 24.03-21.05.2018 © Antje Majewski / VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin Group photo (a large group of people in front of a grey building and Antje speaking at an event) are related to the exhibition in Łódź: Antje Majewski (with pawel Freisler) Apple. An introduction (over and over and once again) Muzeum Sztuki, Łódź, PL, 17.10.2014 - 11.01.2015 © Antje Majewski / VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin Der Apfel „ist das Obst, mit dem wir als Kinder aufwachsen, […] das Obst, um das sich sozusagen unsere Obsterfahrung im Leben dreht“, so die Künstlerin Antje Majewski. „Und gleichzeitig ist es verblüffend, wie wenig wir eigentlich über das Obst wissen, obwohl wir so viel von ihm zu uns nehmen.“ In der klassischen Plantagen-wirtschaft werden Äpfel so angebaut, dass sie maschinell ab-gefahren werden können. Die Sorten, die sich weltweit durch-gesetzt haben, stammen von wenigen alten Sorten wie dem Golden Delicious , sagt Antje Majewski. „Das ist ein Apfel, der sehr, sehr fragil ist und in 80 Prozent der Kulturäpfel, die auf dem Markt sind, drinsteckt.“ Diese genetische Einengung führe zu höherer Anfälligkeit gegenüber Schädlingen, weswegen mehr gespritzt werden müsse. „Der Apfel. Eine Einführung (immer und immer und immer wieder)“ ist ein kollaboratives, prozessorientiertes Ausstellungsprojekt mit dem polnischen Konzeptkünstler Paweł Freisler. Der Kontakt kam über eine Gruppenausstellung zustande, bei der unter anderem Agnieszka Polska teilgenommen hat. „Wir kommunizieren nur über E-Mail. Und bis heute haben wir uns nicht persönlich kennen-gelernt. Paweł ist jetzt über 80 und er schreibt in einem sehr poetischen und rätselhaften Stil. [...] Er meinte, ich solle mir vor-stellen, dass alle Kunstinstitutionen der Welt Obstgärten wären, die wir zu bepflanzen haben“, erzählt Majewski. Freisler ist ein institutionskritischer Künstler, der vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren in Polen aktiv war. Er wolle nicht in Sammlungen oder Katalogen auftauchen, sondern eine mündliche Legendenbildung initiieren, erklärt Majewski. Seine bekannteste Arbeit „Stalowe jajo (The Egg)“ von 1967 ist ein Ei aus Stahl, das er verschiedenen Künstler:innen anvertraut hat. Diese sollten dann davon erzählen, es aber nie ausstellen, um das Stahlei zu mystifizieren. 2011/12 zeigte Antje Majewski einen Banksafe, in den das Stahlei weggeschlossen wurde, und vergrub, ohne Autorisierung von Freisler, eine Kopie des Eis in ihrem Garten. Freisler gab nachträglich seine Erlaubnis mit der Bedingung, dass ein Apfelbaum über das Ei gepflanzt werden sollte. Als Majewski den Künstler später zu einer gemeinsamen Ausstellung einlud, begann eine Zusammmenarbeit, die sich bis heute um Äpfel dreht. Gemeinsam entwickelten sie das Ausstellungskonzept, bestehend aus Ölmalereien von Majewski, getrockneten Äpfeln mit ein-geschnitzten Ornamenten und identischen Klonen der Äpfel aus dem 3D-Drucker von Freisler, jungen Apfelbäumen alter Sorten und Majewskis Film „Die Freiheit der Äpfel (2014)“. Darin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie die alte Sortenvielfalt in Zeiten des Klimawandels bewahrt werden und gleichzeitig eine (bestenfalls nachhaltig erwirtschaftete) Nahrungsmittelsicherheit hergestellt werden könne. Außerdem kommt der Pomologe Eckardt Brandt zu Wort, der alte Apfelsorten kultiviert. Majewskis Stillleben basieren auf Fotos seiner Äpfel. Seit der ersten gemeinsamen Schau im Muzeum Sztuki in Łódź 2014 haben Antje Majewski und Paweł Freisler diverse internationale Ausstellungen realisiert, die jeweils in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen lokalen Akteur:innen entstanden sind. Dabei fungierte Majewski gewissermaßen als Vermittlerin für Freisler, der persönlich nie anwesend war. Die multimediale Ausstellung ist selbst nach klimafreundlichen Kriterien gestaltet, Ausstellungsmobiliar wird wiederverwendet. Antje Majewski fährt innerhalb Europas konsequent mit dem Zug, nur nach Kasachstan allerdings sei es dann nicht anders als mit dem Flugzeug gegangen. Dorthin wurde sie auf Wunsch der Kuratorin eines regionalen Museums eingeladen. „Auf Kasachstan wollte ich auf keinen Fall verzichten, weil der Apfel an sich ursprünglich aus Kasachstan kommt und weil dort ein ganz großes Bedürfnis nach Austausch besteht“, erzählt die Künstlerin. Zusätzlich sieht sie eine starke Bedrohung durch das sich verändernde Klima für die wilden Apfelwälder des Malus sieversii in Kasachstan. „Ich würde mir sehr wünschen, dass es auch im Westen Initiativen gibt, um diese Apfelwälder in Kasachstan zu erhalten, wo diese Millionen von wilden Apfelbäumen stehen. [...] Das ist ein Riesenreservoir an Vielfalt, welches durch den Klimawandel momentan extrem bedroht ist.“ Verschärft wird die Lage durch importierte Bäume, die die wilden Apfelbäume verdrängen. „Das sind so Prozesse, die dazu führen könnten, dass sie in 150, 200 Jahren ganz verschwunden sind.“ Fundamentaler Bestandteil des Ausstellungsprojektes ist das Pflanzen alter Apfelbaumsorten. Es würden laut Majewski immer Sorten gesetzt, „die alle ernten können und die hier im deutschsprachigen Raum auf Mundraub kartiert werden“ sowie „lokale Sorten, die an diese Böden angepasst sind und die es nicht so häufig gibt“. Die alten Sorten seien insofern relevant, als sie noch Resistenzen haben, weil sie zum Teil noch nicht so intensiv genutzt wurden. Die Förderung der Artenvielfalt kann durch Nachbarschaftsinitiativen, gemeinschaftlich genutzte Streuobstwiesen und Straßenbäume sowie durch den Kauf unterschiedlicher, auch unbekannter Sorten gelingen. Das ließe sich auch auf jegliche Obst- und Gemüsesorten übertragen, so Majewski. Es gebe im städtischen Raum allerdings große bürokratische Hürden, wie sie am Beispiel von Berlin erklärt. Die Pflanzung von Obstbäumen, die allen gehören, werde durch verschiedene Eigentumsverhältnisse erschwert. Majewski verfolgt konsequent partizipative Ansätze, die sich dem niedrigschwelligen Zugang zu den Institutionen für alle Bevölkerungsschichten verschrieben haben. 2014 dachte sie zusammen mit den Kuratorinnen des Muzeum Sztuki in Łódź über die Ökologie der Institution nach, „also den Oikos, diesen gemeinsamen Haushalt innerhalb der Institution, und wie man den in die Stadt hinein erweitern könnte, um vielleicht auch andere Leute ins Museum zu bringen, die da sonst gar nicht hingehen“. So waren bereits Kinder, Mitarbeiter:innen der Aufsicht, Köch:innen sowie Gärtner:innen Teil der Ausstellungen. Kunstvermittlung nimmt in Majewskis Arbeit, insbesondere im Kontext des Apfelprojektes, eine große Rolle ein. Hierfür arbeitet sie ergebnisoffen mit unterschiedlichen lokalen Akteur:innen zusammen, die an der Ausstellung im weitesten Sinne beteiligt sind, sowie mit Schulen, Wissenschaftler:innen oder beispielsweise Gärtnereien. Für die Künstlerin ist jeder Lernprozess Teil der Museumspädagogik, nicht nur in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, sondern auch mit Erwachsenen. „Für mich fängt die Kunstvermittlung eigentlich bereits mit den Saalwärter:innen an.“ Es sei ihr besonders wichtig, diese Personen mit einzubeziehen, da sie ein, zwei Monate lang in der Ausstellung stünden und vom Publikum angesprochen würden. Im Vorfeld einer institutionellen Ausstellung trifft sie sich mit den Mitarbeiter:innen, um die Themen der Ausstellung zu besprechen. Die Beteiligten bringen sich auch deutlich über das klassische Format hinaus ein: So gab es bereits Museumsangestellte, die mit ihrer Band aufgetreten sind, während im Garten der Institution Apfelbäume gepflanzt wurden. Majewskis Ausstellung in Lingen ist hierfür beispielhaft, wo es eine dauerhafte Kollaboration mit der örtlichen Kunstschule gibt, die unter anderem Kurse für Kinder und Menschen mit Beeinträchtigungen anbietet. Die Bilder, die aus diesen Kursen entstanden, wurden auch in der Ausstellung aufgehängt. In Thun wurde es ähnlich gehandhabt, wobei nicht nur Bilder, sondern auch Apfelrezepte gesammelt wurden. Diese wurden in einen Handlungsraum des Museums integriert, wo sie Teil der Schau wurden. Antje Majewski zeigt in ihrer Arbeit konkrete Handlungsmöglichkeiten auf, wie den vielschichtigen Problemen des Klimanotstandes begegnet werden kann. Sie unterrichtet nicht nur über die Lage der Äpfel in einer globalisierten Welt, sondern regt zudem Teilhabe und Diskurse an, die über die jeweiligen Kunstinstitutionen hinausgehen. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Kooperation mit Paweł Freisler. Nach dem Gespräch mit Majeswki fiel uns auf, wie beschränkt tatsächlich im Supermarkt das Sortiment von Obst und Gemüse ist. Die Zusammenarbeit trägt im wahrsten Sinne des Wortes Früchte, so lange, bis jede Kunstinstitution zu einem Obstgarten wird. Prof.in Antje Majewski unterrichtet seit dem Wintersemester 2023/24 an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig mit dem Schwerpunkt Malerei. Ihre Arbeiten beschäftigen sich unter anderem mit der Kulturgeschichte von Pflanzen und Landwirtschaft sowie mit Fragen des Klimawandels und der Biodiversität. Ihre Praxis ist oft kollaborativ und geht aus der Institution in den städtischen bzw. ländlichen Raum hinein. Bei der Tagung „Kunst im Klimanotstand” am 06.12.2023 in der HBK Braunschweig stellte sie ihr Projekt „Apple. An Introduction (Over and over and once again)“ vor. Im Anschluss daran führten wir ein Gespräch mit ihr. http://www.antjemajewski.de Jonna Sophie Baumann (sie/ihr) studiert freie Kunst und Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich multimedial mit queerer Popkultur. Anika Ammermann studiert Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Malerei bei Prof. Wolfgang Ellenrieder sowie Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Selin Aksu studiert Freie Kunst in der Klasse von Prof. Antje Majewski sowie Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 01
- Open Call Issue 3
Open Call für Issue 3 Inhalt CLICK HERE FOR THE ENGLISH VERSION OF THE OPEN CALL KURZINFO Einreichen können: Studierende und Angehörige aller Institute der HBK Braunschweig Thema: Vermittlung Abgabetermin (Abstract): 20 Februar 2022 Sprachen: Deutsch, Englisch Das appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst, wird im Rahmen der Kunstvermittlung der HBK, im Frühjahr, die dritte Ausgabe herausgeben. Die Redaktion sucht Textbeiträge rund um das Thema Vermittlung. Die Möglichkeit für das appropriate! einen Beitrag zu verfassen und zu veröffentlichen wird allen Studierenden der HBK geboten. Es erscheinen Beträge in den Kategorien: Theorie, Praxisberichte, Gesprächsberichte (Interviews), Buchrezensionen. Die Beiträge können sowohl in Deutsch als auch in Englisch verfasst werden. Die Texte, die schließlich in Ausgabe 3 erscheinen werden, werden redaktionell betreut und professionell Korrektur gelesen. Solltest du dich dafür interessieren in einer der Kategorien einen Text zu verfassen und zu veröffentlichen, dann bewirb dich bis zum 02.02.2022 mit einem kurzen Entwurf/Abstract, indem du benennst, in welcher unserer Sparten du deinen Text schreiben möchtest und wie genau der thematische Zusammenhang zur Vermittlung aussieht. Alle Bewerbungen bitte an: j.teubert@hbk-bs.de Einsendeschluss: 20.02.2022 Hier kannst du dir einen Eindruck vom Journal machen: https://www.appropriate-journal.art Wir freuen uns auf eure Bewerbungen! Viele Grüße Redaktion Issue 3: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert (Tutorin des Journals) THEMATISCHE AUSRICHTUNG Das Issue 3 des Journals appropriate! widmet sich dem Thema Vermittlung. Vermittlung gleicht Gegensätze aus, ist eine Dienstleistung, schafft Verbindungen, dient der Mediation und stellt Einigung zwischen unterschiedlichen Ansichten und Interessen her. Vermittlung als Handlungsform mit und für andere Menschen, ermöglicht Wissenserwerb und den Meinungsaustausch zwischen den Teilnehmer:innen über einen zu vermittelnden Gegenstand. Nach Alexander Henschel wird der Begriff im Zusammenhang mit Kunst „als Marker für kunstbezogene Bildungsarbeit in verschiedensten institutionellen Settings ebenso verwendet wie für Formen des Curatings, der Kunstkritik, des Galerieverkaufs oder des Kulturmanagements.“ Henschel zeigt auf, dass Kunstvermittlung unterschiedlich je nach Zweck und Auffassung ausgelegt werden kann. In dieser Ausgabe wird die Bezeichnung deshalb im Sinne einer kritischen Kunstvermittlung eingegrenzt: Wir verstehen Kunstvermittlung als eine engagierte Praxis. Der Status quo wird kritisch betrachtet und/oder dekonstruiert. Das Kunstwerk, die Künstler:in, die Ausstellung oder das Kunstprojekt werden innerhalb des gesellschaftlichen Kontexts verortet und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet. Vermittler:innen bewegen sich ‚dazwischen‘ und erfüllen die Funktion von Mediator:innen, die zu einem ergebnisoffenen Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Meinungen beitragen können. Einige Fragen, die uns im Rahmen des Issue 3 besonders interessieren, sind folgende: Muss Kunst vermitteln und vermittelbar sein? Gibt es Kunst, die sich nicht vermitteln lässt? Kann heute noch eine Kunst bestehen, in der der Vermittlungsaspekt nicht mitgedacht wird? Welche Bedeutung kommt hierbei der ästhetischen Autonomie zu? Vertreter:innen einer idealisierten Sichtweise der Autonomie von Kunst behaupten, Kunst müsse selbsterklärend sein und habe keine Vermittlung nötig. Eine solche Vorstellung läuft Gefahr die soziale Funktion der Kunst zu übersehen und einem Warenfetischismus anheim zu fallen, der sowohl die Künstler:innen als auch ihre Werke verdinglicht. Werden Kunstobjekte als Spekulationsobjekte mißbraucht, dann misst sich der Wert eines Kunstwerks nicht mehr an seiner sozialen Funktion, sondern an der Höhe des erzielten Verkaufspreises. Verbindet man die Funktion der Autonomie in der Kunst jedoch mit dem Diskurs über die soziale Relevanz der Kunst, also spricht man der Kunst eine notwendige konkrete soziale Funktion innerhalb der Gesellschaft zu, dann ergibt sich eine zweite Möglichkeit Autonomie in der Kunst zu denken. Die Autonomie der Kunst wird nicht idealisiert, sondern strategisch eingesetzt: Kunst ist nicht selbsterklärend und auch nicht unvermittelt erfahrbar, sondern sie erkämpft sich ihre Autonomie als dialogisch-ästhetische oder konfrontativ-widerständige Praxis, die sich in gesellschaftliche Machtstrukturen „einnistet“, um diese zu verändern. Aus dieser Perspektive kann Kunst und ihre Vermittlung gesellschaftliche Relevanz entfalten die über das Kunstsystem und den Kunstmarkt hinausgeht. Vermittlung als politische und soziale Praxis Sobald erkannt wird, dass Kunst und Vermittlung immer politisch Position beziehen müssen, da auch eine vermeintlich neutrale unpolitische Position den Status Quo und die damit verbundenen Machtstrukturen bestätigen würde, ergeben sich vielversprechende Handlungsmöglichkeiten. Als Mittel um bestehende Strukturen zu befragen und zu dekonstruieren ist Vermittlung in der Kunst ein Werkzeug, das Missstände im Kunstkanon aufzeigen kann und soll. Die Frage, wer den Diskurs bestimmt, berührt nicht nur die Vermittlung als Handlung, sondern auch Kunstvermittlung als veränderbares Konstrukt innerhalb einer Institution. Vermittlung ist ein Angebot, Kunst zu hinterfragen und bietet einen Ansatz darüber zu sprechen, warum, weshalb, wieso Kritik an Kunst und Kontext angebracht und wichtig ist. In diesem Sinne steht sie für eine produktive Streitkultur. Vermittlung – Mediation Mediation hat die Aufgabe einen Gesprächsraum innerhalb verhärteter Fronten, die sich zwischen unterschiedlichen Ansichten und Interessen gebildet haben, zu schaffen. Der Gesprächsausgang wird nicht konkret festgelegt, sondern bleibt offen. Kunstvermittlung ist häufig mit verhärteten Fronten konfrontiert, etwa zwischen der:dem Betrachter:in und einem sie:ihn provozierenden Werk. Der Wunsch, dass Kunst unvermittelt erfahren werden soll, prallt auf den Anspruch, dass Kunst sich nicht selten bewusst einer allgemeinen Verständlichkeit entzieht. Solcherart Fronten haben auch eine schützende und abgrenzende Funktion, die nicht beigelegt werden muss. Übt ein Kunst- und/oder Vermittlungsprojekt Institutionskritik, dann würde eine scheinbare und voreilige Beilegung des aufgezeigten Konfliktes dazu führen, dass die adressierten Ungleichheiten, sowie die machtvollen Interessen, die hinter den Fronten stehen, verharmlost werden. Dies ist nicht im Sinne der kritischen Kunstvermittlung. Es liegt im Arbeitsbereich der Vermittlung auftretende Fronten gemeinsam auf ihre Berechtigung und Wirksamkeit hin zu untersuchen und Konflikte produktiv zu machen. Das Issue 3 des appropriate! wird sich rund um die beschriebenen Schwerpunkte der Vermittlung drehen, die in Praxisberichten, Gesprächen in Textform, Buchrezensionen und Gäst:innenbeiträgen vertieft werden. Die Ausgabe erscheint im Frühjahr 2022 im Rahmen der Kunstvermittlung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. BEITRAGSTYPEN Praxisberichte In den Praxisberichten haben Studierende die Möglichkeit über ihre selbstentwickelten Vermittlungsprojekte zu schreiben. Dabei geht es jedoch nicht allein um eine Beschreibung der Projektumsetzung, denn ein elementarer Bestandteil der Praxisberichte ist auch, dass die Überlegungen, die der Umsetzung vorangegangen sind, sowie der Kontext, in dem das Projekt stattfand, den Leser:innen nahegebracht werden. Eine kritische Reflexion des Projekts und ein kurzes Fazit sollte enthalten sein. Wenn du gerne einen Praxisbericht verfassen möchtest, dann erkläre uns bitte auf einer halben Seite kurz, worum es sich bei deinem Projekt gedreht hat, und wie sich darin das Thema der Vermittlung widerspiegelt. Buchrezensionen Eine Buchrezension ist eine informative, aber auch kritische Buchvorstellung, in der die wichtigsten Inhalte des Buchs besprochen werden. Gleichzeitig bietet die Rezension Raum für eine persönliche Stellungnahme oder Empfehlung und ein begründetes Urteil über die Relevanz des Buchs. In unserem Journal möchten wir vorzugsweise aktuell erschienene Bücher vorstellen (2021/2022). Wenn du ein Buch rezensieren möchtest, dann nenne bitte auf einer halben Seite kurz, um welches Buch es sich genau handelt (Titel, Autor:in, Verlag, Jahr) und welchen Bezug es auf das Thema Vermittlung hat. Gespräche und Interviews Unter dieser Kategorie haben Studierende die Möglichkeit, eine Person zu einem Gespräch oder Interview einzuladen, die über eine Expertise oder besonderen Erfahrungswert in Bezug auf das aktuelle Thema des Journals verfügt, oder deren kunstvermittlerische Arbeit man in Hinblick auf das aktuelle Thema des Journals befragen möchte. Über das Gespräch soll im Anschluss ein Fließtext in eigenen Worten geschrieben werden, der dann im Journal erscheint. Wenn du ein Gespräch oder Interview im Rahmen des Webjournals führen möchtest, um deinen Gesprächsbericht anschließend in der aktuellen Ausgabe zu veröffentlichen, dann bitte fasse auf einer halben Seite kurz zusammen, wen du gern als Gesprächspartner:in interviewen möchtest und wieso diese Person deiner Meinung nach in Verbindung zum aktuellen Thema der Vermittlung dafür geeignet ist. Für uns sind diese Informationen wichtig, damit wir sie in unsere Entscheidung über die Beitragsauswahl mit einbeziehen können. Theoriebeiträge Zu jeder Ausgabe laden wir zwei bis drei Gäst:innen dazu ein, zum aktuellen Thema einen Text zu verfassen. Wir möchten durch diese Beiträge Aspekte unseres aktuellen Themas beleuchten, die wir über Praxisberichte, Gesprächsbeiträge oder Buchrezensionen möglicherweise nicht abdecken können, die für uns aber so relevant sind, dass sie nicht fehlen dürfen. Außerdem bietet sich so die Chance, der Expertise aus anderen Fachbereichen Raum zu geben. Wenn du einen Vorschlag hast, welche Person eine besonders interessante Position zum aktuellen Thema vertritt und einen wertvollen Beitrag zum Thema Vermittlung verfassen könnte, freuen wir uns über einen kurzen Vorschlag. Anker 1 Open Call for submissions – Web journal appropriate! Issue 3 SHORT INFO The Open Call is open to students and members of all institutes of the HBK Braunschweig Topic: Mediation/Education (Vermittlung) Deadline for abstract: 20 February 2022 Languages: German, English The appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst (Journal for Appropriation and Mediation of Art), will publish its third issue this spring as part of the HBK's art mediation program. The editorial team is asking for text contributions on the topic of mediation/education (Vermittlung). Contributions will be published in the categories: Theory, Experience Report, Interview Report, Book Review. The contributions can be written in German as well as in English. The texts that will eventually appear in issue 3 will be editorially supported and professionally proofread. If you are interested in writing and publishing a text in one of the categories, please apply by 20.02.2022 with a short draft/abstract stating in which of our categories you would like to write your text and how exactly the thematic connection to mediation/education looks like. Further down in this e-mail you will find a description of the topic of Issue 3 as well as a brief explanation of the four types of contributions. Please send all applications to: j.teubert@hbk-bs.de Deadline: 20.02.2022 We look forward to receiving your applications! Best regards Editorial Team Issue 3: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert (Tutor of the Journal) ISSUE 3, MEDIATION/EDUCATION (VERMITTLUNG) Issue 3 of the journal appropriate! is dedicated to the topic of mediation/education. Mediation balances opposites, is a service, creates connections, serves as a mediator, and establishes an agreement between different views and interests. Mediation as a practice with and for other people enables the acquisition of knowledge and the exchange of opinions between participants about a subject to be communicated. According to Alexander Henschel, the term is used in connection with art "as a marker for art-related educational work in a wide variety of institutional settings as well as for forms of curating, art criticism, gallery sales, or cultural management." (Translated by the editorial team) Henschel points out that art education can be interpreted differently depending on its purpose and conception. Therefore, in this issue, the meaning of the term is narrowed to critical art mediation. We understand art mediation as an engaged practice. The status quo is critically examined and/or deconstructed. The artwork, the artist, the exhibition, or the art project are located within the social context and viewed from different perspectives. Art mediators move 'in between' and fulfil the function of mediators who can contribute to an open-ended exchange between people with different backgrounds and opinions. The following are some of the topics that are of particular interest to us in Issue 3: Must art mediate itself and be communicable? Is there art that cannot be communicated? Can even art exist today in which the mediation aspect is not taken into consideration? What is the significance of aesthetic autonomy in this context? Proponents of an idealized view of the autonomy of art claim that art must be self-explanatory and that there is no need for mediation. Such a concept of art runs the risk of overlooking its social function and thereby falling prey to a commodity fetishism that reifies both the artists and their works. If artworks are misused as objects of speculation, then their value is no longer measured by their social function, but by the amount of the selling price achieved. However, if one connects the function of autonomy in art with the discourse on its social relevance, in other words, if one assigns art being a necessary concrete social function within society, then a second way of thinking about autonomy in art emerges. The autonomy of art will be used strategically. Art autonomy is not understood as being simply given it has to be achieved permanently. As a dialogical or confrontational practice, art fights for its autonomy and ‘nests’ in social power structures to change them. From this perspective, art and its mediation can develop social relevance that goes beyond the art system and the art market. Mediation as political and social practice Even if art tries to take a neutral and non-political position it would confirm the status quo and its power structures. Especially in the context of socially engaged art and mediation practices it is necessary to recognize this condition. To question and deconstruct existing structures, mediation in the art can be used as a tool that points out social injustices in the art canon. The question of who determines the discourse touches not only mediation as an action, but also art mediation as a changeable construct within an institution. Mediation is an offer to question art and offers an approach to talk about reasons why criticism of art and context is appropriate and important. In this sense, it stands for a productive culture of dispute. (Art) Mediation Mediation has the task of creating a space for discussion within hardened fronts that have formed between different views and interests. The outcome of the conversation is not concretely determined but remains open. In art mediation, one is often confronted with hardened fronts such as the ones between the viewers and provocative artworks. The desire to consume and experience art more or less effortlessly clashes with the claim that art intentionally avoids finite interpretation and often eludes general comprehensibility. Such fronts also have a protective and delimiting function that should not be overcome. If an art project and/or mediation project exercise institutional critique, then an apparent and hasty settlement of the highlighted conflict would lead to downplaying the addressed inequalities, as well as the powerful interests that stand behind the fronts. This is not in the sense of critical art mediation. It is within the field of work of art mediation to examine occurring fronts together for their justification and effectiveness and to make conflicts productive. Issue 3 of appropriate! will revolve around the described main focuses of mediation, which will be explored in-depth in experience reports, conversations in text form, book reviews and guests' contributions. The issue will be published in spring 2022 as part of the art mediation program of the Braunschweig University of Arts. CONTRIBUTION TYPES Experience Report In the experience report, students can write about their self-developed art mediation projects. However, it is not only about a description of the project realization. An elementary component of the experience report is that the considerations that preceded the realization, as well as the context in which the project took place, are made accessible to the reader. A critical reflection of the project and a short conclusion should be included. If you would like to write an experience report, please explain briefly in half a page what your project was about and how it reflects the topic of mediation. Book Reviews A book review is an informative, yet critical, book introduction that discusses the main content of the book. At the same time, the review provides space for a personal statement or recommendation and a reasoned judgment about the relevance of the book. In our journal, we prefer to present books that have been recently published (2021/2022). If you would like to review a book, please state briefly on half a page exactly what the book is about (title, author, publisher, year) and how it relates to the topic of mediation. Conversations and Interviews Under this category, students may invite a person/group to participate in a conversation or interview who has expertise or special experiential value related to the current topic of the journal, or whose art education work suits the current topic of the journal. A continuous text in your own words should then be written about the conversation, which will be published in the journal. If you would like to conduct a conversation and write an interview report to be published in the next issue, please summarize on half a page who you would like to interview and why you think this person is suitable concerning the current topic of mediation. Theory contributions For each issue, we invite two to three guests to write a text on the current topic. By these contributions, we would like to shed light on aspects of our current issue that are not covered in the other types of text. It also provides an opportunity to give space to expertise from other disciplines. If you have a suggestion about which person holds a particularly interesting position on the current topic and could write a valuable contribution on the topic of mediation, we would be happy to receive a brief suggestion.
- Issue 3 Zwischen politischer und kultureller Bildung | appropriate
Daphne Schüttkemper und Julika Teubert im Gespräch mit Linda Kelch Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Zwischen politischer und kultureller Bildung: Im Gespräch mit Linda Kelch Daphne Schüttkemper und Julika Teubert Im Gespräch mit Linda Kelch Screenshot: JulikaTeubert (c) 2022 Porträt von Linda Kelch (c) Linda Kelch In Deutschland gibt es eine staatliche Institution, die sich dem Auftrag der politischen Bildung bundesweit angenommen hat: Die Bundeszentrale für politische Bildung, kurz bpb. Ihre Hauptaufgaben sind die Vermittlung zwischen Politik und Bürger:innen und die Gewährleistung politischer Bildung. Diese spezifische institutionelle Arbeit ist in dieser Form europaweit einzigartig. Natürlich steht die Gründung der bpb im Jahr 1952, kurz nach dem 2. Weltkrieg, in enger Verbindung mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Aber auch die spätere deutsche Geschichte zeigen die Notwendigkeit auf, politische Bildung sicherzustellen. Aufgrund dessen verpflichtet sich die bpb im Jahr ihres 70-jährigen Jubiläums, weiterhin „die Entwicklung eines sich auf Demokratie, Toleranz und Pluralismus gründenden politischen Bewusstseins zu fördern.”[1] In Hinblick auf die Frage zum Verhältnis von politischer und kultureller Bildung führten wir ein Gespräch mit Linda Kelch, die derzeit in der Projektgruppe Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung ‚Landshut‘ an der Schnittstelle von politischer und kultureller Bildung tätig ist. Thematische Schwerpunkte ihrer Arbeit sind unter anderem die Kulturalisierung von Politik und Politisierung von Kultur aus interdisziplinärer Perspektive. Bereits seit 2015 arbeitet sie für die bpb. Innerhalb der politischen Bildung ist das Vertraut-machen mit der Demokratie eines der zentralen Themen, denn es ist eine Voraussetzung zur Teilhabe an demokratischen Prozessen. Schließlich kann die Demokratie ohne Partizipation der Beteiligten schlichtweg nicht funktionieren. Immer wieder benötigt es neuer Strategien und Impulse, um das komplexe System der Demokratie zu verstehen, oder überhaupt zu erlernen: „Man kommt sozusagen nicht als Demokrat:in auf die Welt. Man wird es, wenn man politische Bildung genießen kann.”, sagt Linda Kelch im Gespräch mit uns. Trotzdem geht die politische Bildung in ihrem Kern über eine Aufrechterhaltung des Status Quo und seiner Legitimation hinaus. „Bei der politischen Bildung geht es zentral um Kritikfähigkeit, um Mündigkeit und am Ende die dafür notwendige Urteilsfähigkeit.”, sagt Linda Kelch. Das sei ein wichtiger Unterschied zwischen Demokratiebildung und politischer Bildung. Zunächst fragten wir uns, was für eine Struktur die bpb hat, und was diese für die Unabhängigkeit ihrer Bildungsarbeit bedeutet. Denn da sie eine nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums, kurz BMI ist, und ihre Arbeit durch eine Fachaufsicht des BMI überwacht wird, muss natürlich ihre politische Unabhängigkeit gewahrt werden. Als Behörde folgt die bpb einer typischen Struktur in Aufbau und Leitung durch den Präsidenten und die Verwaltung, neben der die Fachabteilung steht. Doch besteht so nicht die Gefahr, dass durch den Aufbau der Behörde die Mitarbeitenden und auch Projekte einseitig beeinflusst werden könnten? Zum Beispiel fragten wir uns, inwiefern und ob sich in der Vergangenheit und heute ein “männlicher Blick” in der Bildungsarbeit der bpb widerspiegelt. “Die Verwaltung ist keineswegs unpolitisch, selbst wenn sie parteipolitisch neutral ist”, betont Linda Kelch, und “es wäre komplett naiv, davon auszugehen, dass die bpb sich außerhalb der Machtstrukturen befindet, die insgesamt in der Gesellschaft vorherrschen.” Um einen Machtmissbrauch zu verhindern, orientiert sich die bpb an ihren formulierten Grundsätzen und nutzt eigene Qualitätskriterien, die eine Dezentralisierung und Pluralisierung von Perspektiven ermöglichen sollen. "Das ist ja eine Aufgabe von politischer Bildung: Das, was in der Gesellschaft kontrovers ist, auch kontrovers abzubilden und diskutierbar zu machen.” sagt Linda Kelch, “und das bedeutet eben auch, diejenigen Perspektiven sichtbar und hörbar zu machen, die da sind, aber aufgrund von Machtasymmetrien marginalisiert werden.”. Dieses sog. Kontroversitätsgebot liegt der Konzeption aller nach außen gerichteter Arbeit zugrunde und stellt auch sicher, dass die Umsetzung von Projekten oder Formaten, die sich mit einer Machtasymmetrie in der Gesellschaft auseinandersetzen nicht in ihrer Umsetzung durch eben diese gehemmt werden können. Andererseits liegt es bspw. im Auftrag der Gleichstellungsbeauftragten, zu kontrollieren, wie die Personalfindung und -führung innerhalb der Behörde umgesetzt wird. Auch Abläufe, wie die regelmäßige Berichterstattung über die Tätigkeit der bpb gegenüber dem BMI und dem Parlament, oder die Beantwortung kleiner Anfragen sollen sicherstellen, dass die Arbeit der bpb nicht zweckentfremdet werden kann. Dazu sagt Linda Kelch außerdem: “Ich würde sagen, dass wir an der Stelle auch sehr viel Selbstreflexion üben und immer wieder versuchen, das zu hinterfragen, was wir tun vor dem Hintergrund des Auftrags, den wir haben. Und der lautet eben nicht eine bestimmte Perspektive und den männlichen Blick abzubilden oder zu verstärken, sondern gerade zu dezentralisieren und ins Verhältnis zu setzen.” Trotz der klaren Abläufe innerhalb der bpb ist laut Linda Kelch die Struktur der Behörde immer wieder so flexibel, dass fachbereichsübergreifende Projektarbeiten möglich sind. Für die Projektgruppe Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung ‚Landshut‘ ist dies sogar essenziell, denn sie hat im Sinne einer Stabsstelle, die statt einem Fachbereich direkt dem Präsidenten unterstellt ist, den Auftrag hausweit koordinierend tätig zu sein. Doch wo hört der politische Sektor auf und wo beginnt der kulturelle? Kann man diese großen Felder überhaupt separat betrachten? Schließlich sind viele Bereiche unseres Lebens Ort der politischen Verhandlung und Kultur beinhaltet viel mehr als „nur“ die schönen Künste. Schaut man auf die Historie und Theorie zurück lassen sich die beiden Bildungsbereiche besonders in ihrer Zielsetzung voneinander unterscheiden. Das Bundesinnenministerium definiert politische Bildung „als einen notwendigen Bestandteil der freien und offenen Gesellschaft, da sie eine wehrhafte und streitbare Demokratie stärkt“. Sie möchte den Bürger:innen Kompetenzen vermitteln, um das eigene Urteilsvermögen zu stärken, ihre eigene Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu erkennen und an ihren Prozessen teilzuhaben. Dem entgegen verfolgt die „kulturelle Bildung die Fähigkeit zur erfolgreichen Teilhabe an kulturbezogener Kommunikation mit positiven Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe insgesamt." Ihre Ziele sind unter anderem die Stärkung der individuellen Persönlichkeit, die Reflexion des eigenen Verhaltens und der Werthaltung gegenüber der eigenen Identität, sowie die Lebensgestaltung in Verbindung mit den Künsten. Doch der Name der Projektgruppe Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung ‚Landshut‘ lässt sich auf keinen spezifischen Fachbereich oder eine konkrete Bildungsmethode reduzieren: „Unserer Meinung nach ist die Entgrenzung, die wir überall in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen feststellen nur adäquat fassbar, wenn wir auch methodisch entgrenzt vorgehen. Das heißt, sich nicht zu versteifen auf die Methoden politischer Bildung, die vielleicht vor 50 Jahren mal adäquat waren.“ erklärt uns Linda Kelch den Hintergrund der Projektgruppe. Alle Wertvorstellungen, Dinge und Objekte des Lebens seien wichtig, um unsere aktuelle Gesellschaft zu verstehen. Kultur spiele auf vielen Ebenen eine wichtige Rolle - „Alles, was uns unter dem Schlagwort Polarisierung einfällt, wird explizit im Kulturbereich ausgetragen”. Auch lässt sich eine Politisierung kultureller Akteur:innen wahrnehmen, was unter anderem an den vielen Herausforderungen und Krisen unserer Zeit liegt. Themen der Identität, Machtverhältnisse und Repräsentation sind enorm politisch. Linda Kelch betont, dass diese vielen Phänomene für die Arbeit der politischen Bildung beachtet und mitgedacht werden müssen. Aus diesem Grund versucht die Projektgruppe die Methoden der politischen Bildung stetig zu erweitern und anzupassen. Oft arbeiten sie für ihre Projekte mit externen Partner:innen aus Kulturinstitutionen (Museen, Theater, Literatur u.v.m.) zusammen, um die Expertise der kulturellen Bildung mit der politischen zu vereinen.[2] Die punktuelle Projektarbeit bietet so eine wichtige Möglichkeit auch langfristig angelegte Formate kurzfristig an das Zeitgeschehen anzupassen. Denn wer zu einer Zusammenarbeit angefragt wird, ist aus politischer Perspektive relevant. Das sieht auch Linda Kelch so: „Das ist ja auch wiederum eine Frage von Macht, die ich ganz explizit habe, indem ich Veranstaltungen konzipiere und mir dabei überlege, wen ich aufs Podium setze und wen nicht.“ Hinzukommt, dass die verschiedenen Fachbereiche in unterschiedlichen Formaten arbeiten und sich jeweils an verschiedene Zielgruppen richten. So kann fokussierter auf die Bedürfnisse und Wissensgrundlagen eingegangen werden, die sich z.B. von der Grundschule zu der Oberstufe enorm unterscheiden. Darüber hinaus stellt die bpb ein breites Angebot für Lehrkräfte und Multiplikator:innen aus Politik, Bildung und Kultur. So seien die vielen Projektgruppen aktuell dazu aufgerufen „Ukrainische Stimmen und die Positionen stark zu machen, die jetzt in die Verteidigungshaltung gedrängt werden und auch, sich eine langfristige Strategie zu überlegen, wie man das, was vielleicht in den letzten Jahren nicht deutlich genug hörbar war, in Zukunft stärker vernehmbar machen kann.“, so Linda Kelch. Dieser Ansatz Linda Kelchs ist selbstreflexiv und sollte von Vermittler:innen in allen Bildungsbereichen verfolgt werden. Nämlich, sich selbst als Vermittler:in immer wieder aufs Neue zu fragen: Wen lasse ich (nicht) reden? Wem höre ich (nicht) zu? Linda Kelch arbeitet in der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb an Konzepten einer interdisziplinären Vermittlung zwischen politischer, ästhetischer, historischer und kultureller Bildung. Diese setzt sie u.a. in Kooperationsprojekten mit verschiedenen Akteur:innen aus dem Kulturbereich um. Seit 2022 ist sie Co-Leiterin der Projektgruppe „Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung Landshut“. Quellenverzeichnis „Leitbild der Bundeszentrale für politische Bildung | bpb.de.” BPB, 20 May 2003, https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51248/leitbild-der-bundeszentrale-fuer-politische-bildung/ https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59939/zum-verhaeltnis-von-politischer-und-kultureller-bildung/ https://www.uni-hildesheim.de/kulturpraxis/zum-verhaeltnis-von-kultureller-und-politischer-bildung/ https://www.deutschlandfunkkultur.de/zwischen-propaganda-public-relations-und-politischer-100.html https://www.bpb.de/die-bpb/presse/505952/europapolitische-bildung-in-der-zukunft-notwendigkeiten-und-moeglichkeiten/ Endnoten [1] „Leitbild der Bundeszentrale für politische Bildung | bpb.de.” BPB, 20 May 2003, https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51248/leitbild-der-bundeszentrale-fuer-politische-bildung/ [2] Ermert, Karl: Was ist kulturelle Bildung?, 2009 [3] Aktuell betreut Linda Kelch beispielsweise die Reihe “KLASSE DENKEN” im Rahmen des Philosophischen Festivals in Köln. Dort reisen Schulklassen an, um mit Denker:innen und Philosoph:innen über relevante Themen zu diskutieren. 1
- Issue 3 Editorial | appropriate
Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Editorial, Issue 3 Appropriate Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Editorial Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Das Issue 3 des Journals appropriate! widmet sich dem Thema Vermittlung. Nach Alexander Henschel wird der Begriff im Zusammenhang mit Kunst „als Marker für kunstbezogene Bildungsarbeit in verschiedensten institutionellen Settings ebenso verwendet wie für Formen des Curatings, der Kunstkritik, des Galerieverkaufs oder des Kulturmanagements.“ (Henschel 2019: 19) Der Sammelbegriff der Kunstvermittlung wird somit unterschiedlich je nach Zweck und Auffassung ausgelegt. In der Kunstvermittlung prallen also teils gegensätzliche Interessen aufeinander. Wie der Begriff interpretiert wird, hängt von der Perspektive der Person ab, die ihn verwendet. In dieser Ausgabe wird die Bezeichnung deshalb im Sinne der kritischen Kunstvermittlung eingegrenzt. Vermittlung ist eine Handlungsform mit und für andere Menschen, um Wissenserwerb und Austausch zu ermöglichen. Über die Wissensaneignung in einem bestimmten Themenfeld hinausgehend soll jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Inhalt, eingebettet in den Kontext, angestoßen werden. In der kritischen Kunstvermittlung soll der Status quo nicht eins zu eins abgebildet, sondern anhand der Vermittlungssituation kritisch betrachtet und/oder dekonstruiert werden. Wir verstehen Kunstvermittlung als eine Praktik, die so unabhängig wie möglich von Marketinginteressen durchgeführt wird, da dies auf Kosten der Komplexität künstlerischer und unbequemer Vermittlung gehen kann. Die Qualität der Vermittlungsarbeit lässt sich nicht immer an der Zahl der Besucher:innen messen. Engagierte Vermittlung soll dort intervenieren, wo Kontext und Informationen fehlen, um sich mit den Kunstwerken oder Künstler:innen kritisch auseinanderzusetzen, oder auch mit dem Ausstellungs- und Vermittlungsort selbst. In insgesamt sieben Beiträgen wird in dieser Ausgabe des Webjournals auf verschiedene Aspekte von Vermittlungsarbeit eingegangen: Daphne Schüttkemper und Julika Teubert berichten über ihr Gespräch mit Linda Kelch, die an der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in der Projektgruppe Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung ‚Landshut‘ arbeitet. Dabei warfen sie zunächst einen kritischen Blick auf die Struktur der bpb, um mögliche Faktoren zu ermitteln, die die Vermittlungsarbeit der Institution einseitig beeinflussen könnten. Anschließend sprachen sie mit ihr über das Verhältnis von kultureller und politischer Bildung. Sie stellten die Fragen, ob sich diese beiden Felder noch klar voneinander trennen lassen und ob eine solche Trennung überhaupt notwendig ist. Im Praxisteil werden drei Projekte vorgestellt, die sehr unterschiedliche Kunst-Vermittlungsformate beschreiben. Was sie eint ist, dass sie Gedichte und andere literarischen Quellen einbinden. Dani-Lou Voigt schreibt über den Ansatz ihrer Vermittlungsarbeit, nach Verbindungen zwischen dem zu suchen, was sich im White Cube abspielt, und dem, was in der Stadt passiert. Diese Beobachtungen macht sie durch Interventionen im öffentlichen Raum sichtbar, sodass Passant:innen plötzlich im Alltag mit irritierenden künstlerischen Elementen konfrontiert werden. Es geht ihr weniger darum, ein konkretes künstlerisches Werk zu vermitteln, sondern vielmehr darum, das Gefühl, das eine künstlerische Arbeit auslösen kann, aus der Ausstellung in den Stadtraum zu tragen. Sie vermittelt folglich zwischen Kunstraum und Stadtraum, möchte beide Räume einander näherbringen, indem sie ihre Überschneidungspunkte zu Berührungspunkten macht. Annika Niemann, Manuel Bendig und Linus Jantzen berichten von ihrem experimentellen Vermittlungsworkshop „Night Audition“, den sie in Bezug auf die Ausstellung „Gods Moving in Places“ in der ifa-Galerie Berlin (2022) konzipiert haben. Referenz- und Bezugspunkt der Ausstellung – und so auch des Workshops – ist der auf Martinique geborene Schriftsteller, Theoretiker, Aktivist und Philosoph Édouard Glissant, der als Vordenker des Postkolonialismusdiskurses gilt. Im Rahmen des Workshops wird das Konzept der Opazität (das Undurchdringliche), ein signifikanter Aspekt von Glissants Weltanschauung, praktisch in Bezug auf die Kompatibilität mit Vermittlung geprüft. In dem von Xuan Qiao und Ye Xu beschriebenen Projekt geht es darum, mithilfe von Gedichten universelle Werte zu finden, die über die Grenzen von Nationen und Kulturen hinweg gelten. Dabei fällt ihnen auf, dass es oft ganz unterschiedliche Bedeutungsebenen ein und derselben Sache gibt, je nachdem wer sie aus welchem Blickwinkel betrachtet. Trotzdem spiegeln Gedichte früher wie heute die Entwicklung von Kulturen und Gemeinschaften wider und machen sich durch diesen Gegensatz interessant für den transformativen Ansatz des Workshops: In kollektiv entwickelten Gedichten finden verschiedene Blickwinkel und Bedeutungsebenen zusammen und führen so von Filterblasen weg – hin in Richtung interkulturelles Verständnis und Kommunikation. Drei Gästinnenbeiträge vervollständigen das Issue 3: Nora Sternfeld analysiert mittels einer autoethnografischen Methode die neoliberalen Einflüsse auf die Anfänge der progressiven kritischen Kunstvermittlung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und wie diese bis heute nachwirken. Sie und andere kritische Kunstvermittler:innen wollten die Museen neu erfinden und so stellten sie sich dem Anspruch, am „Kreuzungspunkt von Diskursen der Macht und der Befreiung“ (Carmen Mörsch) offen, experimentell und selbstreflexiv zu sein. Die Logik des allgegenwärtigen Neoliberalismus förderte dabei zwar den Eigensinn und die kritische Herangehensweise der Kunstvermittler:innen, verhinderte aber zugleich, dass sie im Museum fixe Anstellungen erhielten. Mit Bezug auf Antoni Gramsci versucht die Autorin schließlich, den Widerspruch zwischen Affirmation und Kritik, der jeder Form von kritischer Vermittlung und Pädagogik innewohnt, dialektisch aufzuheben: Sie fordert, Vermittlung parteiisch zu verstehen und sie als Zwischenraum, als Widerstand, als Konflikt wirken zu lassen. Karin Schneiders Beitrag schließt hier nahtlos an, indem sie, ausgehend von Gedächtnisprotokollen vergangener Vermittlungsprojekte, wichtige Schlussfolgerungen über ihre Arbeit zieht. Ihre Protokolle fügen sich zu einer Art „kunstvermittlerischem Archiv“ zusammen, das ihr als Grundlage einer kritischen Selbstreflexion dient, aber auch Handlungsansätze für zukünftige Projekte sammelt. Eine wichtige Beobachtung, die sie in ihren Gedächtnisprotokollen macht, sind sogenannte Transition Points. Damit meint sie den Moment, in dem sich die Dynamik der Gruppe, mit der sie arbeitet, plötzlich ändert, weil etwas Neues, Unbestimmtes passiert und sich angestaute Spannung in positiver und produktiver Aktivität entlädt. Sie geht dem Ursprung dieser Transition Points nach und fragt, ob und wenn ja wie sie sich stimulieren lassen. Antrieb ist dabei der Anspruch und die Notwendigkeit, die eigene Praxis stetig anzupassen und weiterzuentwickeln. Lynhan Balatbat-Helbock beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Problematik rassistischer und menschenunwürdiger Inhalte, die in diversen Objekten und Zeugnissen der Vergangenheit in Archiven enthalten sind. Wie soll mit diesem toxischen Archivmaterial, das Teil von staatlich organisiertem Völkermord und kollektiver Vernichtung war, umgegangen, wie Vermittlung geleistet werden? Balatbat-Helbock sucht nach Methoden, die die Kontinuitäten von Unterdrückungspolitiken, die in diesem Material enthalten sind, erfahrbar machen und die Verantwortung gegenüber den damit verbundenen Verbrechen verdeutlichen. Als Beispiel wird die SAVVY Contemporary angeführt, die sich als Parainstitution den konventionellen Vorgaben des Ausstellens entzieht und dadurch neue Handlungsspielräume freisetzt. Mit Bezug auf das Projekt Colonial Neighbours plädiert Balatbat-Helbock dafür, Expansionen, Besetzungen, Zwangsarbeit und Völkermorde nicht als abstrakte Themen in Archiven zu schubladisieren, sondern den Fokus auf die Nachwehen zu legen, die in der Gegenwart weiterwirken. Im Gegensatz zu starren Denkmälern, durch die Erinnerung scheinbar unveränderbar in Stein gemeißelt wird, fordert die Autorin dazu auf, vom eigenen Sein auszugehen und Erinnerung als Teil unseres gebrochenen Daseins zu verstehen. Denn für die einen mag es sich um vergangene Ereignisse der Ungleichheit handeln, die sie persönlich kaum berühren, für andere „sitzen die Wunden tief und die multiplen Traumata direkt unter der Haut“. Die Redaktion des Issue 3 | Vermittlung | setzt sich zusammen aus: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Literatur Henschel, Alexander, Dietmar, 2019. Was heißt hier Vermittlung? Kunstvermittlung und ihr umstrittener Begriff. Wien: Zaglossus e. U 1
- Issue 1 Rudolph | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Access All Areas oder Digital Divide? Ungleichheitsperspektiven auf Kunst und digitale Kunstvermittlung in Zeiten von Covid-19 Steffen Rudolph In vielen Bereichen offenbart die Covid-19-Pandemie wesentliche Versäumnisse der vergangenen Jahre, beispielsweise was die Digitalisierung von Schulen, Universitäten oder der öffentlichen Verwaltung betrifft, und wird als längst notwendiger Schub für entsprechende Initiativen betrachtet. Zugleich schlagen digitale Ungleichheiten umso deutlicher durch, da Zugang zu und Verwendung von digitalen Medien zur Conditio sine qua non bei der Bewältigung des Alltags werden. Ob Homeoffice, Homeschooling oder Buchung eines Impftermins – ohne ausreichend digitale Bandbreite und technische Ausstattung sowie Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Geräten und Plattformen ist die Exklusion von grundlegenden gesellschaftlichen Ressourcen vorgezeichnet. Mit dieser verschärften Problematik der digitalen Exklusion ist seit der weltweiten temporären Schließung von Museen und Ausstellungsräumen auch das Kunstfeld konfrontiert, wenn etwa Publika nur noch digital erreicht werden können und kulturelle Partizipation vornehmlich im Internet stattfindet. Das Publikum kultureller Einrichtungen Dass der Zugang zum künstlerischen Feld nicht nur für die Produzent:innen von Kunst, sondern auch für das Publikum ungleich strukturiert ist, stellt eine maßgebliche Herausforderung für jede Art von Kunstvermittlung dar. Insbesondere Pierre Bourdieu hat mit seinen Arbeiten Forschungen initiiert, die sich Inklusion und Exklusion im Kunstfeld widmen. Folgt man Bourdieu, so besitzt bildende Kunst als Bereich legitimer Kultur, gemeinsam mit klassischer Musik, die am stärksten klassifizierenden Effekte. Das heißt, gerade über den Besuch von Konzerten und Vernissagen findet die herrschende kulturelle Hierarchie Bestätigung und lassen sich Distinktionsgewinne erzielen. Bereits in „L’amour de l’art“ (1966) wendet sich Bourdieu gegen jegliche Ideologie eines vermeintlich angeborenen Kunstsinns und beharrt auf der Feststellung, dass ungleich verteiltes kulturelles Kapital einen entsprechend ungleichen Zugang zu künstlerischen Arbeiten erzeugt. Kurz, wer nicht mit Kunst und Kultur sozialisiert wurde – vor allem im Elternhaus, aber auch in Bildungsinstitutionen, die zugleich genau jene Primärsozialisation im familiären Kontext belohnen –, dem fällt der spätere Zugang ungleich schwerer. Zahlreiche Studien zur Rezeption von (Hoch-)Kultur, vorwiegend in den sogenannten westlichen Gesellschaften (vgl. zum Beispiel Kirchberg 1996, DiMaggio/Mukhtar 2004, Reuband 2007, Rössel 2009), zeigen auf empirischer Ebene, dass auch heute noch Besucher:innen mit hohem Bildungskapital in Museen und Institutionen bildender Kunst oder auch klassischen Konzerten und Opernhäusern deutlich überrepräsentiert sind, Personen mit eher niedrigem Schulabschluss oder Arbeiter:innen als Berufsgruppe hingegen kaum den Weg in den Konzertsaal oder die Ausstellung finden.[1 ] Entgegen einer erhofften Inklusion breiter Bevölkerungsgruppen deutet die zeitliche Betrachtung eher in Richtung einer wachsenden Exklusivität der Kulturrezeption, insbesondere im Bereich der (zeitgenössischen) bildenden Kunst (vgl. Munder/Wuggenig 2012), und damit in Richtung einer Perpetuierung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Zusätzlich ist im Kontext von Kunst und hochkulturellen Aktivitäten eine altersspezifische Komponente hinsichtlich der Rezipierenden relevant. Sieht man vom relativ betrachtet eher jungen Publikum ab, das sich um Kunstvereine, Offspaces und Kunsthochschulen bewegt, so ist der Altersdurchschnitt von Besucher:innen künstlerischer Ausstellungsräume eher höher als der Bevölkerungsdurchschnitt, was als Resultat zweier Bewegungen interpretiert werden kann: der Zunahme kultureller Partizipation bei älteren Menschen, die durch den demografischen Wandel zusätzlich Verstärkung erfährt, bei gleichzeitigem Nachlassen der Partizipation an Hochkultur bei jungen Menschen (vgl. Reuband 2016). Neben dem maßgeblichen Einfluss von kulturellem Kapital bzw. sozialer Position und Alter auf die kulturelle Teilhabe zeigen sich auch Ungleichheiten mit Blick auf die migrantische Bevölkerung: Noch immer ist in klassischen Kultureinrichtungen ein migrantisches Publikum deutlich unterrepräsentiert (vgl. Mandel 2013, Allmanritter 2017). Hoffnungen auf mehr Partizipation durch digitale Medien Geht man von dieser Situation ungleicher kultureller Teilhabe aus, dann könnte eine Hoffnung auf mehr Zugänglichkeit und Offenheit für soziale Gruppen im Bereich bildender Kunst auch in der Digitalisierung von Kunst liegen. Digitale Medien wurden aus optimistischer Perspektive von vielen Seiten als große Ausweitung von Partizipationschancen und Teilhabemöglichkeiten begrüßt. Im Fokus standen hierbei in erster Linie Formen politischer und sozialer Partizipation, etwa im Kontext politischer Meinungs- und Willensbildung, der Stärkung zivilgesellschaftlicher Akteure und hinsichtlich der Transformation des Verhältnisses von Bürger:innen und staatlichen Institutionen sowie politischen Organisationen. Insbesondere die mit dem Web 2.0 und Social Media assoziierten digitalen Medien haben zusätzlich zu einem Schub an Hoffnungen auf mehr Partizipation, Kommunikation und Interaktion geführt. Ob Vernetzungspotenziale, neue Formen der Partizipation an Öffentlichkeiten wie „Participatory Journalism“ (vgl. Singer et al. 2011) oder die gemeinschaftliche Herstellung von Commons wie der Wikipedia, der „Participative Turn“ (Bruns 2016: 2107) durch die digitalen Plattformen scheint nach Ansicht zahlreicher Autor:innen Teilhabechancen prinzipiell deutlich erweitert zu haben. Auch im kulturellen Bereich werden mit digitalen Technologien große Hoffnungen auf eine Demokratisierung verbunden, vor allem hinsichtlich einer umfassenden Zugänglichkeit und erweiterten Partizipation an Kultur (vgl. Council of Europe 2018). Nach Ansicht von G. Wayne Clough (2013: 2), damaliger Secretary der Smithsonian Institution, würden Museen durch die Digitalisierung und den Onlinezugang zu ihren Sammlungen und Ausstellungen, zu Bildern, Objekten etc. den Zugang zu Wissen demokratisieren und besonders all jenen eine Teilhabe ermöglichen, denen ein Besuch nicht möglich sei. Nicht erst seit der Corona-Pandemie haben zahlreiche Kunstinstitutionen Teile ihres Ausstellungsprogramms digital zugänglich gemacht, wobei gerade das Budget und die Kooperation mit Technologieunternehmen wie Google (Tate Gallery, Metropolitan Museum of Art, Eremitage etc.) besonders den großen Häusern einen technischen Vorsprung bei der Digitalisierung verschafft haben. Digitale Ungleichheiten Dass allerdings auch hinsichtlich des Zugangs zum Internet sowie der notwendigen Kompetenzen und Praktiken im Umgang mit digitalen Medien strukturierende Effekte wirken, der vermeintlich objektive Möglichkeitsraum im Digitalen durch die jeweilige Verfügbarkeit von Ressourcen geprägt ist, wird aus der Forschung zur Digital Divide durch vielfältige Studien bekräftigt (vgl. DiMaggio et al. 2004, Zillien 2006, van Deursen/van Dijk 2014, Rudolph 2019). Differenziert wird hierbei in erster Linie zwischen einer First(-Level) Digital Divide, die Ungleichheiten im Zugang thematisiert, und einer Second(-Level) Digital Divide, mit der die ungleiche Verwendung des Internets mit den daraus folgenden Einflüssen auf Teilhabechancen adressiert wird. Digitale Ungleichheiten ergeben sich demnach auf verschiedenen Ebenen. Zuerst einmal sind grundsätzlich auf der Ebene des reinen Zugangs die basale Frage nach dem eigentlichen Internetzugang und die vornehmlich technische Ausstattung von Relevanz. Vor allem jüngere Kohorten besitzen diesbezüglich mittlerweile Vorteile – nahezu durchweg ist ein Zugang zum Internet vorhanden. Dennoch hängt etwa die Internet- und Geräteausstattung von der sozialen Position und den verfügbaren Ressourcen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Homeschooling-Situation im Rahmen der Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass die Teilnahme am schulischen Unterricht deutlich durch ungleiche Bedingungen auch auf dieser Ebene geprägt ist (vgl. Iivari et al. 2020). So ist längst nicht überall eine ausreichende Breitbandverbindung, beispielweise für Videokonferenzen oder Veranstaltungen mit Softwarelösungen wie Zoom etc., vorhanden oder dort ein limitierender Faktor, wo Internetzugang lediglich über Mobilfunk realisiert wird. Tendenziell sind sozial schwache Gruppen eher mit schlechterer Hardware angebunden oder verfügen für den Zugang nur über ein Smartphone. Zudem sind mit Blick auf die Breitbandversorgung auch regionale Disparitäten wesentlich. Kunst(-vermittlung) im Digitalen Bezogen auf diese First Digital Divide sind digitale Kunstausstellungen und -vermittlung in der Situation, eine Abwägung ihrer Formate hinsichtlich mobiler Darstellung und notwendiger Datenmengen für die Rezipierenden vornehmen zu müssen, um nicht jene Gruppen und Personen auszuschließen, die lediglich über Smartphone-Displays und mobile Verbindungen mit in der Regel kontingentiertem Datenvolumen und/oder niedrige Bandbreiten verfügen. Dies betrifft zum Beispiel die Realisierung umfangreicher 3-D-Visualisierungen von Sammlungsräumen und Ausstellungsobjekten, Artist Talks, künstlerische Performances oder auch die Usability der digitalen Angebote auf mobilen Geräten.[2 ] Eine entsprechende Anpassung bzw. alternative, ergänzende Bereitstellung von Inhalten für mobile Geräte bietet sich besonders mit Blick auf jüngere Gruppen an. Für ältere Personen hingegen stellt sich stärker die grundsätzliche Frage eines Zugangs zum Internet. Gerade für die ältesten Kohorten ist daher eine Einbettung digitaler Angebote in ein umfassenderes Setting an insbesondere technischen Unterstützungsangeboten umso wichtiger. Über die Ebene des Zugangs hinaus ergeben sich digitale Ungleichheiten aus den unterschiedlichen Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien sowie aus der letztlich ungleichen Verwendung des Internets. Generell sind hier vor allem auf der Ebene der „Skills“ ältere Personen benachteiligt, wobei auch bei den sogenannten Digital Natives die Sozialisation mit dem Internet kein Garant für eine umfassende „Digital Literacy“ ist (vgl. Gui/Argentin 2011). Dennoch bietet hier die aktuelle Lage Chancen, weil zahlreiche Bevölkerungsgruppen bereits zu einer Digitalisierung ihrer medialen Praxis durch die Umstände der Covid-19-Pandemie gezwungen wurden – und so etwa durch schulische Bereiche, Arbeitskontext oder persönliche Kommunikation Erfahrungen mit niedrigschwelligen Angeboten wie Zoom, WhatsApp usw. gemacht haben. Digitale Kompetenzen sind in dieser Hinsicht vermutlich höher als je zuvor, wenn auch keineswegs überall selbstverständlich. Digitale Kunstvermittlung müsste daher über den Einbezug eher technischer Unterstützungsangebote hinaus idealerweise im Rahmen einer umfassenderen Vermittlung von Kompetenzen im Digitalen integriert sein. Betrachtet man die unterschiedliche Verwendung des Internets, vorausgesetzt Zugang und Kompetenzen sind vorhanden, so findet sich hier bei den digitalen Praktiken in großen Bereichen eine Abhängigkeit von sozialem Status und Alter. Letztlich verlängert sich die bereits angesprochene Abhängigkeit von sozialer Position und Praktiken ins Digitale. Das heißt, auch bei der Verwendung digitaler Medien zeigt sich strukturell eine Homologie von sozialem Status und Lebensstilen, vor allem statushöhere Personen nutzen das Internet eher für Praktiken, die langfristig über die zusätzliche Akkumulation von kulturellem oder sozialem Kapital Lebenschancen verbessern. Insbesondere für den Bereich der kulturellen Partizipation kommen Mihelj et al. (2019: 1) zu dem Schluss, dass, obwohl „digital media provide an important means of engaging new audiences, they also show that the engagement with museums and galleries both online and offline remains deeply unequal.“ Besonders problematisch ist hierbei der Umstand, dass Ungleichheiten im Bereich der kulturellen Partizipation im Digitalen nochmals größer sind als offline und dass digitale Medien „create opportunities for new forms of cultural segregation and exclusion, and therefore exacerbate rather than ameliorate existing inequalities“ (ebd.: 17). Dieser Befund gilt dabei nicht nur mit Blick auf den sozialen Status (stärkere Partizipation bei sozial höher positionierten Gruppen), sondern in besonderem Maße auch für Alter (mit tendenziellem Ausschluss älterer Personen) und Ethnizität (geringere Partizipation von People of Color). Hinsichtlich der Frage nach Auswirkungen der umfassenden Forcierung digitaler Kunstausstellungen und entsprechender Vermittlungsarbeit, wie sie seit der Corona-Pandemie an vielen Stellen üblich geworden ist, lassen sich Effekte, vor allem auf die verschiedenen sozialen Gruppen, bisher nur äußerst grob abschätzen. Zu erwarten ist aber, nimmt man die bisherigen Erkenntnisse zu digitalen Ungleichheiten und Exklusivität im Kunstfeld ernst, dass eher die bereits skizzierte Verschärfung der Zugänglichkeitsproblematik stattfinden wird. Zusätzlich trifft aktuell der ökonomische und soziale Druck mit großer Wahrscheinlichkeit diejenigen Gruppen härter, die im Vergleich über eine geringere Ressourcenausstattung verfügen und auch bisher kaum einen Teil des Publikums künstlerischer Veranstaltungen und Ausstellungen bildeten. Ansatzpunkte für eine inklusivere Kunstvermittlung Um Kulturvermittlung digital durchführen zu können, braucht es meines Erachtens eine kritische Reflexion einerseits der technischen Zugangsbedingungen und andererseits der Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien sowie flankierend eine Art Einbettung in alltägliche Kontexte, etwa auch über Unterstützung und Einführung, die durchaus als Verkopplung von Medienbildung und Kunstvermittlung verstanden werden können. Zentrale Erkenntnisse der Digital-Divide-Forschung können hierfür hilfreich sein, um Ungleichheiten im Digitalen für spezifische soziale Gruppen zu identifizieren und entsprechend unterschiedliche Publikumssegmente bzw. aktuelle Nicht-Besucher:innen angemessen zu adressieren. Aufgrund der Vielfalt an digitalen Ungleichheiten gibt es für eine möglichst inklusive und angemessene digitale Kunstvermittlung keine Blaupause nach dem Muster eines One-size-fits-all. Letztlich scheint mir eine Orientierung an den digitalen Praktiken der Rezipient:innen respektive eine Anknüpfung an deren jeweilige Medienpraxis als zielführende Strategie. Kurz: Wo und womit sind die Zielgruppen unterwegs und wie lässt sich daran anknüpfen? Vor allem für ein jüngeres Publikum scheinen die Orientierung an mobilen Geräten als Zentrum von Informations- sowie Kommunikationspraktiken und das Aufgreifen medialer Formate populärer Plattformen sinnvoll, um über den Rückgriff auf unterhaltende Elemente und Momente der Gamification Interaktion und Partizipation zu initiieren. Wesentlich schwieriger erscheint mir allerdings die Situation hinsichtlich des Einbezugs sozial schwächerer Gruppen mit eingeschränktem Zugang sowie älterer Menschen mit geringer Affinität zu populären Formen und Formaten. Dies nicht zuletzt auch, weil sich im Digitalen nochmals andere Fragen der Ansprache bzw. der Vermittlungsstrategie stellen. Während analoge Räume Momente des Zufälligen enthalten und sich darüber Kontaktpunkte zu möglichen Publika herstellen lassen, tendieren digitale Räume im Sinne multipler öffentlicher Sphären zur Fragmentierung. Solche Filter Bubbles und Echokammern, wenn auch häufig hinsichtlich ihrer Geschlossenheit überschätzt, bieten wenig Offenheit. Webseiten von Museen und Galerien, Social-Media-Profile von Kunstinstitutionen und Galerien auf Instagram oder Facebook – sie alle unterliegen bereits einer Vorauswahl, kaum eine:r besucht sie so zufällig, wie es bei einer Adressierung im analogen Raum grundsätzlich möglich wäre. Selbst innovative Formate verpuffen dabei vor der Hermetik zeitgenössischer Kunst und der Vorauswahl ihres digitalen Publikums. Letztlich ergibt sich aus kultursoziologischer Perspektive meiner Einschätzung nach folgendes Bild: Ein Großteil des Ausstellungs- und Vermittlungsprogramms vor allem zeitgenössischer Kunst findet aktuell etwa über Performances, Artist Talks etc. digital statt und trifft dort strukturell auf mehr oder weniger genau dasjenige Publikum, das auch sonst vornehmlich zu den Besucher:innen zeitgenössischer Kunstinstitutionen gehört und entsprechend über ein relativ hohes kulturelles Kapital insgesamt sowie feldspezifische Vertrautheit verfügt. Eine Verlagerung in den Bereich des Digitalen stellt für diese überdurchschnittlich gebildete und mobile soziale Gruppe – seien es Protagonist:innen des künstlerischen Feldes, Student:innen künstlerischer oder kunst- und kulturwissenschaftlicher Studiengänge oder das interessierte, zumeist städtische und akademische Publikum um solche Institutionen herum – in der Regel aus einer Digital-Divide-Perspektive kein Hindernis dar und bedarf wenig zusätzlicher Vermittlung. Das heißt zugleich nicht, dass sich die häufig intensiven, affektiv besetzten sozialen Beziehungen der Kunstwelt um physische Veranstaltungen ohne Bruch digital übersetzen ließen. Wie deutlich etwa die Akteur:innen des Kunstmarktes – Künstler:innen, Sammler:innen, Galerist:innen etc. – von der Digitalisierung ihrer kommunikativen Beziehungen (untereinander und mit Kunstobjekten) betroffen sind, zeigen Buchholz et al. (2020). Dennoch: Ist man ernsthaft daran interessiert, Publikumsbereiche außerhalb wechselseitiger Anerkennungsschulen zu erreichen, so ist meines Erachtens eine breite digitale Strategie gemeinsam mit einem partizipatorischen Vermittlungsansatz, der sich auf die digitalen Praktiken des Publikums einlässt und offen für ein gegenseitiges Involvement ist, notwendig. Beispielhaft sei auf den Umstand verwiesen, dass in der aktuellen Corona-Situation zahlreiche Vermittlungsprogramme weniger auf das Einüben kultureller Codes und die Vermittlung kunstbezogenen Wissens setzen, sondern vielmehr eine aktive Rolle in der Förderung sozialer Partizipation, im Community-Building und bei der Unterstützung familiärer Betreuungssituationen einnehmen (vgl. Cobley et al. 2020, McNaughton 2020, Wright 2020). Zugleich gehen mit der umfassenden Digitalisierung der Vermittlung wie überhaupt weiter Teile von Bildung und sozialer Beziehungen die Symptome einer „Digital fatique“ einher, die das Ungenügen der viel beschworenen Digitalisierung entlarvt. Die Sehnsucht nach einem Jenseits des Digitalen und digitaler Technologien wird mit wachsender Dauer des Social Distancing größer. Die jüngsten Serverzusammenbrüche im Museum Ludwig und in der Kunsthalle Karlsruhe angesichts des Ansturms auf Tickets sprechen hiervon Bände. Nicht nur der Vermittlungsarbeit bleibt im Sinne derer, an die sie sich richtet, zu wünschen, dass die ausschließliche Fokussierung auf das Digitale eine Episode bleibt. Dieser Text ist open access unter Lizenz cc.by Dr. Steffen Rudolph ist Kulturwissenschaftler und nach beruflichen Stationen an der Leuphana Universität Lüneburg und der Eberhard Karls Universität Tübingen seit 2019 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg tätig. Dort ist er aktuell für den Aufbau eines Open-Access-Labs am Department Information zuständig. Steffen Rudolph hat Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana studiert und dort mit einem EU-geförderten Stipendium promoviert. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in digitalen Medienkulturen, mit Kunst- und Kultursoziologie sowie mit Fragen nach der medialen Verhandlung der Shoah und rechter Gewalt. Literatur Allmanritter, Vera, 2017. Audience Development in der Migrationsgesellschaft. Neue Strategien für Kulturinstitutionen. Bielefeld: transcript Bourdieu, Pierre, Darbel, Alain und Schnapper, Dominique, 1966. L’amour de l’art. Les muséees d’art européens et leur public. Paris: Minuit Bruns, Axel, 2016. User-generated Content. In: Jensen, Klaus Bruhn und Craig, Robert T. (Hrsg.): The International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy. Volume Four. 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Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Für wen ist unser Web-Journal zugänglich? Foto: Julika Teubert Endnoten [1] Für die deutliche Distinktion spricht auch, dass die Struktur der Besucher:innen von Ausstellungen und Museen ohne künstlerischem Schwerpunkt der Sammlung, wie Naturkundemuseen oder technische Museen, wesentlich mehr der durchschnittlichen Bevölkerung entspricht (vgl. Rössel 2009). [Zurück zur Textstelle ] [2] Beispielhaft sei nur auf den Gegensatz zwischen den digitalen Angeboten hinsichtlich der Sammlungen und Ausstellungen von Louvre und Rijksmuseum hingewiesen. Beide Institutionen verfügen über große finanzielle Möglichkeiten für technische Innovationen und deren Umsetzungen; dabei setzt das Rijksmuseum mit „Rijksstudio“ explizit auf eine Mobile-First-Strategie, wohingegen lediglich „Louvre Kids“ eine Anpassung der Inhalte für Smartphone-Displays bietet. Entsprechend niedrigschwelliger und einfacher zugänglich sind Inhalte, Bilder und Texte in „Rijksstudio“, während der Louvre den Zugang für Smartphone-Benutzer:inner deutlich schwieriger gestaltet bzw. diese lediglich als „Kinder“ anspricht. [Zurück zur Textstelle ] Anker 2 Anker 4 Anker 5 Anker 3
- Issue 2 Bricking through | appropriate
Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Bricking Through Bricking Through Bricking Through Bricking Through Cedric Gehrke, Constantin Heller, Sarai Meyron, Lily Pellaud and Essi Pellikka At a time when artistic exchange was low during the first Corona lockdown in 2020, when we could not meet each other or new people, we wanted a digital alternative to communicate, to be seen and to move closer to each other's work. Facebook, Instagram, TikTok or YouTube as well as many other social media platforms do not provide the opportunity to be an independent, experimental space to meet our needs. On the contrary, looking closer on for example Facebook, there has been a kind of involvement in the election campaign of Donald Trump 2016 [1 ]. At the same time, on Instagram the guideline changes had (and have) harsh racist and sexist effects on BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) educators and artists posting their body, their body hair, their nipples and other visuals which is categorized as being political [2] . Social media and communication is power: We increasingly spend our time in an online existence [3 ] and therefore there should also be alternative spaces in this existence. There should be spaces for empowerment and lived change, also online, and this is what has inspired the basics of how our project BRICKING THROUGH is to be administered. We started BRICKING THROUGH with the dream of having a user-based website that emphasizes and encourages artistic exchange and is run by artists/students, starting from creating the legislations and designing the community guidelines. With a democratically voted and acting administration, it is a sketch, an attempt and an experimental research of change in the art-field of which the internet of our times is a part. The jump start for the project happened during the time of the Corona lockdown No.1, when we all, willingly or not, had to welcome an online existence as an essential part of our lives. In our isolation, we started to construct a digital future we dreamt of. In the very first thinking process, the project BRICKING THROUGH (that at that time was named Bricks of Babel) had three aspects. Firstly, it would be a social network for students made by students. Sympathising with an anarchistic sort of resistance, we wanted it to be an alternative to the power structures we live in, free from institutions and free from social media titans ruling autocratically: no more exploitation. We wanted a place where you are no longer a means to money, whether that implies your data being sold or you being just a number to fulfill a quota. Secondly, we started out, and in many ways still are, idealistic. The project itself is built on exchanging with each other, thinking and discussing together. We want BRICKING THROUGH to be based on engaged reflection and to be a space where critical thinking and awareness about our spaces are constantly present; we need this in order to have the capability to articulate our contemporary conditions. An often occurring topic in our meetings is that we try to navigate our own relationship to the platforms we already know and to be aware of hierarchical power structures in general. Lately, we discussed if the “only students as users”-policy is against our own ideals, as students like ourselves are (if you focus on educational capital) a very privileged group. But as any community needs to share a common ground in order to stay relevant for its members, we still try to navigate the peripheries of the ground we wish to build on while all of us are still – for the moment being – students in the field of arts. A key part of the project in this context is that we are in a constant change and adjustment to changing circumstances, such as when we face money issues or when new team members join us and others leave, and therefore the conversations and the input also change. Using these key coping mechanisms of flexibility and capability to adjust is a goal that BRICKING THROUGH provides us for being able to adapt when faced with change. In the end, what we are building is a social platform shaped by communication and not a bulky old castle. We need collaborative practises that reflect the new social spaces, and we need a dynamic room that is based on a shared respect towards the bodies involved with the space. We want to achieve shaping the rest of the project with regular meetings and by working together as an art collective and through the actual use of the website. In this democratically administered website every user has the opportunity to influence others and to be a part of the changes applied to the platform itself. Thirdly and lastly, this project would be a place of artistic freedom. This means that adult content within artistic context can be published on the website. An artist who works on identity and body has a right to be seen, or someone who works graphically addressing violence or war should not be censored. This is not a new subject in art. Jonas Mekas was arrested for screening “Flaming Creatures” [4] . Printing Allen Ginsburg‘s “Howl” was a struggle that ended in court, too [5 ]. And a work does not even have to be illegal to be not shown and kept out of galleries and museums, as the Guerrilla Girls have been protesting for years, recently pointing out that the Kestner Gesellschaft has not shown any BIPoC artists at all between 2013 and 2017 [6 ]. All this having been said, there are too many examples; we need change. While working with and on the legislation part, we soon learned that despite the misleading word "guidelines" in community guidelines, they are a legal document like any other, and a necessity for the place of mutual respect, artistic development as well as exchange and kindness we want to provide on this user-based website. Our first step in approaching this was enlarging our sphere, as the community guidelines should be a community project. We created an open call that was sent to several art academies for any interested and engaged student to join and participate in the project. That was the time when our team enlarged to the internationally based group of people we are today. We still strive to stay curious, and so are open to new connections. We tentatively decided to pause our idea of premiering the website with the ability to post adult content within an artistic context, and instead to create an open discussion on our research once the website is online. This decision is based on the huge legal and financial challenges we face concerning so-called adult content, age verification processes, the community guidelines, and data-protection. For now we are working on starting our vision of artistic exchange in a micro form, with the tools we have at our disposal. We have a preliminary version of the website, the support of a lawyer specialized in internet law who is helping us with the community guidelines, and a website programmer who is an art student as we are. We are planning to post individually and collectively on the website, as we hope to see it used someday. One example for this is the experimental associative text below where we each wrote down our thoughts and experiences, and showed a reflection of our exchange. We can still open a website that will let us walk one more step towards our destination. We hope one day the reality will fit our ideals and till then we will reconsider, discuss and reshape. BRICKING THROUGH is/will be a multiple project: a social platform dedicated to art, exchange and communication, an artist collective based in Germany, Finland and Switzerland, which is initiating the platform, and an experimental learning space above all. Forced to temporarily adjust the project due to financial reasons, the platform is currently morphing into a collectively authored platform. References [1] Burke, Garance. Watchdog org: Trump ‘16 campaign, PAC illegally coordinated. https://apnews.com/article/election-2020-donald-trump-political-action-committees-elections-campaigns-42a5705b23bbbc780083f57b071bbcb0 visited 20.8.2021 [back to the passage in the text] [2] Joseph, Chanté. Instagram’s murky “shadow bans“ just serve to censor marginalised communities. https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/nov/08/instagram-shadow-bans-marginalised-communities-queer-plus-sized-bodies-sexually-suggestive visited 20.8.2021 [back to the passage in the text] [3] Statista Research Department, 2021. Daily social media usage worldwide 2012-2020. https://www.statista.com/statistics/433871/daily-social-media-usage-worldwide/ visited 21.8.2021 [back to the passage in the text] [4] Staff, Harriet. Film Comment Published 1964 Jonas Mekas‘ Statement After Arrest for Screening “Flaming Creatures”. https://www.poetryfoundation.org/harriet-books/2019/02/film-comment-publishes-1964-jonas-mekas-statement-after-arrest-for-screening-flaming-creatures visited 21.8.2021 [back to the passage in the text] [5] Adams, Alexander. The Fight to Publish Allen Ginsberg’s ”Howl”. https://www.spiked-online.com/2019/05/09/the-fight-to-publish-allen-ginsbergs-howl/ visited 20.8.2021 [back to the passage in the text] [6] Guerilla Girls. AFTER 96 YEARS KESTNERGESELLSCHAFT DISCO…. Poster, 2018. https://www.guerrillagirls.com/projects visited 20.8.2021. [back to the passage in the text] Screenshot: bricking through, 2021 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Ank1 Ank2 Ank3 Ank 4 ank 5 Ank6
- Issue 3 Wurm & Langeweile | appropriate
Wurm & Langeweile - Kritische Geschichtsvermittlung in Museen als Praxis der Selbstforschung, Karin Schneider Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Wurm & Langeweile Kritische Geschichtsvermittlung in Museen als Praxis der Selbstforschung Karin Schneider Forschungstag "Was macht das hier?" mit Schüler:innen im Weltkulturen Museum Frankfurt. Foto: Nora Landkammer, Karin Schneider (c) 2017 Der Wurm „[…] Viele aber sagen nichts oder haben die Frage nicht verstanden. Jemand sagt: ‚Was bedeutet Nationalsozialismus?’ Darauf sagt jemand anderer: ‚Das waren Nazis?’ Jemand sagt: ‚Da ist ein Wurm.’ Der Lehrer rettet den Wurm“[ 1] Diese kurze Stelle stammt aus einem Gedächtnisprotokoll, das ich nach einer „Forschungswerkstatt Zeitgeschichte“ in der Ausstellung „Der junge Hitler“ angefertigt habe. Diese Ausstellung war vom 16. April bis zum 31. Oktober 2021 im Nordico Stadtmuseum Linz zu sehen, in dem ich die Vermittlung leite. „Forschungswerkstatt Zeitgeschichte“ ist eines der Schulprogramme, die wir in diesem Museum anbieten. Die Idee ist, dass wir, wenn auch nur punktuell und für einen kurzen Zeitrahmen, mit den Schüler:innen eine forschende Haltung einnehmen – gegenüber der Ausstellung, dem Museum oder in Bezug auf bestimmte von der Ausstellung selbst aufgeworfene Fragestellungen. Im Fall der Ausstellung „Der junge Hitler“ ging es uns auch darum, die in dieser Ausstellung nahegelegte Fokussierung auf die Figur „Hitler“ zu befragen und zu dekonstruieren. Mit dem Vermittlungsprogramm „Forschungswerkstatt“ beziehen wir uns auf das Konzept „The Right to Research“ von Arjun Appadurai, in dem er argumentiert „[…] that research be recognised as a right of a special kind – that it be regarded as a more universal and elementary ability” (Appadurai 2006: 161). Appadurai beschreibt „Forschung“ eine allen Menschen innewohnende „Fähigkeit, die Disziplin aufzubringen, jene Dinge genauer zu untersuchen, die wir noch nicht wissen, aber wissen müssen“: research is a specialised name for a generalised capacity, the capacity to make disciplined inquiries into those things we need to know, but do not know yet. All human beings are, in this sense, researchers, since all human beings make decisions that require them to make systematic forays beyond their current knowledge horizons. (ebd.). In diesem Fall eben in Bezug auf die tiefe Verknotung der Linzer Gesellschaft in die Geschichte von Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus. Wenn ich Protokolle von Workshops verfasse und diese dann mit unterschiedlichen Kolleg:innen[ 2] genauer lese und zu verstehen versuche, dann behaupte ich dieses Recht auch für die Position der Vermittlung selbst. „Wir wissen nicht und müssen wissen“ (vergl. Zitat oben, Appadurai 2006: 161), was unsere Methoden erzeugen, was im Ausstellungsraum zwischen Objekten, Gruppe und Vermittlung passiert. Kritische Vermittlung bedeutet daher, ein immer präziseres Verständnis ihrer verwirrenden, unerwarteten und widersprüchlichen Momente zu gewinnen. Dafür bedarf es einer Haltung des Erstaunens gegenüber der eigenen Praxis, die ebenso mit viel Sorgfalt und Disziplin gelernt und entwickelt werden muss. Ich habe die obige Protokollstelle aus ihrem Zusammenhang genommen und ausgewählt, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn ein eigenartiges Unerwartetes eine Situation unterbricht – eine plötzlich auftauchende Kraft der Welt draußen, der Wurm. Unterbrechungen dieser Art verweisen zunächst darauf, dass die von dem /der Vermittler:in vorgeschlagenen Aktivitäten nicht immer für alle wichtig sind, jedenfalls nicht so wichtig wie die Dinge der materiellen Welt. Manchmal ist es in dem Raum, in dem wir uns befinden, einfach zu heiß oder zu stickig; manchmal lullt die Stimme der Vermittlerin / des Vermittlers ein oder ist überengagiert, voll der aufgeregten Erwartung und bringt als abwehrende Reaktion darauf vielleicht Schlaftrunkenheit oder Ablenkung hervor. Der zitierten Sequenz geht offensichtlich eine Frage der Vermittlerin an die Gruppe voraus, die von vielen der Anwesenden nicht verstanden wird, zumindest wird das Schweigen der Schüler:innen von der Vermittlerin vor allem auch in diese Richtung interpretiert. In dieses Schweigen laden die Teilnehmer:innen die Banalität der realen Welt ein, indem sie dem Wurm Aufmerksamkeit schenken. Diese Szene verweist für mich auch darauf, dass hier ein Thema verhandelt werden soll, das mit Momenten von Wissensdruck und moralischen Erwartungen aufgeladen ist: In solch eine Ausstellung kommen die Schüler:innen vielleicht von der/dem Lehrer:in vorbereitet und sollen (aus der Sicht der Lehrer:innen) zeigen, was sie wissen. Sie vermuten wahrscheinlich, dass man hier viel „falsch machen“ kann, sie können spüren oder wissen ohnehin, dass Nationalsozialismus kein Thema ist, zu dem man einfach losplaudert. Freie Assoziationen, wie wir sie aus der Kunstvermittlung als produktive Methode kennen, scheinen hier fehl am Platz. Dennoch möchte ich die Frage des einen Schülers „Was bedeutet Nationalsozialismus?“ nicht nur als reine Verständnisfrage sehen, sondern auch als Angebot an die Vermittlungssituation, hier genauer in die Tiefe zu bohren: Was bedeutet es eigentlich?[ 3] Das Auftauchen des Wurms verhindert, dass wir den gestellten Fragen weiter auf den Grund gehen. Er steht daher auch für die Schwierigkeit einer solchen Vermittlungssituation, damit umzugehen, was Sharon Macdonald unser „difficult Heritage“ (problematisches, schwieriges Erbe) nennt (vgl. Macdonald 2008). Gleichzeitig ermöglicht diese Unterbrechung eine Neukonfiguration des Sprechangebots. Tatsächlich halte ich selbst kurz inne und sortiere mich neu. Im Protokoll geht es dann unmittelbar so weiter: „Daraufhin ist mir klar, dass ich nun improvisieren muss. Ich bitte sie, das Blatt umzudrehen und für eine Minute alles aufzuschreiben, was ihnen zu Nazi einfällt. ‚Auch das, das ist keine Geschichteübung, es geht nur darum, was ihr denkt, schreibt auf, was ist typisch Nazi, was ihr denkt.’“ An dieser Stelle greife ich einen von ihnen vorgeschlagenen Begriff auf und versuche, an ein von mir vermutetes alltagskulturelles Wissen anzuschließen, und sie herauszufordern, dieses preiszugeben. Was denken sie, wenn sie das Wort „Nazi“ verwenden? Ist es ein Schimpfwort? Hat dies mit ihren Alltagserfahrungen zu tun? Immerhin gehören sie größtenteils nicht der Mehrheitsgesellschaft an, alle Kinder haben einen merkbaren Akzent, wenn sie Deutsch sprechen, viele sind im sprachlichen Ausdruck und der Wortwahl unsicher. Die Sequenz mit dem Wurm steht für mich für das unerwartete Momentum in der Vermittlungsaktion, für das zugleich Triviale und Außergewöhnliche und damit auch für eine Schwelle, eine Krise, eine Veränderung im Ablauf. Dadurch kann in diesem Fall ein Lernprozess aufseiten der hier agierenden Vermittlerin evoziert werden – ich musste improvisieren und ernst nehmen, mit wem ich hier den Lernraum herstellte. Erst durch viele Analysen dieser Stelle wurden für mich meine eigenen Erwartungshaltungen und Ansprüche sichtbar. Es bedurfte des Einbruches des konkreten Realen, damit auch ich Platz machen konnte für das, was ist. Erst im Reflexionsprozess verstand ich, dass die Schüler:innen hier Fragen aufgeworfen hatten, die es wert gewesen wären, stärker ernst genommen zu werden, als es mir im Moment des Agierens möglich war. Performing Langeweile „Das Handout, das Julia diesmal über Kolonialismus gemacht hat, wirkt immer noch abstrakt und schulisch, und die Zeit, in der wir das Handout durchgehen, zieht sich. Mir fällt vor allem ein Junge auf, von dem ich das Gefühl habe, er ist besonders unmotiviert. […]“ Diese Stelle stammt aus einem Gedächtnisprotokoll, das ich nach einem der von mir durchgeführten Workshops „Was macht das hier?“ verfasst habe. Dieses von Julia Albrecht, Nora Landkammer und mir im Rahmen unserer Aktionsforschung im Weltkulturen Museum Frankfurt entwickelte Workshopformat hatte zum Ziel, Schüler:innen in eine Auseinandersetzung zur Herkunft von Objekten, deren kolonialer Geschichte und die damit verbundenen Debatten um Restitution und Repatriierung zu verwicken.[4] Auch in diesem Fall wird eine Anfangssequenz beschrieben, in der das Thema nicht so richtig ins Rollen kommen will, und auch hier wollen wir mit Schüler:innen über unsere schwierige Geschichte sprechen: die des Kolonialismus. Meine Analysen der von mir durchgeführten Workshops zeigen, dass sich die in mehreren Protokollen beschriebene Langeweile der Anfangssequenz zu einem späteren Zeitpunkt in Richtung engagierter, hitziger, kontroverser Diskussionen verschieben kann. In diesen wird dann von den Schüler:innen selbst auf Hinweise zurückgegriffen, die zuvor jene zähen Situationen prägten. Ich beginne, mich für diese Transition Points in der Vermittlung zu interessieren, und frage mich, wie es zu verstehen ist, dass scheinbar gelangweilte Schüler:innen plötzlich so in kontroversen, engagierten Diskussionen aufgehen, dass sie kaum zu bremsen sind (vgl. Schneider, 2021: 406). In solchen Momenten zeigt sich in meinen Beispielen auch ein Augenblick dessen, was Nora Landkammer und ich als „Conflict Learning“ bezeichnet haben (vgl. Landkammer, Schneider 2021: 215-235). Transition Points sind weder plan- noch vorhersehbar, und doch manifestieren sie sich nicht vollkommen willkürlich. Sie sind ein gemeinsames Erzeugnis der Gruppe, der Vermittler:innen, der Objekte bzw. der Kunstwerke. Sie entstehen, wenn in dieses Zusammenspiel Realitäten einbrechen, etwas, das aus dem Gleichgewicht bringt und das es notwendig machen kann, Momente aus anderen Sequenzen des Workshops zu aktivieren und sich selbst zu positionieren. Die allen Vermittler:innen bekannten Sequenzen der performten Langeweile führen immer auch Aspekte des Widerstands mit – zum Beispiel gegen die Zumutungen eines Lernsettings, das eigene Bedürfnisse der Lernenden nicht mit einbezieht. An den Transition Points verschieben sich diese Widerstandsaspekte zu Positionierungen, auch im Sinne der Erprobung von Kritik. In meinen analysierten Beispielen wurde dies unter anderem dadurch ausgelöst, dass die Behauptung des pädagogischen Settings („Wir bringen euch etwas bei, das ihr unbedingt wissen müsst.“) von einer Situation abgelöst wurde, die diese nicht mehr aufrechterhalten konnte oder wollte – zum Beispiel dem Gang in das Depot der Sammlung „Afrika“ und einem Interview mit deren Kustodin, in dem diese eigenes Nichtwissen zur Herkunftsgeschichte einzelner Objekte ehrlich und offen mit den Schüler:innen teilte. Dabei handelte es sich um Objekte aus dem Zusammenhang der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika. Die Schüler:innen konnten in diesen Momenten spüren, dass wir hier einen gemeinsamen Raum einer Geschichte von Genozid, Ausbeutung und Raub teilten. „Nicht wissen wollen“ hat in diesem neu konfigurierten Lernraum seine pubertäre Unschuld, sein „Cool“ verloren; vielmehr steht es für Ignoranz und kulturelle Enteignung, die in die Forschungs- und Museumsgeschichte eingeschrieben sind (Schneider 2021: 407). Die Schüler:innen fühlten sich in diese Geschichte verwoben, vor allem insofern sie selbst Langeweile und Wissensignoranz performten. Dass sie dies wahrnehmen konnten, identifizierte ich als jenen Moment im Workshop, der ihren Wunsch zur Positionierung auslöste. Dies zumindest ist meine These, die gleichzeitig auch von meinen Projektionen auf die Schüler:innen getragen ist und daher ebenfalls genauer zu befragen wäre (ebd.407-418). Mikropraxen und Selbstforschung Kritische Vermittler:innen, und ich schließe mich deutlich mit ein, tendieren dazu, ihren Konzepten, Programmen und Formaten eine größere Bedeutung beizumessen als Mikropraxen konkreter Situationen, wie ich sie oben skizziert habe. Nur in diesen jedoch entstehen und zeigen sich die relevanten Prozesse des Lernens und Verlernens. Auf sie müssen wir uns fokussieren, wenn wir in der Entwicklung von Methoden weiterkommen und so eine Relevanz unserer Arbeit behaupten wollen. Dafür jedoch bräuchte es ein Selbstverständnis der Notwendigkeit von Selbstforschung und Selbstreflexion nicht als Ergänzung, sondern als notwendige Grundvoraussetzung. Dies betrifft sowohl die in den Institutionen zur Verfügung gestellten Budgetmittel als auch die Tätigkeiten von freien Vermittler:innen, Initiativen und Projekten. Karin Schneider, Kunstvermittlerin und Zeithistorikerin. Sie leitet die Vermittlung des Lentos Kunstmuseum und des Nordico Stadtmuseum, Linz sowie als Co-Koordinatorin das Projekt MemAct! 2007–2019 Forschungsprojekte, unter anderem MemScreen und conserved memories, Akademie der bildenden Künste Wien, sowie TRACES, Institute for Art Education, ZHdK. 2001–2007 Stabstelle Kunstvermittlung, mumok, Wien. Literatur Appadurai, Arjun, 2006.The right to research. In: Globalisation, Societies and Education 4/2. S. 167–177 Landkammer, Nora und Schneider, Karin, 2021. Conflict learning. Concepts for understanding interactions around contentious heritages. In: Hamm, Marion und Schönberger, Klaus (Hg.). Contentious Cultural Heritages and Arts: A Critical Companion. Klagenfurt/Celovec: Wieser Verlag. S. 213–239 Macdonald, Sharon, 2008. Difficult Heritage. Negotiating the Nazi Past in Nuremberg and Beyond. London: Routledge. Schneider, Karin, 2021. Transition Points der Vermittlung. Forschungs- und Politisierungsmomente in Lernsituationen über Geschichte. In: Endter, Stefanie, Landkammer, Nora, Schneider, Karin, 2021 (Hg.). Das Museum verlernen? Kolonialität und Vermittlung in ethnologischen Museen. Band 2: Praxen und Reflexionen kritischer Bildung und Wissensproduktion. Wien: zaglossus. S. 391–419 Endnoten [1] Auszug aus einem Gedächtnisprotokoll, Ausstellung „der junge Hitler“ im Nordico Stadtmuseum, Linz, Oktober 2021 [2] Ich danke dem Team von MemAct!, insbesonders Wolfgang Schmutz, Irene Zauner-Leitner, Bartosz Duszyńsk, Paul Salmons und Johannes Glack, sowie dem Team der Kunstvermittlung des Nordico Stadtmuseums, insbesonders Cecile Belmont, Korinna Kohout und Gabi Kainberger, für die gemeinsamen Analysen und wertvollen Hinweise. [3] Es ist interessant und etwas beunruhigend, dass ich als Vermittlerin diesen Gedanken erst beim neuerlichen Lesen dieser Stelle habe und nicht in der Vermittlungsaktivität selbst. [4] Diese Aktionsforschung wurde als Projekt der Vermittlung im Weltkulturen Museum Frankfurt im Rahmen des Projekts TRACES (gefördert vom Horizon 2020 Programm der EU 2016–2019) durchgeführt. Aufgesetzt und inhaltlich getragen wurde diese Forschung von der Kustodin für Vermittlung Stefanie Endter sowie von Nora Landkammer, Leiterin des Workpackage education bei TRACES am Institute for Art Education der ZHdK, und Karin Schneider. Ich danke allen Kolleg:innen der Vermittlung am Weltkulturen Museum Frankfurt für die gemeinsame Analyse. Die Gedanken hier und in all meinen diesbezügichen Publikationen verdanken sich ausdrücklich den Reflexionen und Konzeptarbeiten mit Julia Albrecht und Nora Landkammer. http://www.traces.polimi.it (Zugriff: 24.05.2022). 1
- Issue 1 Schamborski | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Kritisch im Netz Das Paradoxon der Kunstvermittlung in den sozialen Medien Nick Schamborski Nach über einem Jahr der Coronapandemie haben sich immer mehr Institutionen notwendigerweise in die digitalen Räume hineingetraut. Im Moment scheint es nur wenige Möglichkeiten außerhalb der sozialen Medien zu geben, weiterhin mit Kunst- und Kulturbegeisterten im Kontakt zu bleiben. Die Coronapandemie beschleunigt die Digitalisierung und zeigt, wie ein Leben in einer zunehmend globalisierten Ferngesellschaft [1 ] aussehen könnte. Die Möglichkeit, sich mit vielen Menschen in einem physischen/analogen Raum versammeln zu können, wird sich vermutlich in der Zukunft nur noch unter erschwerten Bedingungen ergeben oder sogar ganz ausbleiben – und somit wird der digitale Raum immer stärker den physischen öffentlichen Raum ablösen. Der digitale öffentliche Raum , wie er sich etwa in den sozialen Medien abbildet, unterscheidet sich in vielen Punkten stark vom physischen öffentlichen Raum. Alles scheint direkt oder indirekt von einer ökonomischen Bewertung in Form von Likes, Klicks und Abonnent:innen abhängig zu sein. Wie ist es dort überhaupt möglich, komplexe und prozesshafte Fragestellungen der Kunst und der Kunstvermittlung zu erörtern oder zur Diskussion zu stellen? Was für eine Position kann die Kunstvermittlung in dieser durchökonomisierten Welt einnehmen? Die Schnelligkeit und Oberflächlichkeit der sozialen Medien verändern und beeinflussen auch das Leben im physischen Raum. Jede Person, die sich in digitalen Räumen bewegt und die Inhalte der anderen Nutzer:innen konsumiert, ist zugleich meist selbst auch eine erschaffende Person. In den sozialen Medien werden aus Konsument:innen Produzent:innen. Die Bildwelten, die viele Menschen im digitalen Raum erschaffen und die sie umgeben, sind der Ausgangspunkt für diese Arbeit. Bevor ich tiefer in das Thema einsteige, möchte ich noch kurz einige Begriffe vorstellen. Ich werde in diesem Text sehr häufig die Ausdrücke digitaler Raum und soziale Medien verwenden. Beide können Verwirrung stiften. Über den digitalen Raum zu schreiben, kann nur einen kleinen Ausschnitt bedeuten. Ganz egal wie viel ich scrolle und mich informiere – ich sehe immer nur mikroskopartige Ausschnitte des Internets. Ähnlich verhält es sich bei den sozialen Medien . Wenn wir über den digitalen Raum sprechen, dann erscheint es so, als gäbe es einen Raum, der abseits des realen, physischen oder auch analogen Raumes existiert. Doch jedes Abbild, jede Handlung, die ich mit meinem digitalen Endgerät durchführe, hat einen direkten Einfluss auf meinen Körper; sei es durch Emotionen oder andere physische Reaktionen. Alles, was auf den öffentlich-privaten Straßen des Digitalen passiert, steht in einem direkten Bezug zum Nichtdigitalen . So gibt es im Prinzip auch keine Räume mehr, die nicht eine Wechselbeziehung zum Digitalen haben, ganz unabhängig von der Intention. Das ist eine meiner Erkenntnisse, die mich auch dazu bewogen hat, genau über dieses Feld zu schreiben. Denn jedes Verhalten zu oder in der digitalen Gesellschaft ist eine Positionierung, insbesondere auch ein passives Ignorieren. Trotzdem werde ich in einer ständigen Wiederholung die Begriffe digitaler Raum und soziale Medien verwenden, weil ich es für notwendig erachte, diese Kategorien zu nutzen, um überhaupt in das Gespräch über diesen Themenkomplex zu kommen. Was sind die Aufgaben und die Problematiken einer künstlerischen Kunstvermittlung in den digitalen Räumen ? Wie können kritische Bildreflexionen in einer schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie überhaupt eine Sichtbarkeit erfahren? Während ich zu diesen Themen forsche und recherchiere, absolviere ich ein Praktikum in der Museumskommunikation des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe. Sowohl meine praktischen als auch meine theoretischen Ausführungen sind mitunter von meinen Erfahrungen an dieser Institution geprägt. Die digitalisierte kunstvermittelnde Praxis ist hier schon längst Alltag geworden und das ZKM verfügt über ein breites Spektrum an digitalen Formaten. Der Leiter des ZKM, Peter Weibel, spricht in einem Interview mit dem Monopol Magazin über die Notwendigkeit, „dass Museen das bessere Netflix werden müssten“.[2 ] Netflix ist mit seiner großen Marktmacht eines der einflussreichsten kulturellen Bildmedien unserer Zeit. Wie aber können sich künstlerische Prozesse überhaupt zu solchen Bildgiganten positionieren oder gar mit ihnen mithalten? Darüber hinaus möchte ich die Frage stellen, ob dies in irgendeiner Art und Weise die Aufgabe von Kulturarbeit im Netz sein sollte. Was unterscheidet Marketingziele von künstlerischen Zielen? Das Paradoxon ist, dass es nahezu unmöglich ist, komplexe und kritische Bildkompetenzen innerhalb der sozialen Medien zu generieren, und dass gleichzeitig eine unabdingbare Notwendigkeit existiert, genau in diesen digitalen Räumen eine selbstreflexive und kritische Praxis zu etablieren. Da viele Menschen mit und durch diese Kanäle kommunizieren, sind das Denken über Bilder und eine Reflexion über diese Prozesse umso wichtiger geworden. Bei allen Begrenzungen im digitalen Raum gibt es durchaus auch ganz neue Möglichkeitsräume, um bisher marginalisierte Themen in den Vordergrund zu rücken. Ich interessiere mich für neue autonome Bereiche im digitalen Raum und dafür, wie die Kunstvermittlung eben diese nutzen kann, um sogar in verkrampften, statischen Institutionen antikoloniale und queere Perspektiven viel stärker in den Mittelpunkt zu rücken und vielleicht sogar alte epistemische Gewalten, die diesen Häusern inhärent sind, ins Wanken zu bringen. Kristin Klein schreibt dazu: „Während die Netzkunst zu Beginn der 1990er Jahre mit dem Internet noch eine Hoffnung auf umfassende Demokratisierungsprozesse verband, sieht sich die Kunst gegenwärtig mit einem in fast allen Bereichen kommerziell gewordenen Netz konfrontiert. Zwar haben sich neue kollaborative Formen der Wissensproduktion, Räume des Austauschs in vielzähligen Online-Communitys und Möglichkeiten pluraler Identitätsentwürfe eröffnet, jedoch sind diese in weiten Teilen durch wirtschaftliche Interessen, Aufmerksamkeitsökonomien, Überwachung und affektgeladene Diskussionen überformt.“[3 ] Wie können Künstler:innen, Kunstvermittler:innen und die Kunsträume selbst mit diesen kommerziellen Räumen umgehen? Wird der digitale Raum nur zur Bewerbung von Ausstellungen und Veranstaltungen wahrgenommen oder wird dieser als ein Kulturraum gesehen, der künstlerische Diskurse und Relevanz nicht nur abbildet, sondern auch selbst erschafft? Die Bilderwelten, die uns umgeben, sind schon längst physische Realitäten geworden und eine Trennung zwischen Digitalem und Analogem ist theoretisch wesentlich schwieriger, als es scheint. Unsere digitale Umgebung und Tätigkeiten haben direkte Auswirkungen auf unsere physische Situierung. Die Bilderwelten beeinflussen unseren Alltag, unsere Entscheidungen und unser Befinden. Allerdings sind, wie bereits beschrieben, die Menschenbilder stark geprägt von der Ökonomisierung dieser Räume. Auch wenn die Vielfalt von Aktionen, Bildern und Ideen in den sozialen Medien überhaupt nicht greifbar und so divers wie die vielen Menschen ist, die diese Plattformen täglich nutzen, bekommen trotzdem ganz bestimmte Menschenbilder viel mehr Sichtbarkeit als andere. Dies sind vor allem Menschenbilder, die in die kapitalistischen Funktionsweisen von sozialen Plattformen passen. Dazu kommen noch bestimmte Algorithmen, die Körper bewerten und nach der Beurteilung hervorheben oder ausschließen. Es gibt Filter, die Körper normieren und homogenisieren, damit sie sich einfacher in die Bilderökonomien der Räume einpassen. Die bewertenden Algorithmen und normierenden Filter funktionieren nicht nur nach kapitalistischen, sondern auch nach rassistischen, ableistischen und sexistischen Kriterien.[4 ] Meiner Meinung nach haben staatlich geförderte Bildungseinrichtungen, die im Rahmen eines gesellschaftlichen Bildungsauftrags finanziert werden, die Aufgabe, sich in diesen Orten reflexiv zu positionieren. Kunstvermittlung bekommt in digitalen Räumen neue Aufgabenfelder, bei denen es nicht einfach nur um eine Vermittlung von etablierten Kunstwerken und Künstler:innen geht, sondern weit darüber hinaus. Die digitale Souveränität und bildnerische Selbstbehauptung stehen im Vordergrund einer künstlerischen Kunstvermittlung im Digitalen . Als ich begann, kunstvermittlerisch zu arbeiten, habe ich mich bei den Kunst-Koffern[5 ] engagiert. Bei diesem kunstvermittlerischen Straßenprojekt war die Hauptaufgabe, niedrigschwellige Kunstpraxis anzubieten. In einer offenen Ateliersituation konnten uns Menschen jeden Alters regelmäßig auf öffentlichen Plätzen besuchen und mit Materialien experimentieren. Neben dem offenen Zugang lag der Fokus dieser Praxis insbesondere auf einem bewertungsfreien Raum, der prozesshaftes Arbeiten ohne eine Funktionalisierung der Entstehungsprozesse möglich macht. Wir wollten hierbei das Bewusstsein unterstützen, dass jeder Mensch die Umgebung mitgestalten kann, dass wir nicht einfach nur von außen bestimmt werden, sondern es viele Möglichkeiten gibt, unser Umfeld zu beeinflussen und selbst mitzuformen. Diesen Freiraum möchte ich mit kunstvermittlerischer Arbeit ins Digitale überführen und die Problematiken und Möglichkeiten erläutern. Theoretisch werde ich mich hierbei aber nicht mehr auf den Diskurs des offenen Ateliers beziehen, sondern viel mehr auf die Praxis der Queer Art Education.[6 ] Für mich denkt eine Queer Art Education eine offene Ateliersituation viel weiter und positioniert sich ganz bewusst entgegen eines kolonialen, heteronormativen, ableistischen Kulturkanons: ein Feld, das neue Perspektiven eröffnet, das visuelle Monopole hinterfragt, marginalisierte Körper in den Fokus nimmt, sich stärker auf körperliche Erfahrungen bezieht und neue Zugänge denkt und schafft. Welche Strategien können wir entwickeln, um so eine freie, dynamische Praxis selbst an statischen Museen zu etablieren? Aufgaben der Kunstvermittlung in einer digitalisierten Gesellschaft Wenn ich über kunstvermittelnde Praxis referiere, dann bezeichne ich eine selbst künstlerisch wirkende praktische Handlung, die in ihrer Performanz nicht nur Kunst und Kultur zeigt, sondern selbst als eine künstlerische Praxis funktioniert.[7 ] Diese Selbstverständlichkeit im kunstvermittelnden Diskurs bekommt eine ganz neue Relevanz im digitalen Raum , da der digitale Raum selbst ein Raum ist, in dem Kultur passiert. Um dem Anspruch, Kunst nicht nur abzubilden, sondern selbst künstlerisch im digitalen Raum aufzutreten, gerecht zu werden, ist es notwendig, eine Prozesshaftigkeit zu etablieren. Das Erleben von künstlerischen Prozessen muss dafür nicht einfach im digitalen Raum abgebildet werden, sondern als eigenständige künstlerische Arbeit funktionieren. Nur so können überhaupt Begegnungen und künstlerische Handlungsfelder eingebracht werden. Die Fragestellung lautet also: Wie können wir die Experimente, die wir ansonsten mit Körpern und Materialien in der analogen Kunstvermittlung durchführen, in digitale Räume transferieren? Dazu ist es nicht nur essenziell, künstlerische Ausdrucksformen mit und entgegen den sozialen Medien zu finden, sondern auch, sich ganz bewusst in ihnen zu verorten. In den Räumen, die allein von ihrer Funktionsstruktur der Kapitalakkumulation verschrieben sind und dementsprechend auch ökonomisierte Bilder hervorbringen, ist es umso wichtiger, Interaktionen und Strategien auf diese Aspekte hin zu überprüfen und zu hinterfragen. Dazu zählt nicht nur eine selbstständige Bildproduktion, die mit den Normierungen im Digitalen bricht, sondern auch Möglichkeitsräume für alle Nutzer:innen der sozialen Medien zu schaffen, dies ebenfalls zu tun. Die Aufgabe einer digitalen Selbstbestimmung ist es, einer Vielzahl von Menschen zu ermöglichen, ganz unabhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen eigene Bilder und sogenannte Images zu produzieren und diese kritisch zu reflektieren. Mit digitaler Souveränität ist nicht nur die Produktion, sondern auch eine Analysefähigkeit gemeint, die Konsument:innen vor Inhalten und Bildern in den sozialen Medien mündig macht, Prozesse hinter den Bild- und Textproduktionen zu verstehen und diese einordnen zu können. Dafür ist es ebenso notwendig, sich dem liberalen Mythos der sozialen Medien entgegenzustellen. Das Versprechen etwa, dass im Netz jede Person selbst zur:zum erfolgreichen sogenannten Broadcaster:in werden kann, ist ohne die ökonomischen Grundlagen, die für eine Sichtbarkeit in den sozialen Medien sorgen, eine Legende. Dies gehört zu einer Kontextualisierung der Umgebung, in der digitale Bildproduktionen stattfinden. Für eine selbstbestimmte Verortung sind Fragestellungen zu den Funktionsweisen von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und der Infrastruktur der sozialen Medien ebenso wichtig. Künstlerische Strategien im Netz gibt es bereits sehr viele, die dabei helfen können, über künstlerische Bildproduktionen im Internet zu reflektieren. Darüber hinaus braucht es aber auch digitale Werkstätten und Atelierräume, in denen entsprechende Werkzeuge erlernt und erforscht werden können. Damit können eigenständige Kunstproduktionen und die Förderung eines Bewusstseins über die Konstruktion von Bildern gewährleistet werden. Wichtig bleibt hierbei viel mehr der Prozess als das Resultat. Workshops oder Fortbildungen in diesen Bereichen sollten das Unfertige bevorzugen. Dies entspricht nicht der Logik von vielen Bildern, die im Netz zu finden sind. Es handelt sich bei Abbildungen von Prozesshaftigkeit immer um einen Gegenentwurf zum abgeschlossenen digitalen Produkt, zu dem wir in den digitalen Räumen immer mehr werden. Das digitale Produkt ist fertig, wird begutachtet, kategorisiert und bewertet. Der Prozess steht für Möglichkeiten, gibt Raum zur Imagination und kann sich viel leichter von Bewertungen befreien und frei machen. Digitale Werkstätten können sowohl Mündigkeiten fördern als auch bewertungsfreiere digitale Räume möglich machen. Es gilt, eine kritische Praxis gegenüber den Bildzirkulationen und den Bildkonstruktionen zu bestärken. Dafür ist eine Verortung im digitalen Raum unabdingbar. Das Netz ist nach wie vor ein Ort, in dem Hassnachrichten, Verschwörungstheorien, Ableismus, Rassismus und Sexismus alltäglich geworden sind. Hier wird die gesellschaftliche Gewalt sichtbar und verstärkt. Diese Tendenzen münden häufig in physischer Gewalt und sind in den digitalen Räumen , wie sie gerade bestehen, nahezu überall gegenwärtig. In diesen Räumen muss also auch dezidiert eine antifaschistische, demokratisierende und empowernde Position vertreten werden. Spätestens seit der sogenannten „Geflüchtetenkrise“ 2015 sollte uns bewusst sein, dass ein Kompetenzmangel in der Gesellschaft bei der Bewertung digitaler Inhalte zu einer Destabilisierung der Menschenrechte führt. Inszenierte rassistische Bilder haben über Jahre das Internet bestimmt und Plattformen wie YouTube sind bis heute von diesen Bildern durchzogen. Ohne einen Filter oder eine Reflexion wurden 2015 rassifizierende Bilder und Ideen einfach immer weiter geteilt. Diese extreme Verschiebung des politischen Diskurses hat zu viel Gewalt und mit zu den schrecklichen Attentaten am 09. Oktober 2019 in Halle und am 19. Februar 2020 in Hanau geführt. Solche rechtsextreme Gewalt gab es auch schon vor der Flut an Falschnachrichten, dennoch wurden die Täter von Halle und Hanau beide durch maßgeblich Gemeinschaften im Netz und deren Bilder radikalisiert. Besonders erwähnen möchte ich hier das Beispiel des Attentäters von Halle, der sich auch in Incel-Foren[8 ] bewegt hat. Dies ist insofern außerordentlich wichtig zu betonen, da es sich hierbei um rechtsextreme, radikalisierte junge Männer handelt, die in Internetforen gegen Frauen* hetzen und an vielen Frauen*morden weltweit beteiligt sind. Frauen*hass im Internet muss genauso wie auch andere Formen des Hasses z. B. gegen Menschen mit Behinderungen oder Menschen mit von der heteronormativen Norm abweichenden Leben immer mitgedacht werden. Der weiße Kunstkanon ist Teil einer rassistischen Kultur. Das Museum beruht in seiner Genealogie auf dem Kolonialismus und setzt diesen bis heute fort. Die volle Brutalität zeigt sich in dem Wiederaufbau der kolonialen Wunderkammer des Kaisers in der Mitte Berlins – dem Humboldt Forum. Dies geschieht parallel zu einer immer weiter wirkenden kolonialen ausbeutenden Struktur, die für den Wohlstand in Ländern Europas an anderen Orten Menschen und Ressourcen ausbeutet und ein Überleben dort unmöglich macht. Diese Gewalt muss klar benannt werden, wenn wir über die Dekolonialisierung schreiben. Das bestätigt die Theoretikerin der Kunstvermittlung Carmen Mörsch.[9 ] In diesen Kontext gehört auch die Abschottungspolitik Europas, die an den europäischen Außengrenzen zu Situationen führt, in denen Schwarzes Leben getötet wird. Im Sinne der Necropolitics nach Achille Mbembe[10 ] gibt es im europäischen Kulturbetrieb einen hegemonialen Frieden, weil außerhalb Europas die Vernichtung von Menschenleben stattfindet und in Kauf genommen wird. Dieser Ausbeutung entgegenzutreten, bedeutet Dekolonialisierung. Die Kunstvermittlung steht nicht außerhalb dieser gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen sondern befindet sich mittendrin, deswegen habe ich es für notwendig erachtet, das diese Probleme eine Erwähnung finden. Selbst wenn sicherlich, die Kunstvermittlung nicht allein dafür verantwortlich ist, sollte sie an den Lösungen teilhaben und nicht weiterhin Teil des Problems bleiben. Hinzu kommt, dass es im gesamtem Kulturbereich eine diskriminierungskritische Praxis braucht, denn sonst verlieren alle Bereiche der Kultur, ob Institutionen, Kunsträume oder Wissenschaften, die nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung abbilden, jegliche Legitimität und Relevanz. Das kann nur verhindert werden, indem alle Bereiche und Felder sowie ihre Beteiligten sich ganz bewusst breit aufstellen und sich die gesellschaftliche Diversität so auch in Kulturproduktionen wiederfindet. Daneben stehen insbesondere in einer digitalisierten Praxis noch weitere Herausforderungen: etwa Fragen der Nachhaltigkeit, sowohl im ökologischen als auch im arbeitsrechtlichen Sinne. Darauf wird an dieser Stelle nur kurz verwiesen, sollte aber bei allen Konzeptionen und Strategien stets mitgedacht werden. Diese Aspekte gilt es in eine kritische, digitale Kunstvermittlung einzuweben, sowohl durch Praxis als auch durch Inhalte, aber vor allem durch praktische Unterstützungen von bereits existierenden Initiativen und Formaten. Die Institutionen müssen nicht nach außen treten, wenn sie sowieso nichts zu sagen haben, sondern sie müssen zunächst verlernen, sie müssen Informationen zulassen und aufnehmen und insbesondere die institutionellen, akademisierten gläsernen Mauern einreißen. Die Kunstvermittlung steht nicht außerhalb der gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen, sondern befindet sich mittendrin, weshalb ich es für notwendig erachte, diese Probleme zu erwähnen und zu erläutern. Selbst wenn die Kunstvermittlung nicht allein dafür verantwortlich ist, sollte sie sich an den Lösungen beteiligen und sich der Tatsache bewusst werden, dass sie ein Teil des Problems ist. Der digitale Raum kann für die kunstvermittelnde Praxis eine neue Chance für eine autonome und kritische Arbeit sein, da wir hier teilweise unabhängig vom physischen Raum agieren können und selbstbestimmt Themen, Ideen und Schwerpunkte setzen müssen. Nick Schamborski ist Medienkünstler:in, Kurator:in und Kunstvermittler:in mit einem Fokus auf diskriminierungskritischer Kulturarbeit. Während des Studiums bei Prof. Candice Breitz an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig arbeitete Nick Schamborski in der Kunst- und Kulturvermittlung der Abteilung Museumskommunikation am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe zu gesellschaftlichen Fragen der digitalen Souveränität im Rahmen des Forschungsprojekts digilog@bw. Hierbei hat Nick Schamborski anhand einer Queer Art Education feministische und intersektionale Diskurse der Visual Culture Studies mit denen der Kunstvermittlung verbunden. Bild: Hitus T. Manleitner Endnoten [1] vgl. Weibel, Peter. Virus, Viralität, Virtualität. Wie gerade die erste Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte entsteht. In: Neue Zürcher Zeitung, 20.03.2020 [Zurück ] [2] Stiegemann, Cornelius. Interview mit Peter Weibel. Museen müssen das bessere Netflix werden. https://www.monopol-magazin.de/peter-weibel-interview-museen-muessen-das-bessere-netflix-werden (Zugriff 31.03.2021) [Zurück ] [3] Klein, Kristin, 2010. Branding and Trending. Post-Internet Art im Kontext aktueller Markenökologien. In: Eschment, Jane, Neumann, Hannah, Rodonò, Aurora, Meyer, Torsten (Hrsg.): Arts Education in Transition. Ästhetische Bildung im Kontext kultureller Globalisierung und Digitalisation. Schriftenreihe Kunst Medien Bildung, Band 5. München: kopaed, S. 261–272 [Zurück ] [4] vgl. Chun, Wendy, 2018. Queerying Homiphily. In: Apprich, Clemens (Hrsg.): Pattern Discrimination. Lüneburg: Meson Press, S. 59–97 [Zurück ] [5] Mehr dazu unter https://www.kunst-koffer.org/#:~:text= „Die Kunst-Koffer kommen“ bietet Kindern eine individuelle Förderung und die Teilhabe am freien Gestalten. (Zugriff 31.03.2021) [Zurück ] [6] Setelle, Bernadette, 2015. Queer Art Education. In: Meyer, Torsten und Kolb, Gila (Hrsg): What’s Next? Art Education. München: kopaed, S. 308–311 [Zurück ] [7] vgl. Mörsch, Carmen, 2006. Künstlerische Kunstvermittlung. Die Gruppe Kunstcoop im Zwischenraum von Pragmatismus und Dekonstruktion. In: Kittlausz, Viktor, Pauleit, Winfried (Hrsg.): Kunst-Museum-Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung. Bielefeld, S. 177–194 [Zurück ] [8] Incels (engl. „involuntary celibate, dt. „unfreiwilliger Zölibatärer“) sind rechtsextreme Frauenhasser, die sich in Internetforen gegenseitig herabsetzen und zu Gewalt gegen Frauen aufrufen. Für weitere Informationen: Ging, Debbie, 2017. Alphas, betas, and incels. Theorizing the masculinities of the manosphere. In: Men and Masculinities. Dublin, S. 638–657, oder zum Anhören: Chris Köver im Gespräch mit Veronika Kracher. Die Wut der Unbegehrten (über Incels). Podcast NPP 194, 18.01.2020. https://netzpolitik.org/2020/die-wut-der-unbegehrten [Zurück ] [9] vgl. Mörsch, Carmen. Decolonizing Arts Education beim Wort genommen. In: Vimeoprofil Kunst und Kunsttheorie in Köln. https://vimeo.com/219882081 (Zugriff 31.03.2021) [Zurück ] [10] Mbembe, Achile, 2019. Necropolitics. Durham: Duke University Press [Zurück ] Anker 2 Anker 4 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14 Anker 15 Anker 5 Anker 3 Anker 16 Anker 17 Anker 18 Anker 19 Anker 20 Anker 21
- Issue 1 Milevska | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Accessibility, Access, and Affordance: The Amplitude of Participatory Art Suzana Milevska The issue of accessibility has been already addressed in many different discussions about the reasoning behind the phenomenon of participatory art. Accessibility together with inclusivity and democratisation of museums is regarded as one of the most pertinent motivations and goals that prompted the emergence and development of various participatory art practices that aim to induce social change. (Milevska 2016: 19–20) This essay intends to make clearer the links between the issues of accessibility, lack of access and affordance through several theoretical arguments, personal empirical observations and with one example of a participatory art project that focused on accessibility and access. I want to argue that while the hindered accessibility to art institutions is inevitably interwoven within the main rationale of participatory art practices, the lack of access to societal and political means, infrastructures and protocols is even more relevant for the emergence of participatory art, such are representation and participation in decision making via voting, deliberation, and other democratic processes. However, although the ultimate amplitude of such art projects is undisputed, I also aim to challenge the assumption that participatory art could resolve such complex socio-political, economic and gender issues by default. The fact that the aims of participatory art projects are not related to the need to openly discuss and change only art institutions and their limitations, but are also deeply rooted in the need to analyse and criticise the socio-political systemic structures and contexts underlines the challenges, contradictions and obstacles that are generated when participatory artists create participatory art which is supposedly not confined to elitist and professional goals but is yet produced within that very system. (Gregorič and Milevska 2017: 10–27) Let’s now look closer at some of these conundrums starting from Irit Rogoff’s contentious distinction between access and accessibility. Rogoff detected a certain tension between these two while aiming to clarify at least some of these contradictions and she assertively argued in favour of shifting the focus from the term accessibility towards access: For some time now I have struggled with trying to understand how we, in the art world, might be able to shift from a dictated imperative to provide accessibility to displayed culture, to another possibility, one of forging through it, some form of access to the culture at large. (Rogoff 2013: 71) In Rogoff’s view the notion of access is more productive than accessibility. According to her, accessibility rather hinders one of the key motives for trying to involve more people in the arts in the first place – to turn them into active agents in the conversations about art and culture. In part this has followed on from a democratizing impulse of inclusiveness, of trying to find ways in which ‘everyone’, regardless of origins or particularities, might have an entrée into culture. This has gone hand in hand with the politics of representation and the desire to bring into representation those who might have not seen themselves easily mirrored within mainstream or hegemonic culture. (Rogoff 2013: 71) The main reason for the need to focus on access rather than on accessibility according to Rogoff is that accessibility assumes that inclusion and representation necessarily mean ‘this kind of process by which one sees oneself and one’s identity group reflected in culture and therefore taking up a rightful place within it’ (Rogoff 2013: 71) and that it’s concerning the assumption that art needs mediation and translation because these groups seem to be undermined as they are regarded as less knowledgeable of contemporary art by default: Accessibility also assumes that beyond the politics of representation we also have a commitment to translate that which goes on outside the spaces of display directly into them – that we need to ensure, through these strategies of inclusion, translation, representation, and easy access, that our visitor numbers and visitor satisfaction measurements meet the required targets. At the heart of accessibility is the model of a client-based relationship with consumers who know what they want and can evaluate their satisfaction from it. Within such a set of relations there is no room for the unexpected, the speculative, or the seductive. (Rogoff 2013: 71) Therefore, for Rogoff the tension between accessibility and access results from the fact that the ‘first instrumentalizes the second, turning it into a simple system by which you can consume rather than experience’. (Rogoff 2013: 72) For this she blames the ‘nostalgic desire that persists through conventional opposition between creativity and institutions in a classical modernist mode’. (Rogoff 2013: 72) and continues with even harsher criticism of the instrumentalization of accessibility: While there is probably not much harm in such backward-looking approaches, they block any newly forged understanding that we are living out a complex entanglement of practices in which it is almost impossible to chart the boundaries between imagining, making, theorizing, questioning, displaying, being enthralled by, administrating, and translating. (Rogoff 2013: 72) Regardless of how convincingly Rogoff issues her calls for shifting of the paradigms through and within the work in joint experiences of the makers, displayers, and viewers and regardless of how relevant her warnings are that such shifts are entirely lost by overemphasising the calls to accessibility[1 ] , such theoretical and high-brow discussion about the semantic difference between the two terms might sound patronising and tone-deaf. Discussing the issue of accessibility with individuals and communities that struggle to gain not only accessibility but also any visibility, recognition and representation in the art context and cultural institutions would be particularly problematic. This is not the same as saying that Rogoff’s arguments are not compelling and valid for the self-indulgent art world. However, given the current institutional conditionality that is a result of the hierarchical systemic structures and the unchallenged contentious historic, material and narrative heritage all too many individuals and communities are not entitled and/or capable to join end enjoy ‘the unexpected, the speculative, or the seductive’ (Rogoff 2013: 71). Rather even if they joined the discussion could be futile and the tension between accessibility and access cannot occur simply because neither of them exists from the outset.[2 ] In this respect, what is lacking from Rogoff’s generalised analysis is the contextualisation of her critique and how the issue of accessibility differs depending on different ethnic, gender, class or other contexts such as disability, sexuality, citizenship status, etc. A more precise socio-political positioning is needed of such a critical analysis of the emancipatory potentials of art projects that focus on accessibility, and not only in cultural terms, but also in the context of education, art production, decision making of cultural policies, etc. In context of the discussion of the intertwinement and the tensions between accessibility and access due to the neoliberal crisis of identity politics and the limitations that it imposes to accidental encounters and enthusiastic relations necessary for creative artistic processes the acknowledgement of the class, ethnic and gender hierarchies that prevent such reciprocal processes from happening at first place makes Rogoff’s analysis only a one-way street and does not explain the various stages of emancipation of the different groups in need of accessibility and eventually access to art debates and production. Jacques Rancière’s definition of emancipation as an ‘encounter between two heterogeneous processes’ (Rancière 1995: 63) could be helpful for an understanding of the more complex but relevant tension, the one between accessibility and emancipation. The first process for Rancière is the one of governance. It assumes a creation of community that relies on distribution of shares, hierarchies of positions and functions. This is what Rancière calls ‘policy’. The second process is the one of equality, multitude of practices that starts from the assumption that everybody is equal and aims to prove this assumption. (Rancière 1995: 63) Undoubtedly ignoring or undermining the pre-existing societal hierarchies doesn’t help and the access would be futile anyway. Therefore, the acknowledgement that there are many participatory art projects that think together the issues of accessibility and access could help in overcoming the generalised theoretical discussion about the tension between the two. (Tunali 2017: 67-75) Artists as Tania Bruguera, Tanja Ostojić, Tadej Pogačar, Alfred Ulrich, Carmen Papalia, the collectives Chto Delat, Etcetera and Assemble, or the Project Row Houses have all engaged with issues as accessibility and access to art, education, freedom of movement and citizenship in the context of different communities – e. g. refugees, sex-workers, African-Americans or Roma, homeless, etc. However, without any prejudices they also address how different socio-political contexts that determine the hierarchical relations and intersections of gender, ethnicity, sexuality, race, or capability hinder the access to otherwise available contents. Thus, accessibility and access are reciprocal and mutually co-dependent. One of the art projects that in my view addressed both aspects in a subtle and suggestible way was Dan Perjovschi’s Room Drawing from 2006 – a project that was ‘installed’ in the Members’ Room at Tate Modern.[3 ] This particular project is close to my heart not only because of its hands-on approach and potentials to reveal the existing hierarchies in different corners of the art world but also because as a PhD student in London while already being an experienced curator in my home country, North Macedonia, I’ve been experiencing these hierarchies exactly during that period (between 2001 and 2006) – and most directly and paradoxically I’ve found out that my curatorial credentials were not valid in the UK. While the openings back home were free of charge and accessible to everybody (it was the period of a slow transition between socialist and neoliberal economy, so culture was completely non-commercial) and were publicised without any privileges and hidden agendas, in London I could hardly attend any art event.[4 ] Without a special personal invitation, paid institutional membership, or expensive tickets for which the long waiting list was also an obstacle it was simply impossible to attend any official opening of an exhibition, conference, performance, etc. Thus, the unique and successful participatory effect of Perjovschi’s project, at least in my view, consisted exactly of the given opportunity to non-members to enter this elitist and prestigious membership-based ‘club’ (the single annual membership costs £90). For the duration of the exhibition, Perjovschi turned the walls of the Members’ Room into surfaces for his renowned signature ‘murals’ – black and white graffiti consisting of many combined cartoon-like drawings and texts. Perjovschi’s project was a rare opportunity for the artist not only to meet the professionals and members of Tate Modern but also to mingle with the members of the general audience. However, even today all you can read on Tate Modern’s web site about the project is: ‘Treating the walls of Tate Modern’s Members’ Room as a blank canvas, Dan Perjovschi creates a witty, provocative and occasionally cutting social commentary, using drawing to deal with socially relevant issues. His work follows the tradition of political cartoonists’ drawings which link humorous observations of everyday life with ironic commentary.’ (https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006) No mention of the open doors of the otherwise secluded space, nor about the new protocols of communication and relationships that were forged in the course of the project.[5 ] In the centre of the discussion about accessibility and access is the urgent need to challenge the received assumption that art is not obliged to deliver truth, but it rather constructs it. Even when it aspires toward grasping certain truths art’s main role is not necessarily linked to ontology, gnoseology, epistemology, and critical thinking in general. Art rather clings to its hermeneutical, representational and creative role. Such definitions of art imply that neither art aims to reveal some kind of absolute truth, nor it is about delivering truthful facts regarding various world phenomena. The main rationale behind this argument is the paradox stemming from such a definition of art that still prevails in different contexts in contrast to the social-practice based art and the political activist art that dominate the current non-commercial art scene. According to Trenton Merricks’ critique of the theory of ‘Truthmaker’ its assumption that each truth has a truthmaker is problematic because it assumes that ‘for each claim that is true, there is some entity that, by its mere existence, makes that claim true’.[6 ] (Merricks 2007: xiii) For Merricks not each truth depends substantively on being, but rather ‘making true’ means that: x makes p true only if, necessarily, if both x and p exist, then p is true. (Merricks 2007: xiv) Merricks therefore introduces a certain ‘conditional necessitarianism’ and explores the question of whether and how the truth ‘depends on the world’. (Merricks 2007: xiii) In this respect one could conclude that truth exists and can be revealed and accessed as long as the accessibility and access to it exist for all: for the artists, the institutions and for all sorts of different audiences, either individuals or communities that are at various stages of understanding of art, and this is true regardless to how complex and opaque the meaning of art is. For various reasons, art comprises and is capable of powers that are not affordable to the state and political centres of power. I want to argue that truth as a social construct that is controlled by the societal structures of power can and should be tackled by various artistic strategies, but it takes a carefully extrapolated and targeted approach towards the stratified audiences and communities. The amplitude and affordance of art for addressing even the most uncomfortable truths about our society are relational.[7 ] (Gibson 1979: 127) It’s safe to state that the affordance of art depends on accessibility. Unfortunately, the inaccessibility of art is definitely one of these uncomfortable truths and both accessibility and access to art and its institutions should be rethought and reassessed time and again. Participatory art is definitely one of the artistic practices that aims to such reassessment and does it with bigger or lesser success. The current deceptive mechanisms that grind and shape truth on levels that were extremely difficult to anticipate and imagine in the pre-internet and pre-social networks era are mechanisms that are and have been affordable to artists by default. Moreover, by questioning the offered and received truths and by producing new truths and knowledges the participatory art and artistic research are capable of drawing relevant intersections between the ontological, epistemological and gnoseological role of art and thus redefining it. The promise of participatory art is fundamentally based on the need to surpass and overcome this misgiving between the general audience and the art world. However, while on the one hand aiming to open the art institutions towards a more profound involvement of art audiences in the process of artistic practices and productions, on the other hand such tendency towards participation can produce new distinctions and ’elites’ because of the too general invitation to the audiences in different levels of direct involvement without taking into account the multi-layered and stratified audience. Such differentiation of audiences can lead towards developing more diversified art and cultural policies among curators and art administrators but also towards a greater awareness among the ‘elitist’ museum and gallery audiences of the existence of other publics and participants. Yet the issues of access and accessibility remain fundamental for even starting to think the diverse structure of the audience exactly because the accessibility is as complex as the audiences that need the access. Suzana Milevska is a visual culture theorist and curator. Her theoretical and curatorial interests include postcolonial critique of the hegemonic power regimes of representation, gender theory and feminism as well as participatory, collaborative and research-based art practices. Currently she is Principal Investigator at the Politecnico di Milano (TRACES, Horizon 2020). From 2013 to 2015 she was the Endowed Professor for Central and South Eastern European Art Histories at the Academy of Fine Arts Vienna, where she also taught at the Visual Culture Unit of the Technical University. Milevska was Fulbright Senior Research Scholar at the Library of Congress (2004). In 2012, Milevska won the Igor Zabel Award for Culture and Theory. References Gibson, James J., 1979. The Ecological Approach to Visual Perception. Boston: Houghton Mifflin Harcourt Gregorič, Alenka and Milevska, Suzana, 2017. Inside Out: Critical Art Practices That Challenge the Art System and Its Institutions. In: Gregorič, Alenka and Milevska, Suzana (eds.): Inside-Out Critical Discourses Concerning Institutions. Ljubljana: City Art Gallery Heller, Hannah, 2017. Whiteness and Museum Education. In: Best Practices, Culture, Heritage, & Identity, Educational Environment. The Incluseum - Inclusion | Museums. December 14, 2017, https://incluseum.com/2017/12/14/whiteness-and-museum-education/ (visited 23 March 2021) McLean Ferris, Lana, 2014. Visual Cultures as Seriousness by Gavin Butt and Irit Rogoff. In: Art Review. 10 July 2014 https://artreview.com/april-2014-book-review-visual-cultures-as-seriousness-by-gavin-buttirit-rogoff/ (visited 23 March 2021) Merricks, Trenton, 2007. Truth and Ontology. Oxford: Oxford Clarendon Press Milevska, Suzana, 2018. Infelicitous: Participatory Acts on the Neoliberal Stage. In: P/art/icipate: Kulturaktiv gestalten, Vol. 7, October 2016. www.p-art-icipate.net/cms/infelicitous-participatory-acts-on-the-neoliberal-stage, pp. 19-30 (visited 23 March 2021) Perjovschi, Dan, 2006. The Room Drawing, curator: Maeve Polkinhorn, 25 March-23 June 2006, London, Tate Modern. https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006 (visited 23 March 2021) Rancière, Jacques, 1995. Politics, Identification and Subjectivization. In: Rajchman, John (ed.): The Identity in Question. New York and London: Routledge Rogoff, Irit, 2013. On Being Serious in the Art World. In: Butt, Gavin and Rogoff, Irit: Visual Cultures as Seriousness. Berlin: StenbergPress Tunalı, Tijen, 2017. The Paradoxical Engagement of Contemporary Art with Activism and Protest. In: Bonham-Carter, Charlotte and Mann, Nicola (eds.): Rhetoric, Social Value and the Arts. But How Does it Work? London: Palgrave McMillan Image above and below: Dan Perjovschi, The Room Drawing, 2006, Members' Room, TATE Modern, London, 25 March-23 June, 2006, Courtesy of the artist Endnotes [1] The Art Review published a very positive, but short review of the book ‘Visual Cultures as Seriousness’ that didn’t question the contentiousness of some of Rogoff’s claims: McLean Ferris, Lana, 2014. Visual Cultures as Seriousness by Gavin Butt and Irit Rogoff. In: Art Review. 10 July 2014visited 20.03.2021 https://artreview.com/april-2014-book-review-visual-cultures-as-seriousness-by-gavin-buttirit-rogoff/ (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [2] Heller, Hannah, 2017. Whiteness and Museum Education. In: Best Practices, Culture, Heritage, & Identity, Educational Environment, The Incluseum - Inclusion | Museums. December 14, 2017 https://incluseum.com/2017/12/14/whiteness-and-museum-education/ (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [3] The short description of the project and a video recording of the talk with the artist are still accessible online: Perjovschi, Dan, 2006. The Room Drawing, curator Maeve Polkinhorn, 25 March-23 June 2006, London, Tate Modern. https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006 (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [4] Perhaps this doesn’t apply to Perjovschi as a native Romanian, but for a completely other reason: The National Museum of Contemporary Art in Bucharest is based in the Palace of the Parliament or People’s Palace – Nicolae Ceausescu’s building that is one of the largest and most guarded and inaccessible museum buildings in the world. [back to the passage in the text] [5] In one of the several emails during the correspondence I had with the artist about this project for this particular essay Perjovschi wrote: ‘Members’ Room is exclusive to the 80.000 members, but they do not come all at once [...] and it's basically a coffee shop (coffee, sandwiches and sweets and champagne) not open for everybody. And here was the deal. I asked and got permission to open the Members’ Room (5th floor I think but not sure) for everybody the whole week (except on Saturday and Sunday when usually it is full because of the splendid terrace). I had to talk with the Tate director of flux of people (can u believe it?) because of opening for the public to the floor (and elevator) reserved usually for members card holders.’ (email from Dan Perjovschi, 26 March 2021) [back to the passage in the text] [6] For a more precise definition of the concept ‘Truthmaker’ as it is defined in philosophy see: Merricks, Trenton, 2007. Truth and Ontology. Oxford: Oxford Clarendon Press. [back to the passage in the text] [7] The concept of affordance in art and culture was coined by James J. Gibson and first appeared in his 1966 book ‘The Senses Considered as Perceptual Systems’. [back to the passage in the text] Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14 Anker 15
- Über Kunst und Klimaaktivismus | appropriate!
Ein Gespräch mit Oliver Ressler, Interview von Lena Götzinger Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Über Kunst und Klimaaktivismus Lena Götzinger im Gespräch mit Oliver Ressler Oliver Ressler, Everything’s coming together while everything’s falling apart , 2016–2020, 6-Kanal-Videoinstallation. Ausstellungsansicht Barricading the Ice Sheets: Repossess the Plant, the Planet , LABoral Centro de Arte y Creación Industrial, Gijón, 2023 (Foto: Marcos Morilla). Courtesy of the artist; àngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht Oliver Ressler, Everything’s coming together while everything’s falling apart , Code Rood 4K-Video, 14 Min., 2018. Courtesy of the artist; àngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht The Natural History Museum, Mining the HMNS: An Investigation by The Natural History Museum, 2016. Ausstellungsansicht Overground Resistance, frei_raum Q21 exhibition space, Wien, 2021 (Foto: Sam Beklik) Oliver Ressler, Not Sinking, Swarming , 4K-Video, 37 Min., 2021. Courtesy of the artist; àngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht Oliver Ressler, The Natural History Museum, Mining the HMNS: An Investigation by The Natural History Museum, 2016 Ausstellungsansicht Overground Resistance, frei_raum Q21 exhibition space, Wien, 2021 (Foto: Sam Beklik) Oliver Ressler, Everything’s coming together while everything’s falling apart: Code Rood, 4K-Video, 14 Min., 2018. Courtesy of the artist; àngels, Barcelona; The Gallery Apart, Rome © Bildrecht Angesichts der fortschreitenden Klimakatastrophe gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, der sich nicht mit ihren Auswirkungen wird befassen müssen. Das gilt natürlich auch für den Kunstbetrieb sowie für Künstler:innen selbst. Darüber, welche Rolle die Kunst in der Klimakrise einnehmen kann und welche Potenziale in einer Liaison mit dem Aktivismus liegen, haben wir mit dem Künstler Oliver Ressler gesprochen. In Erweiterung seiner eigenen künstlerischen Auseinandersetzung mit der Klimakrise untersuchte Oliver Ressler gemeinsam mit weiteren Künstler:innen und Aktivist:innen in der Forschungsarbeit „Barricading the Ice Sheets” die Beziehung der Klimagerechtigkeitsbewegungen zur Kunst. Dabei stellte er fest, dass sich ihr Verhältnis in den letzten Jahren durchaus gewandelt hat. So habe es in der Vergangenheit immer wieder Versuche seitens politischer Bewegungen gegeben, Kunst bei ihren öffentlichen Veranstaltungen mit einzubeziehen, schildert Ressler. Häufig seien es Performances und Screenings gewesen, die nach Abschluss der politischen Diskussionen stattgefunden hätten und von den Veranstaltenden meist als eine Art Zusatz- oder Unterhaltungsangebot eingesetzt wurden. Eine aktive Zusammenarbeit mit Künstler:innen habe sich größtenteils auf das visuelle Erscheinungsbild der Bewegungen, darunter das Gestalten von Logos und Plakaten, beschränkt. Innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegungen sehe man in den letzten Jahren hingegen eine immer stärkere Überschneidung und Verschränkung von Kunst und Aktivismus. Künstler:innen seien nun deutlich mehr in die Formung, sowie in Fragen der Ausrichtung und Strategie der Bewegungen involviert. Ressler ist der Überzeugung: „Wenn man als Künstler:in politisch etwas verändern will, bedarf es eines Bezugs auf Aktivismus. Nur so wird man etwas bewegen können.” Das Kollektiv „Laboratory of Insurrectionary Imagination”, mit dem Ressler bereits Projekte realisierte, hat es sich beispielsweise zur Aufgabe gemacht, Künstler:innen und Aktivist:innen zusammenzubringen, um gemeinsam neue Formen des Widerstands und zivilen Ungehorsams zu entwickeln. Unter anderem kämpften sie zusammen mit 40 weiteren Kollektiven erfolgreich gegen den Bau eines Flughafens auf dem autonomen Territorium ZAD (zone à défendre) im Westen Frankreichs, indem sie das Gebiet besetzten und es über Jahre hinweg gegenüber staatlichen Akteur:innen und Polizeikräften verteidigten. Im Laufe der Zeit wurde die ZAD zu einem Experimentierfeld neuer Gemeinschaftsformen, in denen Widerstand, Kunst und Leben ineinanderfließen. Damit ist sie eines der wenigen Beispiele, bei dem die Blockade klimazerstörender Infrastruktur und der Aufbau alternativer Lebens- und Handelsstrukturen an einem Ort zusammentreffen. Zwar ist es auch innerhalb dieser politischen Selbstorganisation nicht möglich, sich vollständig von den kapitalistischen Wirkweisen der restlichen Gesellschaft zu lösen, doch finden sich hier vielfältige Beispiele der Imagination und Erforschung utopischer Perspektiven. Ein weiteres Beispiel für eine solche Allianz aus Künstler:innen und Aktivist:innen ist das Kollektiv „Not An Alternative”, dessen Arbeiten unter anderem in der von Ressler kuratierten Ausstellung „Overground Resistance” (frei_raum Q21 exhibition space, Wien, 2021) zu sehen waren. Das von ihm entwickelte „The Natural History Museum” bricht mit Geschichtserzählungen und Narrativen, die versuchen, historische Entwicklungen, welche auf Ausbeutung und Enteignung basieren, zu naturalisieren. Dabei wird auch der Zusammenhang deutlich, in dem die systemische Gewalt des Kapitalismus und des Siedlerkolonialismus mit der Klimakrise stehen, sowie mit deren bedeutend stärkeren Auswirkungen auf indigene Bevölkerungen und auf Menschen, die in der Nähe von umweltverschmutzenden Industrien zu leben gezwungen sind. Insbesondere anhand der „Red Natural History” wird eine alternative Naturgeschichte aufgezeigt, die nicht auf kolonialen oder kapitalistischen Strukturen, sondern auf einer kameradschaftlichen und wechselseitigen Beziehung zu Land, Leben und Arbeit beruht. Diese Praxis ist aus Sicht des Kollektivs eine wichtige Perspektive im zeitgenössischen Kampf für Klima- und Umweltgerechtigkeit. Sein mobiles Pop-up-Museum entwirft ein Trainingsgelände, um diese zu erproben. Oliver Ressler selbst entwickelt dokumentarische Formate, in denen er Aktivist:innen während ihrer Aktionen und Vernetzungstreffen begleitet. Die daraus resultierenden Filme machen verschiedenste Akteur:innen sowie bedeutsame Momente im Kampf gegen die Klimakrise für ein öffentliches Publikum sichtbar und geben Einblicke in die Strukturen und Strategien der Klimagerechtigkeitsbewegungen. Neben der Rezipierbarkeit seiner Filme in Kunstinstitutionen und auf Filmfestivals, stellt er sie den Bewegungen, etwa für Schulungen oder Kampagnen, frei zur Verfügung. Da ihm die Zugänglichkeit seiner Arbeiten ein großes Anliegen ist, arbeitet Oliver Ressler seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn ebenfalls gezielt mit Text- und Bildmontagen im öffentlichen Raum, um auch jene Menschen zu erreichen, die andernfalls wenig Bezug zur Kunst haben. Die Klimagerechtigkeitsbewegungen profitieren aus Resslers Sicht von der stärkeren Involvierung von Menschen aus kreativen Berufen, die ihr spezifisches Know-how in die Bewegungen einbringen. Erschienen in den Tageszeitungen und Magazinen noch vor wenigen Jahren ganzseitige Artikel über die friedlichen Demonstrationen und Sitzblockaden der „Fridays For Future” Bewegung, so seien ihre Proteste heute lediglich noch eine Randnotiz in der Berichterstattung, wenn überhaupt über sie berichtet werde. Ressler meint: „Es braucht vielfältige Methoden zur Generierung von Aufmerksamkeit und neuartige Kategorien von Bildern. In der Kunst liegt dafür ein großes Potenzial." Gleichzeitig betont Oliver Ressler, dass es grundsätzlich wichtig für die Klimagerechtigkeitsbewegungen sei, an Breite und Vielfalt zu gewinnen. Die Involvierung von Künstler:innen und Kulturproduzent:innen spiele eine zentrale Rolle, daneben sei aber auch die Einbindung anderer gesellschaftlicher Akteur:innen notwendig, inklusive der Menschen, die in den klimaschädlichsten Sektoren berufstätig sind. Als mögliche Neuorientierung der Bewegungen beschreibt Ressler Versuche, Beziehungen zu Mitarbeitenden in Schlüsselunternehmen der Energieversorgungsbranche herzustellen. Diesen notwendigen Schulterschluss thematisiert Matthew Huber in seinem Buch „Climate Change as Class War". Huber sieht die Klimakrise als ein Klassenproblem, welches tief in der Verteilung von Eigentum, Produktionsmitteln und Profiten innerhalb der Gesellschaft verwurzelt sei und deshalb nur durch die Umwälzung der Klassenverhältnisse gelöst werden könne. Dafür brauche es eine Klimapolitik, die sich weltweit solidarisch mit der Arbeiter:innenklasse zeige und deren Lebensrealitäten adressiere. In die Praxis umgesetzt heißt das Ressler zufolge, man wolle Arbeiter:innen in ihrem Bestreben, sich gewerkschaftlich besser zu organisieren, unterstützen und ein größeres ökologisches Bewusstsein unter ihnen schaffen, um sie als Alliierte im klimaaktivistischen Kampf zu gewinnen. Menschen, die im Energiesektor tätig sind, hätten das Know-how, um beispielsweise großflächig den Strom abzuschalten und somit kapitalistische Produktion zu sabotieren. Eine solche Allianz wäre aus Resslers Sicht eine bedeutende Waffe im Kampf für Klimagerechtigkeit. Ähnlich verhält es sich beim Agrarsektor, dem der Weltklimarat (IPCC) den größten Anteil an den weltweiten menschengemachten Nicht-CO2-Emissionen zuschreibt und der zugleich selbst Leidtragender von Extremwetterereignissen wie Dürren und Starkregen ist, die durch das Voranschreiten der Klimakrise verstärkt werden. Ressler hält es daher für notwendig, auch Landwirt:innen für den Klimaprotest zu gewinnen. Aufgrund ihrer systemrelevanten Funktion als Nahrungsmittelproduzent:innen hätten sie ein großes Druckmittel in der Hand und ließen sich nicht so leicht kriminalisieren wie andere Akteur:innen. Ganz aktuell sehen wir das an den oftmals solidarischen und kompromissbereiten Reaktionen der Politik auf die Proteste aus der Landwirtschaft. Doch weist Ressler auch darauf hin, dass freundliche Demonstrationen nicht reichen werden, um staatliche Akteur:innen zur Einleitung jener Schritte zu bewegen, welche aufgrund der absoluten Dringlichkeit der Klimakatastrophe erforderlich sind. In dieser Hinsicht habe es in den letzten Jahrzehnten drastische und folgenschwere Versäumnisse seitens der Politik gegeben. Heute sei die Lage so akut, dass wir nicht länger auf ein langsam wachsendes ökologisches Bewusstsein hoffen und uns mit kleinen Fortschritten zufriedengeben können. Für ihn steht fest: „Man kann keine soziale Veränderung herstellen, wenn man rein im Rahmen jener Gesetze agiert, die den Klima-Zusammenbruch zu verantworten haben. Die bürgerliche Gesetzgebung repräsentativer Demokratien konnte nicht verhindern, dass wir an diesem Punkt angelangen. Es ist ein Mittel des Überlebens, sie zu überdehnen, außer Kraft zu setzen und dafür einzutreten, dass sie geändert wird.” Es gibt viele Beispiele, in denen man mittels zivilen Ungehorsams den Bau von Flughäfen, Autobahnen, Pipelines oder Kohlekraftwerken verhindern konnte. Ressler zählt diese Momente zu den großen Erfolgen der Klimagerechtigkeitsbewegungen. Allerdings betont er, dass die Bewegungen nicht erfolgreich genug gewesen seien. Wir würden weiterhin mit voller Geschwindigkeit auf die Klimakatastrophe zurasen und auch an der Zerstörungskraft des kapitalistischen Systems und seiner ausbeuterischen Produktionsweisen habe sich nach wie vor wenig geändert. Klimagerechtigkeit werde man nur erreichen, wenn auch die weltweit bestehenden Machtasymmetrien und ungerechten Lebensverhältnisse abgeschafft würden. Um noch eine Chance zu haben, die Klimakatastrophe zu mindern, seien massive Mobilisierungen und Aktionen notwendig, von denen der Künstler denkt, dass sie grundlegend andere Form annehmen werden, als die Proteste, welche wir in den letzten fünf bis zehn Jahren beobachten konnten. In Zeiten, in denen die CO2- und Methan-Emissionen jährlich neue Rekorde erreichen, ist die einzig wirksame politische Maßnahme aus seiner Sicht die Enteignung des fossilen Kapitals, welches er als hauptverantwortlich für diese Zustände identifiziert. Dafür bedürfe es einer geordneten Abwicklung innerhalb weniger Jahre, die global jedoch noch von keinem einzigen Staat angegangen werde. Diese Ausgangslage dränge immer mehr Menschen, die um ihre Lebensgrundlage bangen, dazu, sich gegen die Tatenlosigkeit der Politik zu wehren - ähnlich wie es der Humanökologe Andreas Malm in seinem Buch „How to Blow Up a Pipeline" beschreibt. „Ich gehe davon aus, dass es zu einer massiven Sabotage und Zerstörung von klimazerstörender Infrastruktur kommen wird”, prognostiziert Ressler. Diese Entwicklungen wolle Oliver Ressler weiterhin verfolgen und filmisch begleiten. Auch wenn sich zwischenzeitlich der Gedanke einstellt, der Zug sei bereits abgefahren, dürfe man nicht resignieren, da jedes zehntel Grad Erderhitzung, das wir noch vermeiden können, für Millionen von Menschen und andere Lebewesen den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann. In der aktiven Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein Leben in Klimagerechtigkeit aussehen könnte, sowie in der Imagination möglicher Zukünfte, für die es sich zu kämpfen lohne, liege das Potenzial, enorme Handlungskraft freizusetzen. Oliver Ressler (*1970) ist ein österreichischer Künstler und Filmemacher, der Installationen, Arbeiten im Außenraum und Filme zu Themen wie Ökonomie, Demokratie, Migration, Klimakrise, Widerstandsformen und gesellschaftliche Alternativen realisiert. Seine Arbeiten werden international in Museen sowie auf Filmfestivals gezeigt und von ihm auch Klimagerechtigkeitsbewegungen für Schulungen und Kampagnen zur Verfügung gestellt. Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, ist Studentin der Freien Kunst sowie der Kunstvermittlung bei Professor Lutz Braun und Professor PhD Martin Krenn, an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Sie ist seit Issue 4 Teil der Redaktion des „appropriate! - Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst” und hat gemeinsam mit Professor PhD Martin Krenn die Redaktionsleitung für das Issue 5 übernommen. Der Text basiert auf einem Interview mit Oliver Ressler, geführt von Lena Götzinger, Merve Gisou Rosenthal und Janis Binder. Literatur: Laboratory of Insurrectionary Imagination: https://frontiers-of-solitude.org/laboratory-of-insurrectionary-imagination [Zugriff am 19.01.2024] Not An Alternative/The Natural History Museum: https://thenaturalhistorymuseum.org/nhm_writing_authors/not-an-alternative/ [Zugriff am 19.01.2024]
- Open Call Issue 4
Anker 1 Open Call für Issue 4 Inhalt Anker 2 CLICK HERE FOR THE ENGLISH VERSION OF THE OPEN CALL KURZINFO Einreichen können: Studierende und Angehörige aller Institute der HBK Braunschweig Thema: Machtverhalten Abgabetermin (Abstract, ca. eine halbe Seite): 9 Oktober 2022 Sprachen: Deutsch, Englisch ISSUE 4: MACHTVERHALTEN Obwohl die Gegenwartskunst nach Autonomie strebt und über weite Strecken liberale Positionen vertritt, ist der globalisierte Kunstbetrieb von den vorherrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht ausgenommen. Sowohl Kunstschaffende, Kunstausstellende, Kunstvermittler:innen, Kunstkritiker:innen als auch Kunstkonsumierende sind von Neoliberalismus, Diskriminierung und ungleichen ökonomischen Verhältnissen betroffen. Auch zwischen diesen Gruppen lassen sich Abhängigkeitsverhältnisse erkennen, die zu einem komplexen Wechselspiel führen, in dem die Akteur:innen durch ihr Verhalten aufeinander Macht ausüben und selbst erfahren. Faktoren, wie beispielsweise die Vergabe von Stiftungsförderungen und Stipendien, öffentliche und private Ankäufe von Kunst, oder auch die Kunstvermittlung in Bildungsinstitutionen wie an Schulen oder Universitäten spielen hierbei eine tragende Rolle. Das Bewusstsein über die den Entscheidungen innewohnende Macht über die Verteilung und den Zugang von/zu Mitteln im Kunstbetrieb verändert das Machtverhalten der Akteur:innen. Aus diesem Grund ist es wichtig, in Projekten, Institutionen und Ausstellungssituationen zu reflektieren, wer in welcher Position agiert. Unter welchen Umständen sind diese wandelbar? Was passiert wenn sich die Rollen verändern, wenn etwa Künstler:innen zu Kurator:innen, oder Kunstvermittler:innen / Kurator:innen zu Künstler:innen werden? Welche Möglichkeiten, aber auch welche neuen Machtverhältnisse resultieren daraus? Bedacht werden sollte, dass der Austausch von Personen, Gruppen und Begriffen nicht zwangsläufig zu einer Verflachung von Hierarchien führen muss. Sowohl die Kunstproduktion, als auch die Kunstkritik, kuratorische Arbeit und der Kunsthandel sind immer von Macht geprägt. Macht kann nicht negiert werden, vielmehr erzeugt jede Veränderung im Kunstbetrieb neue Machtkreisläufe, die sich stetig reproduzieren und deshalb immer wieder neu kritisch bearbeitet werden müssen. Dieser Einsicht verschreiben sich kritische Theorie, Praxis und Vermittlung in der Kunst. Die Machtanalysen des französischen Philosophen Michel Foucault und der Literatur, die seine Ansätze weiterführt, bilden hierfür ein wichtiges Werkzeug, welches in der Konzeptkunst, institutionskritischen Kunst und kritischen Kunstvermittlung häufig zum Einsatz kommt. Macht wird als etwas begriffen, das sich einer eindeutigen Definition entzieht, prozesshaft wirkt und in der Gesellschaft zirkuliert. Das bedeutet, die Individuen einer Gesellschaft haben nicht einfach mehr oder weniger Macht, sondern sie sind dazu gezwungen, Macht auszuüben und diese zur selben Zeit zu erfahren. Das Machtverhalten einer Person, Gruppe oder Institution ist demnach keine individuelle Praxis mehr, sondern das Produkt und der Ausdruck eines Diskurses. Sprache selbst wird zu einer diskursiven Praxis und jede:r kann in sie und durch sie in vorherrschende Machtverhältnisse eingreifen. In heutigen, identitätspolitisch geprägten Diskursen bleibt jedoch die Frage offen, ob ein rein diskursives Machtverständnis tatsächlich ausreichend ist, um sich revolutionär verhalten zu können. Wenn etwa zum Umsturz aufgerufen wird, eine radikale Umverteilung von Macht und ökonomischen Mitteln gefordert wird, oder wenn die politische Praxis von konkreten Personen und Institutionen attackiert wird, widerspricht das dann nicht dem fluiden Machtverständnis Foucaults? Fest steht, dass das Prinzip von Macht im Allgemeinen und im Kontext von Kunst und ihrer Vermittlung vielschichtig ist. Macht zeigt sich in bewussten, sowie unbewussten Handlungen. Die Entscheidung des Individuums (das im selben Moment Teil einer Gruppe ist) wie es seine Macht einsetzt, spielt immer eine entscheidende Rolle. Dabei prägen unterschiedliche Formen von Diskriminierung die Machtverhältnisse, in welchen es sich bewegt. So reproduzieren bis heute, auch in der Kunst, patriarchale Strukturen ihre innewohnenden Verhältnisse von Macht. Nach wie vor dominieren weiße Cis[1] männliche Personen den globalen Kunstdiskurs, sowohl was die ausgestellten Werke als auch Ausstellungskonzeptionen und Institutionen betrifft. Im über weite Strecken prekären Kunstbetrieb kommt das Selbstverständnis von schlechter- oder gänzlich fehlender Bezahlung einer Abwertung der Arbeit von Kunstschaffenden und Kunstvermittelnden gleich. Auch hier sind es im Allgemeinen marginalisierte Personengruppen, die besonders schlecht bezahlt werden. Institutionen mit progressiven Ansätzen, die etwa Ausstellungen mit einem antirassistischen/antidiskriminierenden Anspruch zeigen, verstricken sich nicht selten in innere Widersprüche, wenn man die hierarchischen Verhältnisse dieser Häuser unter die Lupe nimmt. Manchmal stellt sich die Frage, ob es diesen Institutionen tatsächlich um das politische Anliegen geht, oder ob es sich nicht eher um eine Aufwertung ihrer selbst handelt, weil es mittlerweile „en vogue“ geworden ist, sich als möglichst antirassistisch, antidiskriminatorisch und divers zu präsentieren. Geht es um eine ernst gemeinte Wertschätzung von marginalisierten Gruppen oder werden diese für die Außenwirkung einer Institution instrumentalisiert? So führt letzteres dazu, dass BIPoC[2] oder queere[3] Personen in vielen Fällen zwar zu Ausstellungen eingeladen werden, die sich Themen wie kulturelle Zuschreibung, Sexualität, Geschlecht, und/oder Identität im Ganzen widmen, aber zugleich nicht nachhaltig in Entscheidungsprozesse mit einbezogen oder in Institutionen integriert werden. Diese Umstände stützen ein dauerhaftes Machtgefälle. Dabei ließe sich durch die Entscheidung darüber, mit wem und wie Institutionen und andere Akteur:innen des Kunstbetriebs zusammenarbeiten, jenen Personengruppen Raum und Wertschätzung schenken, denen beides, auch historisch gesehen, selten zugestanden wurde. ________________________________________ [1] Cis/ cisgender bezeichnet Personen deren Geschlechtsidentität mit dem, ihnen bei der Geburt zugewiesenen/ im Geburtsregister eingetragenen Geschlecht, übereinstimmt [2] BIPoC steht für die politischen Selbstbezeichnungen Black, Indigenous und People of Color [3] Queer - Sammelbegriff für Personen, deren Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung nicht der binären (zweigeschlechtlichen), cis-geschlechtlichen und/oder heterosexuellen Norm entspricht. TEXTTYPEN DES JOURNALS Praxisberichte: In den Praxisberichten haben Studierende die Möglichkeit, über ihre selbstentwickelten Vermittlungsprojekte zu schreiben. Dabei geht es jedoch nicht allein um eine Beschreibung der Projektumsetzung, denn ein elementarer Bestandteil der Praxisberichte ist auch, dass die Überlegungen, die der Umsetzung vorangegangen sind, sowie der Kontext, in dem das Projekt stattfand, den Leser:innen nahegebracht werden. Eine kritische Reflexion des Projekts und ein kurzes Fazit sollten enthalten sein. Wenn du gerne einen Praxisbericht verfassen möchtest, dann erkläre uns bitte auf einer halben Seite kurz, worum es sich bei deinem Projekt gedreht hat, und wie sich darin das Thema der Demokratisierung widerspiegelt. Buchrezensionen: Eine Buchrezension ist eine informative, aber auch kritische Buchvorstellung, in der die wichtigsten Inhalte des Buchs besprochen werden. Gleichzeitig bietet die Rezension Raum für eine persönliche Stellungnahme oder Empfehlung und ein begründetes Urteil über die Relevanz des Buchs. In unserem Journal möchten wir vorzugsweise aktuell erschienene Bücher vorstellen (2020/2021). Wenn du ein Buch rezensieren möchtest, dann nenne bitte auf einer halben Seite kurz, um welches Buch es sich genau handelt (Titel, Autor:in, Verlag, Jahr) und welchen Bezug es auf das Thema Demokratisierung hat. Gespräche und Interviews: Unter dieser Kategorie haben Studierende die Möglichkeit, eine Person zu einem Gespräch oder Interview einzuladen, die über eine Expertise oder besonderen Erfahrungswert in Bezug auf das aktuelle Thema des Journals verfügt, oder deren kunstvermittlerische Arbeit man in Hinblick auf das aktuelle Thema des Journals befragen möchte. Über das Gespräch soll im Anschluss ein Fließtext in eigenen Worten geschrieben werden, der dann im Journal erscheint. Wenn du ein Gespräch oder Interview im Rahmen des Webjournals führen möchtest, um deinen Gesprächsbericht anschließend in der aktuellen Ausgabe zu veröffentlichen, dann bitte fasse auf einer halben Seite kurz zusammen, wen du gern als Gesprächspartner:in interviewen möchtest und wieso diese Person deiner Meinung nach in Verbindung zum aktuellen Thema der Demokratisierung dafür geeignet ist. Für uns sind diese Informationen wichtig, damit wir sie in unsere Entscheidung über die Beitragsauswahl mit einbeziehen können. Theoriebeiträge: Zu jeder Ausgabe laden wir zwei bis drei Gäst:innen dazu ein, zum aktuellen Thema einen Text zu verfassen. Wir möchten durch diese Beiträge Aspekte unseres aktuellen Themas beleuchten, die wir über Praxisberichte, Gesprächsbeiträge oder Buchrezensionen möglicherweise nicht abdecken können, die für uns aber so relevant sind, dass sie nicht fehlen dürfen. Außerdem bietet sich so die Chance, der Expertise aus anderen Fachbereichen Raum zu geben. Wenn du einen Vorschlag hast, welche Person eine besonders interessante Position zum aktuellen Thema vertritt und einen wertvollen Beitrag zum Thema Demokratisierung verfassen könnte, freuen wir uns über einen kurzen Vorschlag. Redaktion Issue 4: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert SHORT INFO (ENGLISCH VERSION) The Open Call is open to students and members of all institutes of the HBK Braunschweig Topic: Machtverhalten (Power Behaviour/Power Relations) Deadline for abstract (half a page): 09 October 2022 Languages: German, English ISSUE 4: MACHTVERHALTEN (POWER BEHAVIOUR/POWER RELATIONS) Although contemporary art strives for autonomy and represents liberal positions, for the most part, the globalized art scene is not excepted from the prevailing social power relations. Artists, art exhibitors, art educators, art critics as well as art consumers are all more or less affected by neoliberalism, discrimination and unequal economic conditions. Relationships of dependency can also be discerned between these groups, leading to a complex interplay in which the respective individuals/groups exercise and experience power over one another. Factors such as the awarding of grants and scholarships, public and private purchases of art, or the teaching of art in educational institutions such as schools or universities play a key role in this context. To shift unjust power relations in the art world it is essential to improve the awareness of the role of power inherent in decisions about the distribution of funding and the supply of infrastructure in the art world as well as the question of who can access it on what terms. Who is acting in which position in projects, institutions and exhibitions and under which circumstances should the resulting power structures be changed? What happens, when roles change, and artists become curators and art educators/curators or visitors become artists? What possibilities but also what new power relations result from this? However, when people, groups and concepts are exchanged, this does not mean that this automatically flattens hierarchies. Art production, as well as art criticism, curatorial work as well as the art market, are always determined by power. Power cannot be negated; on the contrary, every change generates new power circuits that constantly reproduce themselves and must therefore be critically reworked again and again. Critical art theory and practice are dedicated to this insight (e.g. conceptual art, institution-critical art, and critical art education). The power analyses of the French philosopher Michel Foucault and the literature that develops his approach further, form an important tool to shift power relations in the art system. According to Foucault power is understood as something that cannot be defined completely, it operates processual, and circulates in different forms in society. This means that the individuals of a society do not simply own more or less power, rather they are forced to wield and experience power at the same time. Accordingly, to this drain of thoughts, the power behaviour of a person, group, or institution is not an individual practice, but the product and expression of a discourse. Language itself becomes a discursive practice. However, in today's discourses shaped by identity politics, the question remains open whether a purely discursive understanding of power is sufficient enough to make a real (revolutionary) change possible. For example, when there is a demand for a radical redistribution of power and economic resources, or when the political practices of specific individuals and institutions are attacked, does this not contradict Foucault's fluid understanding of power? The principle of power in general and in the context of art and its mediation/education is multi-layered. Power manifests itself in conscious, as well as unconscious actions. The decision of the individual (who is at the same time part of a group) on how to use his/her/their power always plays a decisive role. Thereby, different forms of discrimination shape power relations. Thus, even today, patriarchal structures reproduce their inherent relations of power in the art system. White cis[1] males still dominate the global art discourse, both in terms of the works exhibited as well as exhibition concepts and institutions. In the largely precarious art scene, the fact that artists/mediators are not paid well or not paid at all is tantamount to devaluing the work of artists and art mediators/educators. Here, too, are generally marginalized groups or people particularly poorly paid. Institutions with progressive approaches that, for example, show exhibitions with an anti-racist/anti-discriminatory claim, not infrequently become entangled in internal contradictions when the hierarchical relationships of these institutions are scrutinized. Sometimes the question arises whether they are really concerned with the political issue, or whether it is rather a matter of image cultivation because it has become "en vogue" to present themselves as being as much as anti-racist, anti-discriminatory and diverse as possible. Is it about the serious recognition and inclusion of marginalized groups or are they just instrumentalized for the prestige advertising of an institution? Thus, in many cases, the latter leads to BIPoC[2] or queer[3] individuals being invited to exhibitions dedicated to topics such as cultural attribution, sexuality, gender, and/or the questioning of identity as a whole, but at the same time they are not becoming sustainably part of an institution and are not included in the respective decision-making processes. These circumstances support an enduring power imbalance. Yet, by deciding with whom and how institutions and other players in the art world collaborate, space and recognition could be given to those groups of people who have been marginalized and more or less ignored by the western art world for centuries. ________________________________________ [1] Cis/ cisgender refers to persons whose gender identity matches the sex assigned to them at birth/ recorded in the birth registry [2] BIPoC refers to the political self-designations Black, Indigenous, and People of Color [3] Queer - collective term for individuals whose gender identity or sexual orientation does not conform to the binary (two-gender), cisgender, and/or heterosexual norm CONTRIBUTION TYPES Experience Report: In the experience report, students can write about their self-developed art mediation projects. However, it is not only about a description of the project realization. An elementary component of the experience report is that the considerations that preceded the realization, as well as the context in which the project took place, are made accessible to the reader. A critical reflection of the project and a short conclusion should be included. If you would like to write an experience report, please explain briefly in half a page what your project was about and how it reflects the topic of mediation. Book Reviews: A book review is an informative, yet critical, book introduction that discusses the main content of the book. At the same time, the review provides space for a personal statement or recommendation and a reasoned judgment about the relevance of the book. In our journal, we prefer to present books that have been recently published (2021/2022). If you would like to review a book, please state briefly on half a page exactly what the book is about (title, author, publisher, year) and how it relates to the topic of mediation. Conversations and Interviews: Under this category, students may invite a person/group to participate in a conversation or interview who has expertise or special experiential value related to the current topic of the journal, or whose art education work suits the current topic of the journal. A continuous text in your own words should then be written about the conversation, which will be published in the journal. If you would like to conduct a conversation and write an interview report to be published in the next issue, please summarize on half a page who you would like to interview and why you think this person is suitable concerning the current topic of mediation. Theory contributions: For each issue, we invite two to three guests to write a text on the current topic. By these contributions, we would like to shed light on aspects of our current issue that are not covered in the other types of text. It also provides an opportunity to give space to expertise from other disciplines. If you have a suggestion about which person holds a particularly interesting position on the current topic and could write a valuable contribution on the topic of mediation, we would be happy to receive a brief suggestion. Editorial Team Issue 4: Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert
- Fossilis – durch Graben gewonnen Von Linn Bergmann
Fossilis – durch Graben gewonnen Von Linn Bergmann Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Fossilis – durch Graben gewonnen Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Vor ungefähr vier Jahren wurde bekannt, dass sich im Rehburger Forst ein Waldabschnitt befindet, in dem sowjetische Gefangene im Verlauf des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeit verrichten mussten. Insgesamt waren dort während der Kriegsjahre mindestens 261 Kriegsgefangene untergebracht. Kurz nachdem die Existenz dieses Lagers bekannt worden war, haben sich ehrenamtliche Helfer:innen zusammengeschlossen, um die Geschichte des Lagers im Rehburger Forst aufzuarbeiten und in Form einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Rahmen dieser Aufarbeitung wurden im Forst archäologische Grabungen durchgeführt, bei denen viele Gegenstände aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden wurden. Neben aussagekräftigen Objekten wie zum Beispiel einer Kamera, Knöpfen und Schuhen waren zahlreiche andere Funde dabei, die keinen direkten archäologischen Wert haben, etwa Dachpappe, Glasscherben, Drähte und vieles mehr. Vor knapp drei Jahren wurde ich gefragt, ob ich gemeinsam mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum eine Ausstellung konzipieren möchte, um neben den wissenschaftlichen Aspekten auch der künstlerischen Aufarbeitung Raum zu geben und somit für noch mehr Sichtbarkeit zu sorgen. Anfangs hatte ich enormen Respekt vor der Verantwortung, die so eine Aufgabe mit sich bringt. Ich fragte mich, wie ich diesem großen, wichtigen Thema überhaupt gerecht werden könnte – ich als junge Künstlerin, die zunächst keine direkten Berührungspunkte mit der NS-Zeit hatte. Was gibt mir das Recht, mich laut und öffentlich künstlerisch dazu zu äußern? Meine größte Angst war – und ist es noch immer –, den Opfern dieses Lagers und ihrem Leid nicht gerecht werden zu können. Ich habe Sorge, das Thema mehr plakativ als sensibel aufgegriffen und vor allem aufgearbeitet zu haben. Ein weiterer Punkt, mit dem ich vor allem zu Beginn haderte, war der inhaltliche Kontrast zwischen der Auseinandersetzung mit dem Kriegsgefangenenlager und meiner eigentlichen künstlerischen Arbeit, die höchstens sehr subtil politisch ist und sich eher als forschend und intuitiv einordnen oder beschreiben lässt. Ich hatte Probleme, diese beiden Pole für mich zu vereinbaren, weil ich dadurch an der Authentizität meiner Arbeit im Rehburger Forst zweifelte. Bin ich wirklich die richtige Person, um dieses Thema zu bearbeiten, oder sollte nicht vielmehr jemand damit betraut werden, der oder die schon mehr Erfahrung mit politischer Kunst hat? Ein paar dieser Zweifel verflogen und mit der Zeit erkannte ich, dass die Arbeit in der Ausstellung vor allem eine große Chance war, meinen Teil zur Erinnerungskultur beizutragen, die ich heute als wichtiger denn je empfinde. Die Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe hatte zur Folge, dass ich mich mit der Zeit des Nationalsozialismus so intensiv wie nie zuvor auseinandersetzte. Ich war häufig im Wald, im Forst – dort, wo das ehemalige Lager war. Ab und an konnte ich auch bei den Ausgrabungen helfen. Für mich war es immer wieder erschütternd, dort zu sein. Der Wald und die gesamte Umgebung des Lagers sind sehr schön und idyllisch, und genau diese Idylle machte es für mich lange schwer greifbar, was sich an dieser Stelle wohl zugetragen haben mochte. Die Ruhe des Waldes und die schreckliche Geschichte dieses Ortes ließen sich für mich kaum miteinander vereinbaren. Gleichzeitig wurde mir immer klarer, was dieser Ort alles gesehen haben musste und welche Erinnerungen er in sich speichert. Der Wald ist wie ein großes, die Zeit überdauerndes Gedächtnis und bildet für mich eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Mir war es wichtig, diesen Aspekt in die Ausstellung zu integrieren, um einen direkten Bezug zwischen den Zeiten herzustellen und zu verdeutlichen, wie eng sie miteinander verbunden sind. Der Wald im ehemaligen Kriegsgefangenenlager vermittelt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Geräusche des Waldes, die ich aufgenommen habe, sind in der gesamten Ausstellung zu hören und bringen die Umgebung des Lagers akustisch in den Ausstellungsraum. Ein weiterer Aspekt meiner künstlerischen Auseinandersetzung sind die vielen Gegenstände, die im ehemaligen Lager gefunden wurden und nicht in Vitrinen gezeigt werden, die aber dennoch einen großen inhaltlichen Wert haben. Ich hatte die Möglichkeit, einen Raum mit den Funden zu bespielen, und habe aus ihnen sieben bildhauerische Arbeiten gefertigt. Es war für mich sehr eindrücklich und berührend, all die Fundstücke in meinen Händen zu halten und dadurch eine haptische Erfahrung mit dem Ort und seiner Geschichte zu gewinnen. Während ich die Arbeiten konzipierte, musste ich mir immer wieder vor Augen führen, was ich in den Händen hielt, vor allem, wenn es Fragmente von Waffen waren, wie die Überreste von Kartuschen für Granaten oder Patronenhülsen. Es war stets ein sehr befremdliches Gefühl, diese Dinge, die mir so fern sind, zu berühren. Das konfrontierte mich unausweichlich mit der Vergangenheit Deutschlands, für die ich keine Worte finde – und doch wären sie notwendig, um mit dieser Vergangenheit adäquat umzugehen. Mit den bildhauerischen Arbeiten hadere ich am meisten. Es war für mich sehr schwierig, eine passende Herangehensweise zu den Objekten zu finden. Wie kann man künstlerisch und skulptural Gegenstände aus der NS-Zeit so präsentieren, dass es durchdacht, aber nicht plakativ und oberflächlich ist? Wie kann man Militaria zeigen, ohne sie zu ästhetisieren? Auf diese Fragen habe ich weiterhin keine klaren Antworten parat und es fällt mir schwer zu entscheiden, ob ich eine gute oder eine eher problematische Form des Umgangs mit den Funden gewählt habe. Ich habe die Skulpturen weitestgehend nüchtern und schlicht gehalten und nur das Nötigste hinzugefügt. Dennoch würde ich sie als ästhetisch bezeichnen und ich frage mich, ob das im Kontrast zu einer respektvollen Auseinandersetzung mit dem Lager und mit der NS-Zeit steht. Gleichzeitig kann eine andere Form der Präsentation der Funde als eine wissenschaftliche, beispielsweise in Form von künstlerischen Arbeiten, neue Aspekte in der Betrachtung und der Sichtbarkeit erzielen. Und darum geht es im Grunde: eine Zeit wieder sichtbar werden zu lassen, die in Vergessenheit zu geraten droht. Dies gilt auch für die dritte künstlerische Arbeit der Ausstellung. Im Zentrum des gesamten Ausstellungsraumes wird ein zwölf Meter langes Leinentuch präsentiert, auf dem im Kollektiv die Namen der 261 bekannten Opfer des Kriegsgefangenenlagers im Rehburger Forst gestickt wurden. Anfang 2024 öffneten wir dafür einen Raum, in dem jede:r willkommen war, sich am Besticken des Tuches zu beteiligen. Es war ein Versuch, die Vergangenheit wieder etwas näher an die Gegenwart zu rücken, und somit ein Zeichen gegen das Vergessen. Diese 261 Namen stehen in erster Linie für sich selbst, aber auch für die vielen Menschen, die ihr Leben im Zweiten Weltkrieg während der nationalsozialistischen Diktatur verloren haben und die niemals vergessen werden dürfen. Für diese Arbeit war es von großer Bedeutung, dass das Besticken des Lakens öffentlich erfolgte. Es ist wichtig, dass alle Menschen in Deutschland ihre Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit der Vergangenheit erkennen und sich so, wie es ihnen möglich ist, an der Erinnerungskultur beteiligen. Dafür steht auch dieses Laken. Die kollektive Arbeit war für mich eine ganz neue Erfahrung und es hat mich sehr gefreut, dass es viele verschiedene Menschen gab, die sich an dem großen Vorhaben beteiligen wollten. Es war eine neue Art der Annäherung an die internierten Kriegsgefangenen: Bei jedem Namen, den ich stickte, überlegte ich, wie der Mensch, der hinter diesem Namen steht, wohl gewesen war, wer er vor dem Krieg war und was mit ihm geschah – eine unweigerliche Folge der langwierigen Arbeit des Stickens. Ich denke, dass es ein wichtiger Aspekt einer guten Erinnerungskultur ist, sich auch den Einzelfällen zu widmen und zu erkennen, dass hinter all den Zahlen und Fakten schließlich Menschen stehen. Dieses Laken ist für mich somit auch ein Symbol für Menschlichkeit und Empathie. In meiner Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum habe ich sehr viel über die deutsche Geschichte gelernt, die immer noch so eng mit der Gegenwart verbunden ist. Mehr denn je wurde mir bewusst, wie tiefgreifend die Spuren sind, die die Diktatur des Nationalsozialismus auf allen Ebenen der Gesellschaft hinterlassen hat. Ich durfte die Funde in meinen eigenen Händen halten, jeden einzelnen Namen derer lesen und schreiben, die Opfer dieses Lagers im Forst waren. Dadurch erhielt ich die Möglichkeit, ihnen und ihrer Zeit näherzukommen, und das empfinde ich als großes Privileg. Ich dachte auch viel über die ehrenamtliche Arbeit meiner Kolleg:innen nach. Die Menschen, mit denen ich die Ausstellung gemeinsam konzipierte, sind großteils zwischen 60 und 70 Jahre alt; somit war ich die jüngste Person in dieser Gruppe. Es war für mich eine sehr bereichernde Erfahrung, an so einem generationenübergreifenden Projekt mitwirken zu können, doch sie warf auch Fragen auf: Wieso war ich als einzige Person aus meiner Altersgruppe an dieser Ausstellung beteiligt? Wo verorten sich junge Menschen in Bezug auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus? Die Erinnerungen an diese Zeit scheinen von Generation zu Generation immer mehr zu verwässern und ich kenne kaum Personen in meinem Alter, die sich noch aktiv mit dieser Zeit beschäftigen. Natürlich sind viele Menschen politisch aktiv und setzen sich gegen diskriminierende Strukturen jeglicher Art in unserer Gesellschaft ein. Meine Generation ist durchaus politisch. Doch manchmal scheint die Betrachtung der Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart an Relevanz zu verlieren, was teilweise auch verständlich ist. Die vielen Krisen unserer Zeit verlangen uns unsere ganze Aufmerksamkeit ab und lassen es deshalb kaum zu, sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Allerdings sind diese beiden Zeiten so eng miteinander verbunden, dass es kaum möglich ist, sie getrennt voneinander zu betrachten. Wir haben als letzte Generation noch die Möglichkeit, mit Zeitzeug:innen zu sprechen und von ihnen zu lernen. Meine Altersgruppe trägt dadurch maßgeblich die Verantwortung mit, wie wir in Deutschland weiterhin mit den kostbaren Erinnerungen der vorherigen Generationen umgehen: Ob wir sie vergessen oder ob wir sie sicher verwahren, um immer und immer wieder zu erinnern, dass sich die Geschichte auf keinen Fall wiederholen darf. Wenn ich hier über die Zeit des Nationalsozialismus spreche, komme ich nicht umhin, sie mit der Gegenwart in Kontext zu setzen. Ein globaler Rechtsruck ist nicht mehr zu leugnen. Die erneute Wahl Donald Trumps, der erschreckende Aufschwung der AfD, die illiberale, rechte Regierung Ungarns im Herzen Europas sind nur ein paar Beispiele, die ich hier anführen kann. Die Liste ist bedeutend länger, und je umfangreicher sie wird, desto unbegreiflicher ist es für mich, wie es dazu kommen konnte. Wie kann es sein, dass in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, eine rechtsextreme Partei eine derartige Zustimmung erfährt? Ausgerechnet in Deutschland? Die Zeit des Nationalsozialismus darf nicht in Vergessenheit geraten und es liegt in der Verantwortung einer jeden Person in unserem Land sich dafür einzusetzen. Umso wichtiger ist die Arbeit von Gruppen wie der des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum, die sich ehrenamtlich und auf vielen Ebenen für eine gute Erinnerungskultur und eine bessere Gesellschaft engagieren. Ihre Arbeit schenkt mir Mut und Zuversicht und lässt mich daran glauben, dass es hier viele Menschen gibt, die sich gegen diskriminierende Strukturen in unserer Gesellschaft einsetzen. Sie machen mir Hoffnung für unsere Zukunft. Linn Bergmann , aufgewachsen in Berlin, studiert Freie Kunst an der HBK Braunschweig in der Fachklasse für Bildhauerei bei Thomas Rentmeister. Mit einem suchenden Blick erforscht sie die Zusammenhänge unserer Gesellschaft und Umwelt. In ihrer Einzelausstellung “Fossilis - Durch Graben gewonnen” nähert sie sich künstlerisch der Zeit des Nationalsozialismus an, wobei die Erinnerungskultur ein zentrales Thema ist. 01










