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  • Von „Natur“ und „Kultur“ | appropriate!

    Beitrag von Sam Evans Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Von „Natur“ und „Kultur“ Sam Evans Sam Evans, When the foxes getting married (2022) Nur wenige Themen halten uns gerade so sehr in Atem wie der Umgang mit der Klimakatastrophe, auf die wir wissentlich zusteuern. Wir hören momentan die Uhren lauter denn je ticken, die uns daran erinnern, wie wenig Zeit die Menschheit noch hat, um das Ruder herumzureißen und das Schlimmste zu verhindern. Die immer öfter auftretenden, klimabedingten Katastrophen betreffen auch den Wald. Die abiotischen, also nicht von Lebe-wesen abhängigen Faktoren umfassen Waldbrände, Über-flutungen, Dürren und Stürme. Auch durch Abholzung schwindet der Wald zusehends und muss zur Ressourcengewinnung, beispielsweise für Futterweiden und Palmölplantagen, weichen. Europa ist dabei verantwortlich für etwa 16 Prozent der weltweiten Rodungen. Mit Stand 2020 werden 29 Prozent der globalen Landfläche von Wäldern eingenommen, das sind 2,4 Prozent weniger als noch im Jahr 2000. Der Wald ist nicht nur Lebensraum für zahlreiche Tiere und Organismen, die durch sein Schwinden verdrängt und dadurch bedroht werden. Er schützt auch den Boden vor Erosion und bietet Menschen vieles, wonach sie sich aufgrund des Klimawandels immer zunehmender sehnen: Frische, sauerstoffreiche Luft, Kühle durch Verdunstung, Schatten und ein sich erhaltendes, funktionierendes Ökosystem. Er reguliert das örtliche Klima vor allem durch Verdunstung und das weltweite Klima insbesondere durch das Speichern von CO2. Wenn man den Wald im Laufe der Epochen betrachtet, zeichnet sich seine Signifikanz für die Menschheitsgeschichte klar ab. Ohne ihn würde ein Großteil der Grundlage fehlen, auf der wir unsere Gesellschaft errichtet haben. Von Beginn an lieferte er Bau- und Brennstoff, Schatten und Kühle, Weidefläche und Jagdgrund, frische Luft und ein ausgeglichenes Klima. Zugleich war der Wald stets ein Spiegel unserer Gesellschaft. Wie man mit dem Wald umging, über ihn sprach und über ihn Kunst schaffte, drückte die Ideale, Ideologien, Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte der jeweiligen Zeit aus. Ob es das mittelalterliche Streben nach Kontrolle und Ordnung gegen die düstere Wildnis war, die romantische Sehnsucht nach einem ursprünglichen Zufluchtsort oder konstruierte Ideologien zur Rechtfertigung von Gräueltaten im NS-Deutschland. Das hat sich auch in der Gegenwart nicht verändert. Die Versuche, den Wald zu schützen und in die Stadt zu integrieren, drücken eine akute Zukunftsangst aus. Die fortlaufende Rodung und Aus-beutung des Waldes, die trotz der Bedrohung durch den Klima-wandel fortgeführt wird, verdeutlicht, wie sehr unsere Gesellschaft auf Konsum und Gewinnstreben ausgelegt ist. Die Folgen davon zeigen sich auch in der immer stärker werdenden psychischen Belastung der Menschen in unserer Gesellschaft und dem zu-nehmenden Bedürfnis nach Abstand und Erholung, das sich in den vielfältigen Freizeitangeboten, die im Wald stattfinden, spiegelt. Auch wenn die Natur beständig ein Motiv der Malerei und Zeichnung blieb, hat sich der Kunstbegriff im Laufe der Zeit erweitert und mit ihm auch die Möglichkeiten, die Natur zu thematisieren. Man konnte sich ihr auf neue Weise annähern und begann, die Elemente der Natur in die Kunst zu übertragen und sie unverfälscht zu nutzen. Ein Beispiel für den veränderten künstlerischen Umgang mit der Natur ist die Arbeit „Storm King Wavefield“ der Künstlerin Maya Lin, die sie 2009 im Storm King Art Center in New York errichtete. Auf einer ehemaligen Kiesgrube erschuf sie eine Landschaft aus bis zu sechs Meter hohen Grashügeln, deren Formen an die Wellen des Ozeans angelehnt sind. Die Arbeit, welche zu ihrer dreiteiligen Serie „Wavefield“ gehört, ist als eine Intervention in natürliche und urbane Umgebungen konzipiert und versinnbildlicht die Dynamik und Schönheit der Landschaft, aber auch ihre Fragilität sowie ihre Veränderung aufgrund von menschlichem Einwirken und dem Klimawandel. Wie in vielen ihrer Arbeiten reflektiert Lin hier die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf tiefgreifende Weise und schafft somit ein Bewusstsein für Umweltthemen, das Betrachter:innen dazu ermutigen soll, Verantwortung für den Schutz und die Erhaltung der natürlichen Welt zu übernehmen. Eine weitere Arbeit der zeitgenössischen Kunstwelt, die in diesem Kontext zu erwähnen unumgänglich ist, vor allem in Bezug auf Bäume und den Wald, ist Joseph Beuys’ Arbeit „7000 Eichen“, die für die documenta 7 (1982) entstand. Über einen Zeitraum von fünf Jahren wurden in Kassel unter dem Slogan „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ (Nemeczek 2014) 7000 Bäume gepflanzt. Mit der lebendigen Raum-Zeit-Skulptur, die Beuys als „Soziale Plastik“ betitelte, verfolgte er das Ziel, Kunst in den Alltag der Menschen zu bringen und einen nachhaltigen sozialen sowie ökologischen Wandel anzustoßen. Die beschriebenen Arbeiten zeigen beispielhaft, wie Kunst bewegen, aufklären und Denkanstöße geben kann, wie hier etwa in Bezug auf die Betrachtung und den Umgang des Menschen mit der Natur. Dadurch ist sie besonders in Zeiten des Klimawandels unverzichtbar. Eine wichtige Rolle kommt dabei auch der Kunstvermittlung zu, die neue Wahrnehmungsebenen eröffnen kann und das Potenzial bietet, größere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge greifbar zu machen. Der Wald kann als Ort der kunstvermittlerischen Praxis einen erlebnisorientierten Zugang ermöglichen und eine emotionale Verbindung zur Natur fördern. Er ist ein Ort, der viele Menschen verbindet, die sonst wenige Gemeinsamkeiten haben und stellt somit eine Schnittstelle dar, die wir sinnbildlich und buchstäblich zusammen betreten können. Die Kunstwissenschaftlerin Anette Tietenberg sagt dazu: „Man kann den Wald nicht von außen, nicht aus der Distanz betrachten. Wenn man sich mit ihm beschäftigt, muss man ihn betreten. Teil von ihm werden, bereit sein, die Orientierung zu verlieren. Diese Erfahrung könnte helfen, Überlegenheitsillusionen und egozentrische Wahrnehmungsgewohnheiten zu überwinden. Ich sehe darin das Potenzial, mit einer Perspektive zu brechen, aus der heraus der Wald nur als landwirtschaftliche Nutzfläche betrachtet wird. Er ist mehr als ein reines Instrument der Holzwirtschaft, eine Lagerfläche und ein Produzent für Möbel, Holz und Kohle. Der Philosoph Konrad Liessmann hat schon in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass die ökologische Debatte daran krankt, dass sie am instrumentellen Denken festhält, wenn sie damit argumentiert, dass es ihr schließlich um nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit ginge. Es steht dann wieder der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Fokus. Was aber wird aus Lebensräumen, die nicht in erster Linie dem Menschen dienen und ihm nützlich sind? Mit Hilfe von Interventionen der Kunstvermittlung ließen sich vielleicht Irritationen erzeugen, die die Paradoxie des Festhaltens an einer Konstruktion von ‚Umwelt‘, in deren imaginären Mittelpunkt stets der Mensch steht, wahrnehmbar macht.“ (Evans, 2023) Die kunstvermittlerische Praxis im Wald kann uns, wie von Tietenberg beschrieben, erkennen lassen, dass wir im Kleinen wie auch im Großen Teil eines natürlichen Kreislaufs sind. In der Begegnung mit Arealen von Totholz, verdorrten oder verbrannten Waldflächen, die nachweislich durch die Einwirkung von Menschen verursacht wurden, werden der Verlust und die Zerstörung von unberührter Natur spürbar. Die gemeinschaftliche Motivation, den Wald zu erhalten, bietet eine Grundlage, um Standpunkte zu entwickeln und aktivistische Impulse zu setzen. Diese gemeinsamen Erfahrungen öffnen den Wald unweigerlich als politischen Raum. Anhand eines selbstentwickelten Beispiels möchte ich einen Einblick bieten, wie eine kunstvermittlerische Praxis im Wald aussehen kann. Das Vermittlungskonzept bezieht sich dabei auf die „Tree Drawings“ (2006) des Künstlers Tim Knowles. Für diese Arbeiten befestigte Knowles an den Zweigen von Bäumen Stifte, die wiederum auf einem Blatt Papier auflagen. Auf diese Weise entstanden Zeichnungen, welche die Bewegungen der Bäume durch Striche und Spuren dokumentierten. Diese Arbeitsweise eignet sich gut, um sie mit Teilnehmenden eines Workshops nachzuahmen. Schon beim schweigsamen Betreten des Waldes liegt der Fokus darauf, achtsam zu sein und bewusst wahrzunehmen, welche Geräusche und Gerüche es dort gibt, welche Pflanzen und Tiere sich entdecken lassen und was für Gefühle dieser Ort in uns auslöst. Um eigene „Tree Drawings“ zu entwickeln, bekommen die in kleine Gruppen aufgeteilten Teilnehmenden Stifte, Bänder und Papier, die sie, wie im Vorbild von Knowles, an einem Baum oder einer anderen Pflanze ihrer Wahl befestigen. Die Formen und Bewegungen der Pflanzen werden dabei bewusst als künstlerische Mittel betrachtet. Während die Zeichnungen entstehen, finden sich die Teilnehmenden wieder zusammen, wissend, dass die Äste ihrer Bäume bei jedem Windstoß den Stift über das Papier bewegen. Gemeinsam kann der Prozess, der sich nun abspielt, reflektiert und der Frage nachgegangen werden, wer Künstler:in der fertigen Zeichnung sein wird. Sind es die Menschen, die den Stift festgebunden haben, oder ist es der Baum, durch dessen Bewegungen die Linien auf dem Blatt entstehen? Kann ein Baum überhaupt Künstler sein, wenn er kein Bewusstsein oder Verständnis für Kunst hat? Wie viel Bewusstsein haben Pflanzen? Braucht es eines, um Kunst zu schaffen? Was braucht es, um ein:e Künstler:in zu sein? Reicht es, eine Idee zu haben, die man in Auftrag gibt, oder muss man sie auch umsetzen? Durch die Betrachtung der besonderen Merkmale der von den Teilnehmenden ausgewählten Pflanzen lässt sich viel über diese herausfinden, etwa ob sie gesund sind, um welche Art es sich handelt und wie man ihr Alter bestimmen kann. Auch lässt sich beobachten, ob sich die Formen und Eigenschaften der Pflanzen in die Zeichnung übertragen haben. Ist ihre Handschrift eine Unterschiedliche? Das Projekt endet mit dem Bestreben, die Teilnehmenden mit neuen Ansätzen und Fragen nach Autor:innenschaft und dem Bewusstsein der Natur zu entlassen, sowie mit einer gestärkten Verbundenheit zum Wald. Dieser Text basiert auf der Abschlussarbeit „Der Wald als kunstvermittlerischer Raum" von Sam Evans und wurde von Lena Götzinger editiert. Sam Evans ist eine Fotografie- und Multimedia-Künstlerin, die sich intensiv mit der Beziehung zwischen Leben und Natur auseinandersetzt. Ihr Werk reflektiert zunehmend Themen wie Artefakte, Rituale, Erinnerungen sowie die Wechselwirkungen zwischen imaginären Konstrukten und der Umwelt. Kreisläufe, Schutzmechanismen, menschliche Rohheit und die Bedeutung von Orten sind zentrale Elemente ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Ihre künstlerische Ausbildung umfasste Studien bei renommierten Professor:innen wie Hartmut Neumann, Zheng Bo und Corinna Schnitt und sie steht kurz vor dem Abschluss ihres Meisterschülerstudiums. Literatur Der Spiegel, 2021. Klimawandel in Ballungsräumen: Bäume kühlen Städte besser als Grünflächen, 23.11.2021. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klima-krise-baeume-kuehlen-staedte-besser-alsgruenflaeche n-a-3de265ae-8a0e-4521-a2d1-1560841e1220 (abgerufen am 29.03.2023) Fischer, Hubertus, 2003. „Draußen vom Walde ...“ – Die Einstellung zum Wald im Wandel der Geschichte. In: NNA-Berichte, Bd. 4/2, S. 92–100. https://nna.niedersachsen.de . Nemeczek, Alfred, 2014. Klimawandel im Beuysland. Stiftung 7000 Eichen. http://www.7000eichen.de/?id=29 (abgerufen am 31.03.2023) Stiftung 7000 Eichen, 2014. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung. https://www.7000eichen.de/index.php?id=37 (abgerufen am 31.03.2023) Evans, Sam, 2023. Der Wald als kunstvermittlerischer Raum

  • Grüne Institution | appropriate!

    Ein Gespräch mit Oliver Ressler, Interview von Lena Götzinger Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Grüne Institution Hye Hyun Kim und Paul-Can Atlama im Gespräch mit Christoph Platz-Gallus 1 Christoph Platz-Gallus, Direktor des Kunstvereins Hannover 2 Kunstverein Hannover Wenn es um den Klimawandel und Maßnahmen für einen zielführenden Klimaschutz geht, verschiebt sich der Fokus zunehmend von der Kritik individueller Konsumentscheidungen zur Kritik an Systemen und damit einhergehend an Institutionen, die ebenjene Systeme aufrechterhalten oder zumindest von ihnen profitieren. Kunstvereine nehmen in diesen Debatten eine außergewöhnliche Rolle ein. Sie haben meist den Anspruch an sich selbst, gesellschaftlich relevante Themen mit aktuellen Methoden aufzugreifen, und tragen damit zur Meinungsbildung ihrer Besucher:innen bei. Auch wenn sie nicht mit den Institutionen vergleichbar sind, die aktuell effektiven Klimaschutz verhindern, gerät ihr Handeln vermehrt in den öffentlichen Fokus. Dadurch steigt das Verlangen nach einer stärkeren Selbstreflektion der eigenen Klimabilanz genauso wie der in den Ausstellungen behandelten Themen. Christoph Platz-Gallus ist seit 2022 der neue Direktor des Kunstvereins Hannover und somit dafür verantwortlich, die 2023 beschlossene Nachhaltigkeitsstrategie des Kunstvereins Hannover anzuleiten. Bevor es jedoch um konkrete Maßnahmen geht, ist es ihm wichtig, dabei die Geschichte der Kunstvereine nicht aus den Augen zu verlieren. „Also grundsätzlich muss man sagen, dass natürlich Kunstvereine im Grunde einer der wichtigsten kulturellen Erbstränge sind, die die Institutionsgeschichte im deutschsprachigen Gebiet hergibt, weil sie im 19. Jahrhundert als Amateurzirkel gegründet wurden und zunehmend eine sehr deutliche Demokratisierungsrichtung angestoßen haben“, so Platz-Gallus. Er betrachtet die Kunstvereine in ihrem historischen Kontext – als Institutionen, die sich zu Beginn mit ihren bürgerlichen Idealen von selbstorganisierter Bildung gegen die hegemonialen Kräfte des Adels durchsetzten – und sieht darin eine historische Verantwortung. Daraus entspringt der Anspruch des Kunstvereins, als Ort des Diskurses über zeitgenössische Belange zu fungieren und damit weiterhin zu einer Demokratisierung öffentlicher Debatten beizutragen. Während Kunstvereine im 19. Jahrhundert noch klar die Interessen des Bildungsbürgertums vertraten, ist ihr Anspruch heute eine Verschiebung oder eher Erweiterung um unterrepräsentierte und marginalisierte Perspektiven. Kunstvereine nehmen in der Landschaft der Kunstinstitutionen eine besondere Rolle ein. Im Gegensatz zu Museen, die ihre Ausstellungen oftmals bereits drei bis vier Jahre im Voraus planen, haben Ausstellungen beim Kunstverein Hannover nur circa ein Jahr Vorlauf, wodurch es möglich wird, schneller und an vorderster Front auf Entwicklungen zu reagieren und innovativen künstlerischen Praktiken eine Plattform zu bieten. Die Erfahrungen und Einsichten aus der Teilnahme an Großausstellungen wie Biennalen und der documenta offenbaren für Christoph Platz-Gallus die Notwendigkeit einer institutionellen Nachhaltigkeit, die oft in der Fluktuation von Teams und der Diskontinuität von Wissensstrukturen verloren geht. Er skizziert seine Vision einer idealen, grünen Institution, die Nachhaltigkeit, langfristiges Engagement und interdisziplinäre Bildung in den Mittelpunkt stellt. Die ideale Institution zeichnet sich durch eine stabile Struktur aus, die finanzielle Sicherheit und längerfristige Beschäftigungsverhältnisse bietet. Ein Beispiel hierfür ist das Festival Steirischer Herbst. „Ich hatte in Österreich in Graz eine sehr luxuriöse institutionelle Aufgabe für fünf Jahre, wo im Grunde für vier Wochen Festival ein ständiges Team das ganze Jahr angestellt war. [...]Das war im Grunde eine vollständig unterstützte Struktur, weil man in der Lage war, ein bisschen langfristiger zu denken, langfristiger mit Leuten zusammenzuarbeiten“, so Christoph Platz-Gallus. Das beweist, wie ein permanentes Team, das das ganze Jahr über beschäftigt ist, langfristiges Denken und Zusammenarbeit fördert, was in Großausstellungen oft nicht möglich ist. Die Flexibilität, Teams je nach Bedarf zu erweitern, ohne die Kernstruktur zu verlieren, ist entscheidend für die Bewahrung der institutionellen und künstlerischen Nachhaltigkeit. Eine Schlüsselkomponente ist die Förderung langfristiger Arbeitsmodelle mit Künstler:innen. Dies steht im Gegensatz zu der kurzfristigen Natur vieler zeitgenössischer Kunstprojekte und ermöglicht eine tiefere künstlerische Entwicklung und Kooperation. Durch die Schaffung finanzieller Sicherheiten können Künstler:innen eingeladen werden, über längere Zeiträume hinweg mit der Institution zusammenzuarbeiten. „Wenn es die finanzielle Sicherheit und einen Förderrahmen gibt, kann man zum Beispiel auch, das haben wir in Graz über drei Jahre zumindest in einem Projekt gemacht, Künstler:innen einladen, mehrfach zu kommen und mehrfach mit einem dort zu arbeiten und weiterzuentwickeln. Also ein bisschen aus dieser Ökonomie, dieser Gastvorstellung auch rauszukommen. Einmal kurz da, Namen kurz bei E-Flux rausgehauen, ganz kurz kommt die Presse [...] und dann zum Nächsten sozusagen“, erzählt uns Christoph Platz-Gallus und erklärt, dass es eine interessante Strategie für Institutionen und Einrichtungen ist, langfristige Arbeitsmodelle mit Künstler:innen auszuprobieren, die möglicherweise eine nachhaltigere Zusammenarbeit ermöglichen. Diese hohen Ansprüche an sich selbst müssen jedoch stets mit den realen Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten der Kunstvereine in Einklang gebracht werden. Veranstaltungen weiter als ein Jahr im Voraus zu planen, wäre beispielsweise auch gar nicht möglich. „Darüber hinaus geht es eigentlich nicht wirklich, weil die Kapazität auch noch gar nicht da ist. [...] Wir sind schon einer der größeren Kunstvereine mit sieben Stellen, also sechs plus FSJlerin, und dann gibt es ganz viele Freelancer:innen.“ Hinzu kommt eine starke Abhängigkeit der Kunstvereine von der Akquise zusätzlicher Fördergelder. „Die Realität der Non-Profit-Institutionen ist eine wahnsinnige Abhängigkeit, was das Geld betrifft. Also ich muss hundert Prozent des Ausstellungsetats akquirieren. [...] Der Kunstverein ist die älteste Kunstinstitution der Stadt, aber ist in dem Rahmen gefördert, wie andere Vereine auch, dass man vielleicht gerade so wenige engagierte Mitarbeiter:innen beschäftigen und das Licht anschalten kann.“ Es müssen also für den tatsächlichen Betrieb zusätzliche Geldquellen in der Form von Spenden, privaten und öffentlichen Stiftungen und von internationalen Geldgeber:innen organisiert werden. Dadurch ist es laut Platz-Gallus auch nicht möglich, extra Personal für Klimafragen einzustellen: „Wir können uns gar keine Beauftragten innerhalb des Teams leisten, die nur den Footprint und Fragen der Nachhaltigkeit in der Institution checken [...]. Das müssen die Institutionen selbst machen.“ Letzten Endes sind es dann häufiger kleinteilige und weniger öffentlichkeitswirksame Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen muss. In einer Pressemitteilung vom 11. Januar 2023 wird beispielsweise unter Anderem auf den Papierverbrauch eingegangen: „Materialien für Werbe- oder Bildungszwecke überhaupt zu drucken, wird in jedem Falle sorgfältig geprüft, um Bedarf und Abfall zu begrenzen. Drucksachen werden, wann immer möglich, auf Recyclingpapier hergestellt, und die Mitglieder haben die Möglichkeit, sich gegen gedruckte Sendungen zu entscheiden. Gleichzeitig sind wir uns des CO2-Fußabdrucks der digitalen Kommunikation bewusst und verpflichten uns, auch in diesem Bereich auf einen nachhaltigen Verbrauch hinzuarbeiten.“ [1 ] Ebenso sollen, wenn möglich, bei Veranstaltungen vegetarische oder vegane Speisen von lokalen oder regionalen Anbieter:innen serviert werden. Wie stringent die eigens auferlegten Maßnahmen eingehalten werden, ist schwierig nachzuvollziehen. Manchmal sparen auch Maßnahmen, die ursprünglich aus anderen Gründen ergriffen wurden – etwa die verstärkte Zusammenarbeit mit lokalen Künster:innen oder Nachbarschaftsprojekten –, Emissionen ein. Ein Beispiel dafür ist die Kollaboration mit dem REAL DANCE Festival Hannover Anfang dieses Jahres, bei dem die beiden Choreograf:innen Tiago Manquinho aus Braunschweig und Manuela Bolegue aus Hannover den Kunstverein als während der Ausstellung begehbaren Proberaum nutzten.[2 ] Diese Projekte beschäftigen sich nicht unmittelbar mit dem Klimaschutz und tragen dennoch dazu bei, Emissionen zu vermeiden. Auf der anderen Seite werden ressourcenintensive Projekte kritischer hinterfragt, als es vor wenigen Jahren noch der Fall war. „[...] einer meiner Vorgänger, Eckhard Schneider [hat] zur Expo 2000 eines der größten stromintensivsten Projekte gemacht, eine Gerhard-März-Installation mit 17.000 Neonröhren [3 ], was eine Art überbordendes Licht-Projekt war, das natürlich eine Setzung ist und auch diese Gigantomanie der monumentalen Kunst so massiv befördert hat. Wir haben innerhalb unseres Bildenden-Kunst-Diskurses da schon seit langer Zeit doch eine andere Richtung,“ sagt Platz-Gallus. Doch die Situation ist nicht bei allen Kunstvereinen gleich. Gerade was die Infrastruktur und den Zustand der Gebäude angeht, gibt es große Diskrepanzen. „Die einen haben 500 Neonröhren aus den 80er-Jahren, die nächsten haben 25 und dafür andere Lichtquellen. Die einen haben Grünstrom, den sie über die Stadt beziehen, und die nächsten sind in einem städtischen Gebäude und sind sowieso an einen Anbieter gebunden. [...] Plötzlich kündigt der Stromanbieter den Vertrag und man ist irgendwie auf einem doppelten Strompreis. Und jetzt versucht man, irgendwie im laufenden Jahr so was auszugleichen. Das ist einfach für viele Institutionen massiv problematisch“, schildert Platz-Gallus. Deshalb würde sich der Dachverband Arbeitsgemeinschaft Deutsche Kunstvereine (ADKV) aktuell für zusätzliche Finanzierung vom Bund einsetzen, um bei Sanierungsmaßnahmen einen gewissen Ausgleich zwischen den Kunstvereinen gewährleisten zu können. Die Ideen sowie die Ambitionen für einen zukunftsweisenden und grünen Kunstverein sind vorhanden. Es gibt auch durchaus schon innovative Projekte, an denen man sich orientieren kann. Häufig läuft die alltägliche Realität dann jedoch wieder auf eine kleinteilige und langwierige Auseinandersetzung mit dem ständigen Finanzierungsbedarf hinaus. Christoph Platz-Gallus lässt sich davon dennoch nicht den Mut nehmen: „Es sind häufig die kleinen Schritte und nicht die großen Sprünge, um sich auf eine nachhaltigere Praxis einzulassen. [...] Deswegen glaube ich auch, dass die kleinen Institutionen, die auch in ihren Förderanträgen gefragt werden: ‚Wie ist denn eure Strategie?‘, durchaus sehr selbstbewusst damit umgehen sollten, was sie denn wirklich alles schon machen.“ [1] https://www.kunstverein-hannover.de/files/01_PM_KVH_Jahrespressekonferenz_2023_2023012.pdf (Zugriff 14.02.2024) [2] https://www.kunstverein-hannover.de/de/kalender/3931-for-real-1 (Zugriff 14.02.2024) [3] https://www.shortcut-film.de/referenzen/kunst/kunst_gerhard_merz/index.php (Zugriff 14.02.2024) Christoph Platz-Gallus , der studierte Kunsthistoriker und vergleichende Literaturwissenschafter, hat international Ausstellungs- und Biennaleformate verschiedener Größenordnungen konzipiert und realisiert. Er arbeitete für die Skulptur Projekte Münster 07, die Kunsthalle Münster sowie den Westfälischen Kunstverein und veröffentlichte die Publikation „Kunstverein im Umbruch“ über die Entwicklung der Institution im Nachkriegsdeutschland. Seit 2022 ist Platz-Gallus der neue Direktor des Kunstvereins Hannover. Hye Hyun Kim , geboren 1991 in Daegu, Südkorea, ist eine Künstlerin, die derzeit an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig unter der Anleitung von Professor Nasan Tur Freie Kunst und bei Prof. PhD Martin Krenn Kunstvermittlung studiert. In ihren Workshops und Projekten zeigt sie überzeugend auf, wie Kunstvermittlung als Brücke zwischen Kunst und Gemeinschaft fungieren kann, indem sie ein Umfeld schafft, das zu Dialog, Reflexion und gemeinsamem Schaffen einlädt. Paul-Can Atlama , geboren 1998 in Köln, absolvierte seinen B.A. Intermedia an der Universität zu Köln und studiert aktuell Freie Kunst in der Fachklasse für Erweiterte Fotografie, Media and Poetics bei Professorin Natalie Czech und Kunstvermittlung bei Prof. PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sein forschender Blick und die Faszination für Kommunikation und das transformative Potenzial von Medien informieren sowohl seine künstlerische als auch vermittlerische Praxis. Abbildungsverzeichnis (Bilder) 1. Porträt Christoph Platz-Gallus, Foto: Marija M. Kanižaj 2. Kunstverein Hannover, Foto: Andre Germar 01 02 03

  • Greifbarkeiten – Gedanken zu Ritualen in Kunst und Kunstvermittlung | Issue 4 | appropriate!

    Maja Zipf Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstvermittlung in der Praxis Maja Zipf Kreatives Arbeiten im Workshop / Auseinandersetzung mit dem Thema Widerstand durch Papier/Material. © Maja Zipf 2022 Freies Arbeiten im Workshop / Schulklasse im Workshop, © Maja Zipf 2023 Kunstvermittlung im öffentlichen Raum © Maja Zipf 2023 „Wieso soll ich das denn jetzt kaputt machen?“ fragte mich Lena mit großen Augen. Lena hatte mit ihrer Schule einen Ausflug in den Kunstverein Wolfenbüttel gemacht und befand sich in einem meiner Workshops über die gezeigte Ausstellung „Eigentum und Sicherheit“ von Nadine Fecht. Sie saß an einem Tisch und vor ihr lagen verschiedene Papiere und Pappen, Scheren, Bleistifte und Cutter. Die Schüler:innen waren dazu eingeladen sich dem Thema Widerstand anzunähern. Sie konnten beispielsweise ausprobieren, wie nachgiebig oder robust ein Material ist, wie sich Widerstand anfühlt oder welche eigenen Widerstände in einem vorhanden sein können, wenn etwas absichtlich zerstört wird. Lena wirkte irritiert. Als Kunstvermittlerin fragte ich mich, wie ich mit Lenas Frage umgehen werde. Die Situation mit den Schüler:innen zeigte mir mal wieder, wie eng unser Bildungssystem gestrickt ist und wie wenig Spielraum für Experimente in den Schulen existiert. In der Schule sind wir es gewohnt, nach vorne zur Tafel zu schauen, einer Stimme zuzuhören, die uns erklärt was richtig und was falsch ist. Es werden Aufgaben gestellt, Abgabetermine festgesetzt und Zensuren verteilt. Neben dem affirmativen Unterricht sollen Gruppenaufgaben, Referate und Projekte einen Ausgleich darstellen. Aber eins haben all diese Lernformen gemeinsam, nämlich den klaren Arbeitsauftrag, den Erwartungshorizont und die Zensur am Ende. Dadurch wird den Schüler:innen stark vorgegeben, was gemacht werden soll. Solche Machtverhältnisse existieren nicht nur in den Schulen, wie beispielsweise die Hierarchie zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen, sondern auch in der Kunst, in den Museen und in der Kunstvermittlung selbst. Umso wichtiger ist eine emanzipierte und kritische Kunstvermittlung, die solche impliziten Machtverhältnisse widerspiegelt und kritisch hinterfragt. Auch in meiner eigenen Praxis erlebe ich häufig implizite Machtverteilungen. Vor allem in Workshops mit Schüler:innen, die durch die Schule einen affirmativen Unterricht gewohnt sind. Durch das Verhalten der Schüler:innen wird deutlich, dass diese davon ausgehen, dass ich als Vermittlerin eine höhere Machtposition habe, da ich den Workshop anleite. Doch genau solche Rollenverteilungen dürfen hinterfragt und gebrochen werden. Denn in einer kritischen Kunstvermittlung spielt nicht die vermittelnde Person oder ausschließlich die Kunst eine zentrale Rolle, sondern alle Beteiligten. Durch gemeinsames reflektieren, erfahren und sich austauschen können sowohl die Schüler:innen, als auch die Vermittler:innen zu neuen Denkanstößen gelangen. Unsere Möglichkeiten zu Lernen sind vielfältig. Selbstbestimmte Herangehensweisen, die eigenen Erfahrungen und ein spielerischer Umgang sind ebenso wichtig, wie die Erklärungen im Frontalunterricht. Der Mensch lernt durch beobachten, ausprobieren und Fehler machen. In der Schule bezieht sich unser Lernen vor allem auf das „was“ und nicht auf das „wie“ (Gompertz, 2016, S. 201). Lernen scheint für die Wiedergabe von Wissen zu stehen und sich weniger mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das Lernen gelernt werden kann. Die Folgen sind ein zu hohes Lernpensum und ein Verlust an Neugierde, Spontanität und Flexibilität. So saß Lena da und ich versuchte sie zu motivieren sich dem Thema anzunähern. Ich setzte mich neben sie und fragte, was genau sie gerade schwierig findet. Als Kunstvermittlerin benutze ich gerne die Frage als Möglichkeit ein Gespräch zu eröffnen. Wenn jemand eine Frage stellt, wird im besten Fall nach einer Antwort gesucht. Durch dieses Suchen wird die Urteilsbildung angeregt. Es braucht dabei nicht immer eine klare Antwort. Allein die eigenen Überlegungen oder die Feststellung, dass man sich unsicher ist, können aufschlussreich sein und zu neuen Erkenntnissen führen. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage wird sich einem Sachverhalt angenähert. Die Kunstvermittlung versucht dem Individuum einen gedanklichen Raum zu eröffnen, in dem beispielsweise eigene Zugänge zu einer künstlerischen Arbeit thematisiert werden. Neben dem spielt ästhetische Bildung eine relevante Rolle für die Kunstvermittlung. Ästhetische Bildung beschreibt vereinfacht gesagt ein sinnlich orientiertes Wahrnehmen und Deuten von Wirklichkeit (Schiefer 2006, S. 11). Somit beschreibt die Vermittlung von ästhetischer Bildung einen Gegenpol zu einem rein logischen und begrifflich orientierten Weltzugang. Ästhetische Bildung verstärkt nicht nur die Sensibilität des Individuums, sondern auch die Kreativität, Fantasiefähigkeit und die eigene Urteilsbildung, die wiederum einen Einfluss auf die Identitätsbildung haben kann (Schiefer 2006, S. 17). Dementsprechend wird in der Kunstvermittlung nicht nur der Inhalt einer künstlerischen Arbeit thematisiert, sondern auch die Frage was das Individuum sehen, wahrnehmen und fühlen kann. Die Frage: „Was hat diese Arbeit mit mir zu tun?“ kann helfen individuelle Zugänge zur künstlerischen Arbeit herzustellen. In meiner Praxis wird deutlich, dass die Geschmäcker und Ansichten über Kunst nicht unterschiedlicher sein können. Daher spielt Kommunikation und Partizipation eine entscheidende Rolle. Denn durch einen gemeinsamen und kritischen Diskurs über Kunst, können wir aufgrund unserer unterschiedlichen Meinungen, Geschmäcker und Erfahrungen voneinander lernen und profitieren. Lena antwortete: „Ich weiß nicht, was genau ich jetzt machen soll und verstehe den Sinn dahinter nicht. Das ist komisch?“ Ich sagte zu ihr, dass diese Gefühle, die sich in ihr eröffnen, die ersten Schritte sein können sich dem Thema Widerstand anzunähern. Sie kann selbst gerade erleben, dass sie Widerstände in sich spürt. Irritation kann eine Chance sein neue Eindrücke zu bekommen. Die daraus resultierenden Anstöße, Anregungen und Impulse, können zu einer Erweiterung der eigenen Vorstellungskraft führen (Schiefer 2006, S. 12). Durch ungewohnte Situationen können wir uns selbst auf eine bisher unbekannte Art und Weise erleben. Durch den Abgleich zwischen dem Subjekt und den äußeren Einflüssen entsteht die Frage „Wer bin ich im Verhältnis zum Anderen, zum Fremden, zum Neuen etc.?“. Dabei ist die Reflexion der eigenen Wahrnehmung ein wichtiger Bestandteil, um die persönliche Urteilsbildung anzuregen (Schiefer 2006, S. 12). Lena wirkte etwas verdutzt, als sie feststellte, dass sie wirklich diesen Widerstand in sich fühlte. Ich bot ihr an, die Gefühle, die in ihr ausgelöst wurden zum Ausdruck zu bringen und erklärte ihr, dass sie jetzt die Möglichkeit hat etwas auszuprobieren, was sie sonst nicht tun würde. In einem Nebensatz sagte ich zu ihr: „Mach dir keine Sorgen, es gibt hier keine Noten und auch kein richtig oder falsch.“ In den Workshops mit Schüler:innen wird deutlich, dass der freie Umgang mit Kunst zu neuen Perspektiven über einen selbst und der eigenen Umgebung führen kann, die losgelöst sind von den Maßstäben, Regulatorien und Zensuren des Schulbetriebes. Neben der Frage, was die Kunstvermittlung vermitteln soll, steht immer auch die Frage im Raum wie eine erfolgreiche, kritische Kunstvermittlung gestaltet werden kann. In meinem zweiten Beispiel thematisiere ich das Potenzial von Kunst im öffentlichen Raum und der damit einhergehenden Vermittlung. In meinem Praktikum im Kunstverein Wolfenbüttel habe ich die Ausstellung KiöR- Bestandaufgabe als Kunstvermittlerin begleitet. In dieser Ausstellung haben regionale Künstler:innen unterschiedliche Plätze innerhalb und außerhalb der Stadt Wolfenbüttel bespielt. Das Thema der Ausstellung bezog sich auf die Frage, wie mit alten Beständen umgegangen wird, wie neuer Bestand entstehen kann und wie die Künstler:innen die Stadt widerspiegeln. Neben dem Vorteil, dass der Außenraum währen der Covid-19 Pandemie eine gute Möglichkeit darstellte Kunst zu rezipieren, wollte der Kunstverein auch Menschen erreichen, die sich sonst weniger für Kunst interessieren. Für die Ausstellung KiöR wurden Künstler:innengespräche und Workshops angeboten. Zusätzlich sollten Kunstvermittler:innen sich bei ausgewählten Orten platzieren und versuchen mit den vorbeikommenden Menschen ins Gespräch zu kommen. Ausgestattet mit einem beschrifteten T-Shirt, ein paar Flyern und Stadtplänen ging ich zu meiner Tagesstation, die in einem kleinen Stadtpark lag. Als ich dort ankam wusste ich nicht, wie ich mich am besten platzieren sollte. Die künstlerische Arbeit stand auf einer Wiese, die hinter ein paar Büschen und Bäumen versteckt lag. Um die Arbeit betrachten zu können, musste erst einem kleinen Weg gefolgt werden. Die zweite Möglichkeit bestand darin weiter in den Park zu gehen und von einer Brücke aus auf die künstlerische Arbeit zu schauen. Der Nachteil daran war, dass die Arbeit dann nur aus der Distanz betrachtet werden konnte. So musste ich mich zwischen diesen beiden Positionen entscheiden, die ihre Vor- und Nachteile beinhalteten. Ich entschied mich für den kleinen Weg, in der Hoffnung ein paar Menschen zu motivieren sich die gezeigte Arbeit von Nahem anzuschauen. Neben der Frage nach einer geeigneten Platzierung, war auch meine Sichtbarkeit schwierig. Da wir keine Stände oder Tische hatten, musste das bedruckte T-shirt ausreichen, um meine Funktion als Kunstvermittlerin erkennbar zu machen. Die Flyer legte ich auf die Erde. In diesem Moment fühlte ich mich wenig professionell. So stand ich am Wiesenrand und wartete darauf, dass Leute vorbeikamen. Nach einer Weile fuhren ein paar Fahrradfahrer:innen vorbei, die ich natürlich nicht anhalten konnte. Es folgten Spaziergänger:innen, die allerdings häufig in einem Gespräch vertieft waren, wodurch sich bei mir Hemmschwellen aufbauten. Ich wollte nicht unhöflich sein und die Menschen in ihrem Gespräch unterbrechen. Dazu kam, dass die künstlerische Arbeit nicht direkt gesehen werden konnte, was es zusätzlich schwieriger machte die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Es wurde deutlich, dass ich die Initiative ergreifen musste, um ein Gespräch zu initiieren. Am besten gelang es mir Personen anzusprechen, die neugierig schauten. Dann fragte ich sie, ob sie von der aktuellen Ausstellung KioR vom Kunstverein Wolfenbüttel gehört hätten. Mit einigen ging ich anschließend gemeinsam zur Wiese um die künstlerische Arbeit zu betrachten. Anderen gab ich nur ein paar Informationen zu den bespielten Plätzen in der Stadt und verwies auf den Kunstverein. Im Kontrast zu der Situation im Park war die Vermittlung in der Stadt eine ganz andere. Am nächsten Tag stand ich in der Nähe des Stadtzentrums direkt neben der künstlerischen Arbeit. Dort traf ich Menschen, die etwas von der Ausstellung gehört hatten und sich diese bewusst ansehen wollten. Durch das Interesse der Besucher:innen war es einfacher ein Gespräch zu eröffnen. Ein interessanter Aspekt des KiöRs war die Tatsache, dass Hemmschwellen nicht nur bei den Betrachter:innen abgebaut werden mussten, sondern auch bei den Vermittler:innen selbst. Im Kontrast zur Kunstvermittlung im Museum braucht die Vermittlung im öffentlichen Raum andere Herangehensweisen. Im Museum müssen die Kunstvermittler:innen nicht spontan Personen ansprechen, wodurch Momente der Störung entstehen, sondern kommunizieren mit einer Gruppe, die sich im Vorfeld für eine Führung oder ähnliches entschieden hat. Das impliziert eine bewusste Entscheidung und Erwartungshaltung von den Besucher:innen und schafft somit den Rahmen für einen Diskurs. Trotz der Hürde ein Gespräch zu eröffnen, bekommt die Kunstvermittlung in der Konstellation vom KiöR eine Chance, genau die Menschen zu erreichen, die sich sonst wenig bis gar nicht aus sich heraus für Kunst interessieren und nur zufällig an einer künstlerischen Arbeit vorbei kamen. Durch diese Spontanität können beispielsweise mögliche Schwellenängste überwunden werden. Es gibt keine Eintrittskosten, keine einschüchternde Gebäude und kein fein gekleidetes Personal. Dazu kann Kunst im öffentlichen Raum teilweise berührt oder verändert werden und spiegelt gesellschaftliche Prozesse wider. Es können Anregungen für ein Gespräch mit Freunden und Familie entstehen, die wiederum zu neue Perspektiven und Gedanken führen. Kunst im öffentlichen Raum ist ein mächtiges Werkzeug um Missstände zu visualisieren, Orte zu verändern und dadurch einen Einfluss auf den Alltag vieler Menschen zu haben. Kunst im öffentlichen Raum ist nicht nur für ein fachspezifisches Publikum da, sondern für all diejenigen, die sich damit beschäftigen wollen. Egal, wo wir der Kunst begegnen, entscheidend ist unsere eigene Haltung zu ihr. Der Mehrwert von Kunst und Kunstvermittlung wird erst erfahrbar, wenn wir die Bereitschaft haben uns der Kunst zu öffnen und uns mit ihr auseinandersetzen. Durch eine kritische Kunstvermittlung können wir uns der Kunst annähern und existierende, implizite Machtverteilungen hinterfragen und neu verhandeln. So kann ein Status Quo einer kritisch, emanzipierten Kunstvermittlung etabliert werden, die durch die Partizipation der Beteiligten geprägt wird. Kunstvermittlung tritt in Interaktion mit den Beteiligten und schafft verbindende Erlebnisse, die wiederum Einfluss haben können auf die subjektiven Empfindungen und Gedanken über und zur Kunst. Referenzen (1) Gompertz, Will: „Denken wie ein Künstler: Wie Sie Ihr Leben kreativer machen.“ Dumont, 2016. (2) Schiefer Ferrari, Markus, Kirchner Constanze, and Spinner, Kaspar H.: „Ästhetische Bildung und Identität.“ Kontext Kunstpädagogik Band 8, 2006. Maja Zipf ist Künstlerin und Kunstvermittlerin. In ihrer künstlerischen Arbeit arbeitet sie multimedial mit dem Schwerpunkt auf Video und Malerei. Thematisch beschäftigt sie sich mit Körper(idealen), Selbstoptimierung und der Visualisierung von Gefühlszuständen. Neben dem Studium an der HBK Braunschweig bei Wolfgang Ellenrieder, begleitet sie Workshops und Ausstellungen im Kunstverein Wolfenbüttel. 1

  • Issue 2 Editorial | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Editorial Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn und Julika Teubert Editorial Issue 2: Demokratisierung Das appropriate! Journal widmet sich in dieser Ausgabe der Demokratisierung. Der Begriff bezeichnet sowohl die Einführung von Demokratie in ehemals autoritär regierten Staaten als auch die kritische Weiterentwicklung von liberalen westlichen Demokratien. Letzteres ist genau genommen eine Demokratisierung der Demokratie. In der Zivilgesellschaft, deren Teil auch aktivistische Kunst ist, wird Demokratisierung meist als Kampfbegriff benutzt, um gesellschaftliche Bereiche, die undemokratisch sind, zu verändern. Gesellschaftliche Institutionen wie etwa das Bildungssystem an Schulen und Universitäten, die Kirche, Gefängnisse und Krankenhäuser sowie intransparente Bereiche in der Politik und Wirtschaft werden hierfür einer kritischen Prüfung unterzogen. Unser Verständnis von Demokratisierung sowohl in der als auch durch die Kunst entspricht diesem Ansatz. Demokratisierung gründet dabei auf den Prinzipien Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Anerkennung von Differenz und fordert, dass diese Grundsätze auch in der Praxis Anwendung finden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in kollektiven und partizipatorischen Vermittlungsprojekten einer Demokratisierung von unten Vorschub geleistet, die sich gegen intersektionale Diskriminierungen unterschiedlicher Prägung wendet. Die sieben Beiträge dieser Ausgabe widmen sich den Bereichen Bildung und Kultur, dem Kunstbetrieb und der Antidiskriminierungsarbeit und fragen nach Anwendungsmöglichkeiten von demokratieförderndem Handeln im Alltag und in der Kunst: Pinar Dogantekin sprach mit Bożna Wydrowska über Wydrowskas künstlerische und aktivistische Praxis und Lebensrealität als genderfluide Person im sehr konservativ regierten Polen. Der Interviewbericht beschreibt die Problematik von Künstler:innen, Journalist:innen und der LGBT+-Gemeinschaft, die unter der fortschreitenden Zensur durch die Regierung leiden. Beeindruckend ist Wydrowskas künstlerische Antwort auf das aktuelle politische System, in der Elemente der Ballroom-Culture und des Voguing als Teil des Widerstands funktionieren und die als Angebot für andere Menschen verstanden werden kann, das eigene Verständnis von Geschlecht und Geschlechterrollen neu zu beleuchten und sich von Konventionen zu trennen. Im zweiten Interview dieses Issues sprachen Daphne Schüttkemper, Jonna Baumann und Nano Bramkamp mit Jens Kastner und Lea Susemichel, den Autor:innen des Buchs „Identitätspolitiken¬¬ – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“. Von diesem Interview ausgehend fragt ihr Textbeitrag nach den unterschiedlichen Konzepten von Identität und welchen Zweck diese für die Gesellschaft haben. Identitätspolitiken werden auf ihr polarisierendes Potenzial hin untersucht. Dabei wird eine wichtige Differenzierung von linker Identitätspolitik und rechter Identitätspolitik vorgenommen. Im Praxisteil werden zwei Projekte vorgestellt, die einem aktivistischen Ansatz folgend das Ziel vereint, neue Formen von demokratischer Partizipation zu entwickeln und konkret auszuprobieren. Studierende der Kunstvermittlung der HBK haben im vergangenen Semester in Kooperation mit „Demokratie leben!“ Braunschweig und der Volkshochschule Braunschweig ein Vermittlungsprojekt auf dem Wollmarkt in Braunschweig konzipiert und umgesetzt. Ziel war es, eine Möglichkeit zum Austausch über Demokratie zu schaffen und ein Zusammenkommen in Präsenz zu gestalten. Martin Krenn, Andreas Baumgartner und Paula Andrea Knust Rosales berichten über die Intention des Platz_nehmen Projekts, über Entstehungsprozess und Umsetzung. Zentral ist dabei der Begriff Demokratie, nicht nur in Bezug auf den Umsetzungszeitraum, sondern auch im Kontext der Gruppenarbeit. Dabei kommt auch der Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien, über die in der Gesellschaft marginalisierte Gruppen nicht verfügen, eine wichtige Rolle zu. Das Kollektiv Bricking Through stellt ein Website-Projekt vor, das während der Coronapandemie entstanden ist und den digitalen Raum demokratisieren will. Statt weiterhin Datenkraken wie Facebook und Co. zu füttern, wollen Bricking Through mit ihrem Projekt eine – vor allem User:innen-gerechte – Alternative aufzeigen. Es handelt sich dabei um ein Work-in-Progress-Projekt: Es entsteht eine soziale Plattform, die Daten von User:innen schützt und zusätzlich den künstlerischen Austausch für +18-Inhalte mit hohen Sicherheitsstandards gewährleisten soll. Ihr Anspruch ist es, inklusiv, demokratisch und rücksichtsvoll miteinander zu denken und zu arbeiten. Julika Teubert bespricht den Sammelband „MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN, Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“. Das von Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg und Linda Kelch herausgegebene Buch erschien in diesem Sommer und behandelt unter anderem die Frage, ob oder wie eine Auseinandersetzung mit Kunst eine demokratische Haltung fördern kann. Zwei Gästinnenbeiträge vervollständigen das Issue 2: Nanna Lüth schreibt in „Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz“ im Kontext einer parteilichen und demokratisierenden Kunstvermittlung über den Zusammenhang von Humor und Differenzkritik. Dabei widmet sie sich den Fragen, in welchem Verhältnis Humor und Demokratie stehen, und wie Ambiguitätstoleranz als wichtiger Aspekt demokratischer Gemeinschaften durch die pädagogische Arbeit gefördert werden kann. Ihre Überlegungen fundiert sie nicht nur theoretisch, sondern veranschaulicht sie auch an einem Praxisbeispiel aus einem ihrer Seminare zu dem Thema, wie Unsinn und Verwirrung Ambiguitätstoleranz fördern können. In ihrem Beitrag „Arbeitsbedingungen verbessern! Aber wie?“ unterbreitet Mirl Redmann einen Vorschlag für mehr Inklusion und Diversität von Kulturarbeiter:innen als Bedingung demokratischer Strukturen im Kulturbetrieb. Die Autorin sieht das Potenzial einer Stärkung demokratischer Strukturen aus dem Inneren von Kulturinstitutionen heraus. Diesbezüglich fordert sie eine Re-Organisation von Institutionen und Projektprozessen in Heterarchien, was eine Neuverteilung von Macht zur Folge hätte und eine Konsentkultur etablieren könnte. Die Redaktion des Issue 2 | Demokratisierung | setzt sich zusammen aus: Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert

  • Issue 2 Lüth | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Video, Quiz und Tanz – Übungen in (Selbst-)Ironie und Ambiguitätstoleranz Nanna Lüth Ausgehend von einem Vermittlungsexperiment, das im Rahmen eines meiner Kunstdidaktikseminare stattfand, wendet sich dieser Text Potenzialen von Unsinn bzw. Ironie für Demokratiebildung zu. Argumente von Anja Besand, Gerd Koch, Paul Mecheril und Karl-Josef Pazzini stützen meine These, dass die un_ernste Befragung institutioneller Rahmungen und der eigenen professionellen Perspektive die Reflexivität und die Handlungsspielräume von zukünftigen Kunstlehrer*innen erhöht und vergrößert und eine politische Bedeutung hat. Komisch-werden Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“, um das es weiter unten geht, steht für einen Ansatz, (diskriminierungs-)kritische Kunstpädagogik[1 ] durch den Einbezug von Humor zu unterstützen und zu erleichtern. Humor steht dabei nicht nur für eine offene und konfliktfähige Haltung von Pädagog*innen, sondern er kann auch Konzepte für den Kunstunterricht inspirieren. Humor wird hier als Schirmbegriff verwendet. Man kann unterscheiden zwischen Humor als Haltung oder Persönlichkeitseigenschaft und „Komik als ästhetische[r], dramaturgische[r], mediale[r] Ausdrucksform“ (Hartung 2005: 10). Die Tatsache, dass Komik auf Unstimmigkeit (bzw. Inkongruenz) basiert und somit auf Kontraste oder Überraschungen angewiesen ist, zeigt Parallelen zu künstlerischen Verfahren des Verschiebens und Irritierens auf. Übliche Verfahren der Unterbrechung von tradierten Formen sind Kontextverschiebung, Übertreibung oder Umkehrung. Es ist also naheliegend, dass in künstlerischen oder theoretischen Projekten, die mit normalitätskritischer Agenda Komik einsetzen, etwas für die pädagogische Praxis zu lernen ist. Das Seminar „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ wurde bisher zweimal durchgeführt – einmal an einer Kunsthochschule und einmal an einer Universität. Das Seminarkonzept beruht darauf, sich ausgehend von künstlerischen Arbeiten, praktischen Übungen und theoretischen Texten mit der Relation von gesellschaftlichen Anliegen und Humor zu beschäftigen. Dabei werden verschiedene soziale Zuschreibungen und Ungleichheiten thematisiert. Diese Kombination ist kein Zufall, denn bevorzugte Angriffspunkte von Witzen sind häufig die vermeintlichen Schwachstellen der Anderen. Damit sind Sexualisierung, Rassifizierung/Ethnisierung und andere abwertende Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen – allgemein gesagt das Prinzip des Othering – zentrale Bausteine der Regimes des Lächerlichen. Insbesondere minorisierte Schüler*innen und Lehrer*innen erleben das verstärkt in der Schule (vgl. Klocke 2012; Beigang, Fetz, Kalkum, Otto 2017). Als Gegenmaßnahmen sind das Zurücklachen oder auch ein Umlenken der Aufmerksamkeit auf angeblich normale Umstände denkbar. Manchmal wirkt die Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Mehrheitsphänomene aus der Distanz nämlich auch lächerlich. In welchem Verhältnis aber stehen Humor und Demokratie? Oder: Was hat Komisch-werden mit Demokratiebildung zu tun? Im Folgenden gehe ich auf einige Pädagog*innen ein, die über Verbindungen zwischen Pädagogik, produktiver Verunsicherung und politischer Bildung schreiben. Explizit bezieht sich hierbei nur der Migrationspädagoge Paul Mecheril auf Humor, sprich Ironie. Aus kunstpädagogischer Perspektive werden diese Gedankengänge später ergänzt durch einen Aufsatz von Karl-Josef Pazzini, der sich jedoch nicht ausdrücklich auf Ausdrücke wie politische oder Demokratiebildung bezieht. Die Verunsicherung, auch Be- oder Verfremdung genannt, die durch uneindeutige oder widersprüchliche Momente in pädagogischen Settings bewusst herbeigeführt oder zumindest positiv aufgegriffen wird, dient in den Argumentationen von Paul Mecheril, Anja Besand und Gerd Koch dazu, sich in unbekannte Perspektiven hineinzuversetzen, ohne dabei auf ein vollständiges Verstehen abzuzielen. Damit lässt sich – so formuliert es die Politikdidaktikerin Besand – die demokratische Tugend Ambiguitätstoleranz trainieren. Ambiguitätstoleranz ermöglicht das Agieren unter unbekannten Umständen, für die die Menschen oder die Gesellschaft noch keine Spielregeln oder Lösungswege kennen: „In Demokratien geht es um den Interessenausgleich, um revidierbare Entscheidungen, die Teilung von Gewalt und um den Schutz von Minderheiten, auch wenn sie abwegiger Meinung sind und seltsame Gebräuche pflegen. Ambiguität ist also in der Politik sichtbar, wohin man auch schaut“ (Besand 2020: o.S.). Die Instrumentalisierung von nur scheinbarer Schüler*innenbeteiligung sieht Besand für die Entwicklung von deren Demokratieverständnis als schädlich an. Bei politischer Bildung in der Schule geht es ihrer Ansicht nach nämlich nicht um die Vermittlung von Faktenwissen allein, sondern um das Erleben demokratischer Verfahren und die Übung der Fähigkeit zum Dissens. Zum „Politisch-Werden und Politisch-Sein“ (Besand 2020: o.S.) gehöre es demnach, der eigenen Sichtweise auf die Spur zu kommen, hegemoniale Wertmaßstäbe zu hinterfragen und unterschiedliche Perspektiven anzuerkennen. Mit Mecheril lässt sich an die Relativierung des Diktats vorgegebener Wissensbestände anschließen. Er plädiert aus bildungstheoretischer Perspektive dafür, Entscheidungen über Inhalte und Prozesse des Lernens „in einem radikalen Sinne dem Gegenüber zu überantworten“ (Mecheril 2009: 2). Insofern fordert er von Pädagog*innen Offenheit gegenüber Fremdheitserfahrungen und Verunsicherungen. Das hierfür erforderliche Absehen eines „schwachen“ (Mecheril 2009: 13) und dennoch verantwortungsvollen Subjekts von sich selbst bezeichnet er als ironische Perspektive: „Ironie ist ein Mittel der Wahrnehmung und Artikulation von Ambivalenz, des Sicheinlassens auf Verhältnisse, für die die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein konstitutiv ist. […] Sie lebt von einem Gefallen an dem Disparaten, dem Mehrwertigen und Spannungsreichen, das sie anzeigt, nicht um das Disparate zu belächeln, vielmehr: um es in einem Modus zu erkennen, der sich seiner Kontingenz und Grenzen bewusst ist. Dies kann als Selbstironie bezeichnet werden“ (ebd.). Mit Dieter Baacke nennt Mecheril Ironie „antitotalitär“, da sie ausgleichend wirke und fanatische Stimmen relativiere (vgl. Baacke 1985: 210). Entsprechend weist Mecheril der Ironie eine grundlegende Bedeutung für Demokratie zu. Einen dialektischen Ansatz vertritt der Sozial- und Theaterpädagoge Gerd Koch, der für ein Fremd-Werden eintritt. Mit Bertolt Brecht argumentiert er dafür, „[verbessernd in] gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit [einzugreifen]“ (Koch 2002: o.S.). Das Fremdmachen von vorgefundenen Entfremdungen aufgrund von Herrschaftsverhältnissen kann „in der Form der Kritik geschehen, aber auch in der Weise des positiven Umformens“ (ebd.). Die Destruktion von traditionellen Rollenauffassungen, Weltbildern und Wissensbeständen soll laut Koch durch ein Training im „neuen Sehen“ (ebd.) ergänzt werden. Er interessiert sich darüber hinaus besonders für Unterricht als „artifizielles Gefüge, dessen Konstruktion ständig auf ihren Realitätsbezug hin zu prüfen ist“ (ebd.). Das Komisch-Werden kann mit diesen Positionen also als Förderung bzw. Erprobung von Ambiguitätstoleranz, von Ironie oder auch als Variante des Fremd-Werdens mit dem Ziel der Förderung von demokratischen Fähigkeiten verstanden werden. „Komisch-werden. Humor, Differenz, Kritik“ Dieses Seminar fand im Winter 2017/18 an der Universität der Künste (UdK) Berlin statt und richtete sich an Masterstudierende, die Kunst auf Lehramt studierten. Zentrale Elemente der Veranstaltung waren Vermittlungsexperimente, die meistens von zwei Studierenden für die Mitstudierenden entwickelt, durchgeführt und reflektiert wurden. In der ersten Sitzung stellte ich den Studierenden 17 künstlerische Arbeiten und 13 Texte zur Wahl, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Humor, Differenz und Kritik befassen. Fünf künstlerische Positionen und fünf Texte dienten schließlich als Ausgangspunkte für die studentischen Experimente. An zwei Terminen übernahm eine Person alleine die Vermittlung, so auch im folgenden Beispiel. Über die Produktivität von Unsinn … Ein zur Vermittlung ausgewählter Text heißt „Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären“; er wurde 1999 von Karl-Josef Pazzini geschrieben. In diesem Artikel erhebt Pazzini anhand eines Berichts über den Bildhauer Roman Signer und dessen vergängliche Arbeiten Einspruch gegen die Verengung und Vereindeutigung von Sinnproduktionen. Die zwanghafte Wiederholung, das Festhalten an der immer gleichen Verbindung von Phänomenen mit festen Bedeutungen erzeuge Einbildungen. Diese Fixierung steht Pazzinis Verständnis von Bildung entgegen. Bei seinem Konzept von Bildung muss das Entbilden mit dem Bilden einhergehen: „Bildung kann man nicht haben, lediglich einige [S]ets als Voraussetzung, um bildende Relationen einzugehen, Bereitschaften. Bildung als Eigenschaft ist nichts anderes als Einbildung. […] Bildung lebt von der Beeindruckbarkeit, von der Irritierbarkeit, von Haltung und Stil“ (Pazzini 1999: 2). In diesem Zusammenhang wirbt er für Unsinn als „kleinen Bestandteil dieser Relation“: „Die Produktion von Unsinn und die Produktivität von Unsinn sind Phasen jeglicher Bildung […]. Diese Phase ist von erheblicher Unsicherheit und Angst gekennzeichnet, aber auch von Lust“ (ebd.). Pazzini thematisiert die Gefühle, die für Bildung charakteristisch sind, und schreibt gegen die Gewohnheit an, dass von pädagogischem Handeln verlangt werde, es solle einen bestimmten Sinn bloß rekonstruieren (vgl. Pazzini 1999: 3). Experiment in Edutainment Von Pazzinis Thesen ausgehend entwickelte die Studentin Rosa Kasper einen halbstündigen Seminarteil. Zehn Tage vor der angepeilten Sitzung erhielt ich eine Skizze. Kasper formulierte, ausgehend von dem Text und seinem zentralen Begriff, dem Unsinn, eine Reihe von Ideen, haderte jedoch mit ihrem Anspruch der Wissensvermittlung. Sie schrieb: „Mir fällt noch keine Aufgabe ein, die Sinn macht, also man kann ja alles mögliche machen, um Unsinn zu produzieren, aber wo bleibt dann der Wissensgehalt für die Schüler?“ (Kasper per E-Mail, 8.1.2018). Ihr Anspruch richtete sich auf Schüler*innen, die ja gar nicht anwesend sein würden. Ich wies darauf hin, dass es um ein Angebot für Mitstudierende ginge, und bat sie außerdem, Pazzinis Plädoyer für Unsinn ernst zu nehmen. Daraufhin erhielt ich eine überarbeitete Planung, die mit der Frage endete: „Denken Sie das ist genug Unsinn?“ (ebd.)[2 ] Ich stimmte ihr zu. Wir vereinbarten außerdem, dass ich das Vermittlungsexperiment mit Einverständnis der Teilnehmenden auf Video dokumentieren würde. Die Beschreibung der Seminarsitzung basiert auf diesem Material. Sie hatte die Vermittlung von Pazzini aus in drei Teile gegliedert: 1) eine TV-Sendung mit Expert*inneninterviews zum Thema Unsinn 2) ein Frage-Antwort-Quiz – plus Werbepause 3) eine Livetanzshow Zentrale Passagen von „Über die Produktivität von Unsinn“ wurden per Video in die Form eines Fernsehmagazins übersetzt. In dem Einspieler treten drei Expertinnen auf, die Pazzini zitieren: eine Psychologin mit Fellmütze an einem Ententeich, eine Nonne in einer Kirche sowie eine Passantin, die in einer Fußgängerzone Pizza isst. Die Kamera wandert ins Off und bleibt an Enten und Weihnachtsbaumkerzen hängen. Auf diese Einführung folgte das Quiz, bei dem die Anwesenden schnell auf unernste Fragen antworten sollten. Kasper bewegte sich schleichend zwischen den Studierenden hin und her und ging auf einzelne zu, um sie zum Mitmachen zu bewegen. Jede Antwort wurde bejubelt mit dem Ruf: „Das ist Unsinn!“ Den Antwortenden wurde ein Stoffbeutel als Gewinn überreicht. Darin befand sich ein Objekt für den Tanz im dritten Teil. Kasper leitete über zur Tanzshow, für die die Teilnehmenden sich einen Tanz mit ihrem Objekt ausdenken sollten. Die Anweisung dazu lautete: „Sie können den Gegenstand tanzen, ihn als Tanzpartner haben, seine Form als Inspiration eines Tanzmoves nutzen etc.“ Nach einer kurzen Zeit für die Beschäftigung mit den Objekten hockte sich Kasper in die Mitte des Raumes. Sie kündigte lächelnd an: „Dann fordere ich einfach einen nach dem anderen auf, mit mir auf die Bühne zu kommen. Wir sind in – 3, 2, 1 – auf Sendung!“ Lautes Lachen. Sie startete das unter Einsatz von Silberoutfits und Tiermasken vor einem surrealen Wüstenhintergrund produzierte Musikvideo „Crying at the Discoteque“ (2001). Nacheinander begaben sich die Anwesenden auf die Tanzfläche. Nur zwei Studierende blieben mit ihren Dingen am Rand stehen. Nach zwei Minuten stoppte Kasper die Musik und beendete das Ganze mit „Das war … Unsinn!“ Nach kurzem Luftholen stiegen wir in die Diskussion des Erlebten ein. Das Gespräch drehte sich schnell um den vermuteten Autoritätsverlust, den ein solcher Auftritt im schulischen Rahmen erzeugen könnte. Es wurde also über den Transfer in die Unterrichtspraxis nachgedacht.[3 ] Kasper wurde die Nonchalance für eine solche Übertragung zuerkannt. Ein artifizielles Gefüge aus Methoden, Medien und Ironie – kein Standard Mit den oben vorgestellten pädagogisch-politischen Begriffen stellt sich die Frage, ob und wie hier demokratische Fähigkeiten trainiert wurden. Die von Kasper realisierte pädagogische Einheit war eng getaktet und trotz Methodenvielfalt durch klare Anweisungen und Rollenverteilungen charakterisiert. Also betrachten wir etwas, das eher an handlungsorientierten, aber direktiven Unterricht erinnert. Während der Inszenierung stand Kasper im Zentrum der Aktion. Sie leitete das Ganze an und motivierte die Anwesenden dazu, mitzumachen. Dabei deutete Kasper zu Beginn des Ratespiels durch ein raubtierhaftes Anpirschen an, dass sie etwas Gefährliches vorhatte. So führte sie die Rolle der animierenden (Kunst-)Lehrperson überspitzt auf. An dieser Nachahmung wurde ein ironisches Selbstverhältnis der anleitenden Studentin deutlich. Dies war schon im Einspielervideo zu sehen, wo sie sich hintereinander in eine Psychiaterin, eine Nonne und eine Passantin verwandelt, die Pazzinis Text unterschiedlich interpretieren – als Ratgeber, als Gebet und als unverständliches Schmatzen. Das Interesse der Kamera an unpassenden Situationen – wie den Enten auf dem Teich – erzeugte eine komische Unstimmigkeit zwischen Text und medialem Format. Die schrägen Übersetzungen lassen eine ungewöhnlich lockere Annäherung an den wissenschaftlichen Text erkennen. Die übertriebene, verkürzte und verschobene Wiederaufführung von medialen Unterhaltungsformaten mit Education-Anteilen (die Expertinnenstimmen, die Prüfungssituation im Quiz und im Tanz mit den Alltagsobjekten), das heißt der hier hervorgebrachte Unsinn, zerlegte „das Gewohnte in Teile“ und „zeigte [uns], daß das Gewohnte [wie z. B. eine Seminarsituation] auch nur aus Unsinn zusammengesetzt ist“ (Pazzini 1999: 6). Dadurch, dass Kasper selbst in Vorleistung ging und demonstrierte, dass es im gegebenen Rahmen möglich und erwünscht war, unsinnig zu sprechen und zu handeln, baute sie Vertrauen auf und erweiterte die Handlungslogik auch für die anderen Seminarteilnehmer*innen. Die Erweiterung lässt sich mit Mecheril verstehen als „[typisch pädagogische] Praxis der Befremdung alltagsweltlich vertrauter Handlungsformen, Wissensbestände und normativer Praxen“ (Mecheril 2009: 5). Dies geschah jedoch in einem gewissen Maße, das heißt, die Beteiligung basierte auf der Ethik der Freiwilligkeit (vgl. Hölscher 2015: 223 f.). Die Aufforderung zum expressiven körperlichen Mitmachen und Sich-Zeigen erzeugte bewusst eine lächerlich anmutende Situation. Ob diese mit einem möglichen Verlust sozialen Ansehens assoziiert wurde oder eher mit Spaß, wie sie also bewertet wurde, hatte Einfluss darauf, wie die Studierenden reagierten. Ambiguitätstoleranzerfahrung im Kollektiv So entstand die entscheidende Unsinnproduktion erst im Kollektiv. Der Höhepunkt der Lehr-Lern-Situation, der Tanz mit den Alltagsgegenständen, schuf Raum für die Fantasien der Mitstudierenden. Ohne die individuellen Reaktionen auf Kaspers Aufgabe wäre die ganze Vorbereitung letztlich umsonst gewesen. Die vermeintliche Machtposition der Lehrperson ging in diesem Moment in das Angewiesensein der Pädagogin auf die Teilnehmenden über. Beteiligung beinhaltete hier diejenigen, die sich nicht einverstanden zeigten und das Mittanzen bestreikten. Kasper ließ auf einem für sie selbst unsicheren Terrain Raum für kritisches, beispielsweise passives Verhalten. Diese Flexibilität von Kasper in Bezug auf die Nichttänzer*innen lässt sich als Ambiguitätstoleranz verstehen. Auch die Tanzenden bearbeiteten Unsicherheiten, als sie zum Tanzen aufgefordert wurden. Die Nichttänzer*innen wiederum begegneten der Ambivalenz dadurch, dass sie sich nicht dem Verhalten der Gruppe anschlossen. Die Aufforderung, im Rahmen der akademischen Lehre spontan in eine Art Partysituation einzusteigen, erzeugte Unbehagen. Das absurde Seminarsetting verunsicherte zunächst alle, später nur noch einige, soweit es Körpersprache und Mimik im Dokumentationsvideo erkennen lassen. Anstelle der an Schulen verbreiteten Simulation von demokratischer Beteiligung (vgl. Besand 2020) wurde hier an einer Umkehrung gebaut. Simuliert wurde eine autoritäre Didaktik, die jedoch Erwartungen an herkömmlichen Kompetenz- und Wissenserwerb und also die Standardisierbarkeit künstlerischer Bildung unterlief.[4 ] Stattdessen wurde eine Inszenierung aufgeführt, die die eigene Auffassung des Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnisses und institutionelle Vorgaben austesten und reflektieren ließ. Die Regeln der Institution und ein theoretisch konturiertes Kunstverständnis können dabei in Bewegung geraten – die rahmenden Standards erweisen sich in Bezug auf Reflexionswissen (vgl. Sturm 2005) als erweiterbar. Nanna Lüth, Dr. phil., arbeitet und forscht in den Bereichen Kunst, Kunstpädagogik und Medienbildung. Arbeitsschwerpunkte sind kunst- und theoriebasierte Methodenentwicklung, die Öffnung und Diversifizierung von Bildungsinstitutionen sowie Diskriminierungskritik und Humor. 2021 neu erschienen: Lüth, Nanna (Hg.). Schule, Körper, Social Media. Differenzen reflektieren aus kunstpädagogischer Perspektive. München: kopaed. www.nannalueth.de Literatur Baacke, Dieter, 1985. Bewegungen beweglich machen – Oder: Plädoyer für mehr Ironie. In: Ders., Frank, Andrea, Frese, Jürgen, Nonne, Friedhelm (Hg.): Am Ende postmodern? Next Wave in der Pädagogik. Weinheim und München: Juventa. S. 190–216 Beigang, Steffen, Fetz, Karolina, Kalkum, Dorina, Otto, Magdalena, 2017. Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Hg. von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos Besand, Anja, 2020. Die Krise als Lerngelegenheit. Oder: Kollaterales politisches Lernen im Kontext von COVID-19. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/studium/lehrveranstaltungen/die-krise-als-lerngelegenheit (abgerufen 15.10.2021) Hartung, Anja, 2005. Was ist Humor? Zur Ideengeschichte und theoretischen Fundierung des Humorbegriffs. In: merz. Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 2005-04 Humor. S. 9–15 Hohenbüchler, Irene, Hohenbüchler, Christine, 2020. … Verhalten zu … sich in Verbindung setzen. In: Böhme, Katja, Engel, Birgit, Lömke, Tobias (Hg.): Im Wahrnehmen Beziehungs- und Erkenntnisräume öffnen. Ästhetische Wahrnehmung in Kunst, Bildung und Forschung. München: kopaed. S. 177–187 Hölscher, Stefan, 2015. Unbestimmtheitsrelationen. Impulse zum kunstdidaktischen Verhältnis von Rahmung und Prozess. In: Engel, Birgit, Böhme, Katja (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen. München: kopaed. S. 214–232 Klocke, Ulrich, 2012. Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Im Auftrag des Berliner Senats Kultusministerkonferenz, 2008. Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf (abgerufen 15.10.2021) Koch, Gerd, 2002. Bekanntes fremd machen und Fremdes bekannt machen. In: Special zum 60. Geburtstag Britta Haye. http://www.ibs-networld.de/ferkel/Archiv/koch-g-02-01_geb_haye-bekannt-fremd.html (abgerufen 01.05.2014, aktuell nicht mehr auffindbar) Lüth, Nanna, 2017. Kunstvermittlung als Bewegung. In: Fritzsche, Marc, Schnurr, Ansgar (Hg.): Fokussierte Komplexität – Ebenen von Kunst und Bildung. Festschrift für Carl-Peter Buschkühle. Oberhausen: Athena. S. 229–241 Mecheril, Paul, 2009. „Wie viele Pädagogen braucht man …“ Ironie und Unbestimmtheit. als Grundlage pädagogischen Handelns. http://www.staff.uni-oldenburg.de/paul.mecheril/download/mittagsvorlesung_mecheril2010.pdf (abgerufen 15.10.2021) Pazzini, Karl-Josef, 1999. Über die Produktivität von Unsinn. Ex- und Implosionen des Imaginären. In: Warzecha, Birgit (Hg.): Hamburger Vorlesungen über Psychoanalyse und Erziehung. Hamburg: Lit. S. 137–158 Sturm, Eva, 2005. Vom Schnüffeln, vom Schießen und von der Vermittlung. Sprechen über zeitgenössische Kunst. Vortrag am O.K. Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 06.06.2005. In: artmediation #5 Tier. http://www.artmediation.org/sturm.html (abgerufen 15.10.2021) Video Alcazar, 2000. Crying at the Discoteque (Official Video). https://www.youtube.com/watch?v=7CiOWcUVGJM (abgerufen 15.10.2021) Rosa Kasper: „Explossion“, Screenshot von Video (2018) Endnoten [1] In diesem Text kommen Diskriminierungen nicht explizit vor. Im Gesamtseminar spielte Diskriminierungskritik, u. a. in theoretischen und künstlerischen Arbeiten, jedoch eine wichtige Rolle. [Zurück] [2] Das ist ein typisch paradoxer Moment im pädagogischen Rahmen, wenn Dozent*innen um Erlaubnis gefragt werden, Unsinn machen zu dürfen, also gegen die übliche Zielsetzung von universitärer Lehre zu verstoßen. Indem die Lehrperson in diesem Fall zustimmte, wurde eine Ziel- und Verhaltensnorm verschoben. Studierende und Lehrperson trafen eine verändernde Absprache. [Zurück] [3] Im universitären Raum muss offenbleiben, ob sich eine Seminareinheit in der Schule mit Schüler*innen nachvollziehen ließe oder nicht. Die Probe aufs Exempel ist in Seminaren, die zugleich Schulkooperationen sind, möglich. Vgl. u. a. Lüth (2017), Hohenbüchler, Hohenbüchler (2020) [Zurück] [4] In den KMK-Standards für das Lehramtsstudium Kunst ist als fachdidaktischer Studieninhalt u. a. aufgeführt: „Planung, Erprobung und Reflexion von Unterricht, der kunst- und wissenschaftspropädeutische Ziele verfolgt“. An dieser Vorgabe orientierte sich Kasper wahrscheinlich unbewusst, als sie in ihrer E-Mail danach fragte, welcher Wissensgehalt im Rahmen ihres Experiments am Ende erreichbar sei. [Zurück] 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Ank 1 Ank 2 Ank 3 Ank 4

  • Issue 2 Teubert | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 MEHRDEUTIGKEITEN GESTALTEN Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik Buchbesprechung von Julika Teubert Ambiguität – was ist das überhaupt? Schon der Titel des im Folgenden vorgestellten Buchs lässt vermuten, dass es sich hierbei um eine Lektüre handelt, die eine gewisse Auseinandersetzung mit bildungssprachlichen Begriffen erfordert. Dem Thema der Ambiguität oder – einfach ausgedrückt – der Mehrdeutigkeit wird von insgesamt 15 Personen aus Kunst, Vermittlung, Kultur- und Politikwissenschaft multiperspektivisch im Kontext der kulturellen und politischen Bildung nachgegangen. Der 298 Seiten und 14 Aufsätze umfassende Band wurde im Sommer 2021 gemeinsam von Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg und Linda Kelch im transkript Verlag in der Kategorie Pädagogik herausgegeben. Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich aus jeweils drei bis vier Texten zusammensetzen. Allem voran bietet dabei die Einleitung Hintergrundinformationen über eine 2019 stattgefundene Tagung, deren Titel „Ambiguität. Demokratische Haltungen bilden in Kunst und Pädagogik“ nun auch die Publikation prägt. Zudem enthält das Werk eine Erklärung und Einordnung zur Thematik der Ambiguität, um gleichzeitig eine Reihe von Fragen zu stellen, denen sich anschließend in den Gesprächs- und Textbeiträgen gewidmet wird: Wie lässt sich eine offene Haltung gegenüber Uneindeutigkeiten und fremden Eindrücken entwickeln und kräftigen? Wie könnte sich eine solche Haltung in der kulturellen Bildung, wie in der politischen Bildung äußern? Lässt sich eine ambiguitätstolerante Haltung, die in Bezug auf eine spezifische Thematik entstanden ist, auf andere Bereiche übertragen? Die Grundlage des Bandes ist die These, „dass es sowohl für politische Bildung als auch für die Kunstpädagogik gerade unaufgelöste, ambige Situationen sind, die in ihrer Kontroversität das Potenzial haben, bildsam zu sein“, und so die Bildung demokratischer Haltungen fördern. Das Buch beschreibt sich allerdings selbst als paradox in dem Versuch, das Thema der Ambiguität besonders eindeutig und klar erfassen und beschreiben zu wollen. Grundlegend wird die Verbindung von Ambiguität, Kunst und Demokratie folgendermaßen hergestellt: Die Aufgabe der Kunst sei allgemein nicht die, bestehende Überzeugungen zu festigen, sondern zu irritieren und vielfältige Reize zu setzen, die in der Auseinandersetzung mit ihnen in neuen Erfahrungen münden können. Eine Beschäftigung mit Kunst könne so die Erkenntnis fördern, dass Uneindeutiges und Unbekanntes nicht nur aushaltbar, sondern außerdem bereichernd sein können. Die Fähigkeit, mit Ambiguitäten umgehen zu können, lässt sich also als Ambiguitätstoleranz bezeichnen – und dies sei erlernbar. Auch eine demokratische Politik beruht auf Vielfalt und der Pluralität der Gesellschaft. Toleranz für Ambiguität ist somit eine wichtige Eigenschaft einer Demokratie und ihrer Mitglieder. Der Schnittpunkt von freier Kunst und echter Demokratie bestehe darin, dass beide einerseits auf ein ambiguitätstolerantes Umfeld angewiesen seien, um zu wachsen, andererseits seien sie nur frei, echt und plural, wenn sie selbst von Grund auf bereits ambige Züge aufwiesen. Ein erklärtes Ziel der kulturellen und politischen Bildungsarbeit sei es demnach, eine Haltung zu fördern, die in befremdlichen Situationen nicht automatisch ablehnend und abgrenzend reagiert, sondern Vielfalt begrüßt und den Umstand aushalten kann, nicht immer alles einordnen und festlegen zu können. Die Förderung oder Herausbildung von Ambiguitätstoleranz als Teil einer Haltung ist folglich eine demokratische Praxis. Besonders erkenntnisreich waren für mich die Beiträge von Anja Besand, Sabine Dengel und Linda Kelch sowie Katja Hoffmann und Oliver Klaassen. In ihren Texten geht es unter anderem um die Frage, was die politische und die kulturelle Bildungsarbeit voneinander lernen können. Meiner Meinung nach ist das ein wichtiger Aspekt, denn eine politische Positionierung wird im kulturellen Sektor immer relevanter. Außerdem wird das Konzept der Ambiguitätstoleranz kritisch durchleuchtet, was im Sinne der Ambiguität selbst zu einem umfassenderen Bild der Thematik führt. Ein interessanter Aspekt ist auch, dass Ambiguität als künstlerische Strategie eine Schutzfunktion für marginalisierte Personen bieten kann, denn bis heute andauernde diskriminierende Strukturen erfordern vielerorts einen solchen uneindeutigen, mehrdeutigen Kunstraum, der vor Angriffen schützt. Durch ihre zugängliche Wissensvermittlung und verständliche Sprache haben sich für mich Dorothée de Néve, Ulaş Aktaş, Hans-Christoph Koller und Julia Hagenberg hervorgehoben. Ihre Beiträge beschäftigen sich generell mit der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Veränderung; sei es die Bedürftigkeit der Demokratie, sich aktuellen Diskussionen und Aushandlungen zu stellen, oder die der Kunst und Vermittlung, einen positiven Einfluss auf Gesellschaft, Welt- und Selbstverständnis zu nehmen. Dazu passend wird die Frage aufgeworfen, wie Museen ihre Verantwortung als machtvolle Institutionen mit großem Wissenskapital und exklusiven Handlungsspielräumen wahrnehmen sollten. Als Folge dessen muss sich demnach eine kritische Aufarbeitung von Ausstellungspraxis und Sammlungen etablieren. Schlussendlich handelt es sich um ein Fachbuch, das das komplexe Thema der „Ambiguität und Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“ aus unterschiedlichsten Blickwinkeln umfassend beleuchtet. Den Herausgeber:innen gelingt es allerdings nicht ganz, ihren in der Einleitung betonten Anspruch, das Thema klar zu vermitteln und zu beschreiben, einzulösen. So ist die Artikelzusammenstellung wie auch die -reihenfolge nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Beispielsweise erscheint mir der Beitrag von Aurora Rodonò als Einstieg in das Thema besonders geeignet, er wurde jedoch als letzter Artikel gereiht. Die Aufteilung des Buchs in vier nummerierte Abschnitte zielt darauf ab, Autor:innen aus verschiedenen Fachbereichen zusammenzubringen, doch es fehlen hilfreiche Kapitelnamen. Die Einleitung selbst ist komplizierter geschrieben als einige Beiträge und wirft die Frage auf, welche Personen die Zielgruppe der Publikation bilden. Eine Empfehlung dieser Lektüre kann ich deshalb nur unter Vorbehalt aussprechen: Sie ist bereichernd und eignet sich gut für eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik, jedoch kann sie bei interessierten Leser:innen, die sich nicht regelmäßig mit bildungssprachlichen Sammelbänden befassen, eine ambige Leseerfahrung mit sich bringen. „MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“ kann direkt über den transkript Verlag erworben werden und kostet 30 Euro. Mehrdeutigkeit gestalten, Foto: Julika Teubert 2021

  • Issue 1 Sturm | appropriate

    Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 „… warum denn liegt denn die da? …“ Kunstvermittlung und Verantwortung Eva Sturm „Heute, in Zeiten von Flüchtlingskrisen, Terroranschlägen, Präsidenten wie [(…]), Vladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, erstarken rechtspopulistische Parteien in Europa, Brexit und Klimawandel setzt eine neue Welle politischer Kunst ein.“ (Kikol 2018: 48) „Es gibt keine Kunst, die nicht ein sublimer Akt des Widerstandes wäre.“ (Cixous 2018: 5) Was nun kann in einer so gelesenen Situation Kunstvermittlung[1 ] leisten? Was kann Bildungsarbeit – ganz allgemein gefragt – dazu beitragen, dass womöglich nicht nur „sich empört“ wird, sondern wie kann vor allem gedacht und gehandelt werden? Wie können Zusammenhänge erkannt werden? Wie kann man Leid, Verwirrung, Ungerechtigkeit, rassistische Urteile, sichtbare massive Benachteiligungen, sprachlich-real unfaire Zuschreibungen, andauernde patriarchale Vereindeutigungen und gewaltsame Handlungen sehen und aushalten, ohne handlungs-un-fähig zu werden, gleichzeitig die eigene Unzulänglichkeit und Mit-Verantwortung erkennend? Welche Rolle spielt Kunst dabei, wenn man sich in ihrem Anregungshorizont und in ihrem Fragen aufhält? Wie kann man sich zu ihr verhalten? Hier winken Bildungsansprüche. „Es geht um Bildungsarbeit in postnazistischer, postmigrantischer Gesellschaft mit anderen, künstlerisch-kritischen Zugängen.“ (Katja Hoffmann)[2 ] Nicht Selbstberuhigung, sondern Sich-Verwickeln; nicht Komplexitätsreduktion und Dummheit (vgl. Pazzini 2015); nicht Unschuldsgefühle, sondern Verantwortung; nicht Harmonie, sondern kritischer Dissens. Ganz im Gegensatz zu einem solchen Bildungswollen und Kunst-Vermittlungs-Verständnis bemerkte Wolfgang Ullrich an der Universität der Künste Berlin 2018[3 ] skeptisch, Kunstvermittlung sei „betreute Erfahrung“. Dahinter stünde Misstrauen. Die Begegnung zwischen dem Publikum und dem, was gesehen wird, sei darum reglementiert. Ich vermute: Ullrich hat Angst vor der Reduktion der Komplexität von Kunst und deren Verharmlosung durch Vereinfachung und Linearisierung. Es gibt ja einen ähnlichen Verdacht gegenüber Didaktik ganz allgemein. StörDienst Meine Karriere als Kunstvermittlerin begann in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als mich Heiderose Hildebrand [4] fragte, ob ich nicht am Wiener Museum moderner Kunst Vermittlung machen wolle. Ich fand mich wieder in einer Gruppe. Da waren ein Physiker, eine Philosophin, mehrere Künstler/Kunstlehrer-Studentinnen, eine Grundschullehrerin u. a. Wir nannten uns „Kolibri flieg“, wollten die Fantasie fliegen lassen. Aber nachdem wir im Zusammenhang mit einem Leitungswechsel fast aus dem Museum geflogen wären, denn wir „störten“ die Museumsroutine, nannten wir uns in den 90er- Jahren „StörDienst“. Wir gingen davon aus, dass Kunst strukturell stört, und wir wollten das nicht heilen oder beruhigen, sondern Beunruhigungen lassen, eher weiter treiben als stoppen. Wie machten wir das? Wir lernten von Heiderose Hildebrand, dass nur das Sich-Verwickeln, das Von-etwas-angesprochen-Sein für den jeweiligen Menschen von Belang wird. Wir nutzten Tools, um von herkömmlichen Bewertungskriterien (… das kann ich auch … das ist keine Kunst …) abzulenken. Wir sagten zum Beispiel: „Nimm diesen Geschmack im Mund (zum Beispiel eine Zitrone) wahr und suche eine künstlerische Arbeit hier im Museum, die dem entspricht, was du schmeckst, denkst, erinnerst.“ Wir hörten zu und zwangen die anderen, auch zuzuhören. Wir diskutierten, nahmen Gegenpositionen ein, berichteten davon, was professionelle Sprecher:innen dazu gesagt hatten, zitierten die Künstler:innen, logen, deckten unser eigenes Sprechen auf, zitierten Verschiedenes und ließen nicht in Ruhe. Manche Lehrer:innen waren unzufrieden. Wir zeichneten, aßen, bauten, verrätselten, machten Musik und Geräusche, kostümierten etc., hinterließen Spuren und räumten alles wieder weg. Wir lasen, anders gesagt, das Museum und all seine Ausstellungen gegen den Strich, durchkreuzten unhinterfragte Ordnungssysteme. Manche Künstler:innen mochten das auch nicht. Verdacht auf Simplifizierung. Was sich hier zeigt: Es gibt einen Markt der Diskurse. Anders gesagt, es gibt legitimes und illegitimes Sprechen, es gibt Diskurse, die wertvoller und teurer sind als andere. Laiendiskurse sind im Grunde genommen zwar erlaubt, aber leise und wenig aufzeichnungswürdig. Aber da gab es auf der anderen Seite auch Kunst, die uns Kunstvermittler:innen widerstrebte. Zum Beispiel diese: John de Andreas „Woman on Bed“ von 1974. Ich zeige kein Bild. Ich bitte stattdessen, das Imaginäre aufzurufen. Zu sehen war/ist: Eine nackte Schöne, schlafend, etwas über 20 Jahre alt, mit kleinen Brüsten und schwarzem Haar, sie liegt auf einer Matratze mit weißem Bettlaken auf dem Museumsboden, allen Blicken ausgeliefert. Wir Kunstvermittler:innen saßen auf dem Boden vor der Skulptur, zerbrachen uns zu zweit den Kopf, wie wir mit dieser Nackten umgehen sollten, und erzählten uns von John de Andrea, da kam ein etwa vierjähriges Mädchen in den Raum gelaufen, sah die Figur und rief, ohne zu stoppen: „Warum denn liegt denn die da? Warum ist die nicht zugedeckt?“ Und weg war sie. Es folgte der lächelnde, kopfschüttelnde Vater. Das kleine Mädchen hatte uns etwas gezeigt. Sie wurde zu unserer Vermittlerin, genauer gesagt, sie nahm die Position der Vermittlerin ein, ließ uns sitzen in unserem Staunen, vor der entblößten Liegenden. Hélèn Cixous schreibt: „Wenn man die Frau sucht, kann man sich ziemlich sicher sein, sie immer in derselben Position zu finden, nämlich im Bett. Sie ist im Bett […] oder sie ist im ,er‘. Sie liegt und sie schläft: sie ist ,gestreckt‘ […]. Dornröschen wird aus diesem Bett durch den Mann herausgeholt, denn die Frauen wachen nicht von allein auf, wie ihr wißt, dafür sind die Männer nötig.“ (Cixous 1977: 19) Alterität und Verantwortung Welche Verantwortung haben also Kunstvermittler:innen? Welche haben Künstler:innen? Kann man danach fragen? Und was heißt das überhaupt: Verantwortung „haben“? Was meint „Empört euch!“? Im ersten Zitat dieses Textes traten diese Herren auf: Vladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan sowie generell rechtspopulistische Parteien in Europa – sie alle fühlen sich bestimmt verantwortlich, etwa für „das russische Volk“, „das Türkische“ etc. Die Anhänger der AfD in Deutschland singen gerne die deutsche Nationalhymne und schließen damit alle anderen aus, das heißt, sie stellen sich her als Nation, als Identität. „Die notwendige Grundlage für diese Konzeptionen von Verantwortung bildet ein spezifisches Verständnis eines autonomen und in diesem Sinne handlungsfähigen sowie zurechenbaren Subjekts. […]) Freiheit, Handlungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit stehen damit in einem intrinsischen Zusammenhang. Sie werden nicht nur vorausgesetzt, sondern zugleich dem Verantwortungsbegriff unterstellt.“ (Flatscher 2016) Das ist genau das Gegenteil des Verständnisses von Verantwortung, wie es Emmanuel Levinas denkt. Kein souveränes Subjekt, sondern im Gegenteil: Der Prozess der Subjektkonstitution wird aus alteritätsethischer Perspektive verstanden. Verantwortung wird zu der „wesentlichen, primären und grundlegenden Struktur der Subjektivität“ (Levinas 1992: 72). Die „Alterität, von der bei Levinas in Jenseits des Seins die Rede ist, lässt sich nicht als ein wie auch immer geartetes Gegenüber des Subjekts begreifen; sie erscheint nicht in den herkömmlichen Kategorien von Raum und Zeit, sondern widersetzt sich jeder möglichen Verortung sowie Datierung. Die Andersheit bestimmt – vor jeder bewussten Konstitutionsleistung oder generösen Aufnahme – das erst zu konstituierende Subjekt. Das Andere tritt somit nicht in einem zweiten Schritt zu einem bereits etablierten Subjekt hinzu, sondern hat es je schon heimgesucht.“ (Flatscher 2016) Das Andere ist so gesehen nicht nur die Voraussetzung jeden Subjekts, wir sind auch für das Verhältnis dazu und für das Andere verantwortlich. „In diesem Zusammenhang spricht Levinas von einem konstitutiven „Paradox der Verantwortung“ (Levinas 1998: 46), das darin besteht, dass das Subjekt in die Verantwortung genommen wird, ohne dass diese Verantwortung in ihm seinen Anfang findet. Diese „vor ursprüngliche“ Verantwortung wird daher auch niemals abzugelten sein, sondern sie „wächst“– wie Levinas nachdrücklich betont – „in dem Maße, in dem sie übernommen wird“ (Levinas 1998: 44). Jacques Derrida hat mit diesem Verständnis von Verantwortung weiter gedacht. Er wendet sich dem französischen Verb „répondre“ zu, das sowohl mit „antworten“ also auch „verantworten“ ins Deutsche übertragen werden kann. Matthias Flatscher denkt mit Derrida noch weiter: „Jede Inanspruchnahme der Sprache antwortet demnach bereits auf diskursive Vorgaben […]. Stets trägt oder übernimmt man Verantwortung für- (sich selbst, seine Handlungen, seinen Diskurs) und verantwortet sich vor -, indem man zunächst ant- wortet (jemanden auf-).“ (Flatscher 2016) Ein zentraler Begriff, an dem sich das Für-den-anderen-verantwortlich-Sein verdichtet, ist das „Antlitz“. Mit Bezug auf Levinas heißt es: „Diese äußerliche und ob der Nacktheit sichtbare Hilflosigkeit, die ein Gesicht ausdrückt, fordert mich auf zu helfen, nicht nur wenn es um das Antlitz geht, sondern wenn jemand hilflos auf der Straße liegt oder wenn ich die medialen Bilder des Fernsehens sehe. So sehen sich viele, auch Politiker angesichts der Bilder von erniedrigten und gequälten Menschen, plötzlich genötigt, diesen Menschen zu helfen, auch wenn es nicht unbedingt in ihr politisches Kalkül passt.“ https://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/verantwortung-fuer-fluechtlinge/ (Zugriff 10.3.2021) „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden“, sagte Levinas einmal. Wenn ich also frage, welche Verantwortung haben Kunstvermittler:innen, dann kann ich mit Levinas zumindest dies antworten: Der Andere ist unendlich fremd und ein immerwährendes Rätsel. Der Andere ist immer schon da. Die Verantwortung für mich und mein Handeln ist unendlich. Die Verantwortung für den Anderen ist unendlich. Ich bin kein souveränes Subjekt. Die Diskussionen und Verhandlungen, die Fragen und (Ver-)Antwort(ung)en müssen weitergehen. Kunst und die Gabe der Bildung Als Kunstvermittlerin fühle ich mich zu dem berufen, zu tun, was ich kann: mit Kunst zu arbeiten und Bildungsprozesse anzustoßen. Beides ist unvorhersehbar, nicht kontrollierbar, unendlich. Und darum eine ständige Infragestellung. In jedem Fall bin ich mit Alterität konfrontiert, bin gefordert, überfordert. Dieses Foto zum Beispiel. Ich betrachte es, zeige es, setze es der Frauenfigur des hyperrealistischen Künstlers John de Andrea gegenüber. Ich zeige das Bild an dieser Stelle (doch). Und ich antworte damit auf eine sich mir stellende Frage, ohne je die letztgültige Antwort zu bekommen: ob ich das „darf“. Oder: Bildung zum Beispiel. Die versuche ich hiermit zu initiieren, nicht wissend, ob das Quatsch ist, irgendwohin führt oder nur „Meins“ ist. Über Bildung habe ich bei dem Erziehungswissenschaftler Michael Wimmer, der sich auf Derrida und dessen Denken der Dekonstruktion bezieht, gelernt, dass diese eine „unmögliche[5] Auf-Gabe der Pädagogik“ (Wimmer 1996: 149) sei, weil man über Bildung niemals verfügen kann. Bildung ist eine Gabe, die da ist oder nicht: „Eine Gabe kann es […] nur geben, wenn es keine Reziprozität gibt, keinen Tausch, keine Gegengabe, keine Schuld als aufgeschobene Rückgabe.“ „alle Modalitäten der Intentionalität zerstören […] die Gabe.“ (Wimmer 1996: 154) Nicht Wissen wird im Bildungsprozess gegeben. Dies wird nur vermittelt. Denn Wissen allein „ist fieberfrei und leblos“ (Cixous 2017: 35), so Cixous. Gegeben wird die Gabe selbst als das Unmögliche und mit ihr das Selbst-denken-und-erkennen-Wollen, der Wille zum Wissen vielleicht. Und dieses Wissen beinhaltet auch das Wissen um die Notwendigkeit und die Übernahme von Ver-Antwortung, in der alles auf dem Spiel steht, vor allem das Subjekt selbst mit ihrem/seinem konstitutiven blinden Fleck.   Eva Sturm, Prof., Mag., Dr., geb. in Österreich, Kunstpädagogin, Museumspädagogin und Germanistin. Lehrte 1998–2006 an der Universität Hamburg. Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin, Oldenburg und Erfurt 2003–2008. 2009–2015 Professur für Kunst-Vermittlung-Bildung in Oldenburg. Habilitation 2009. Lebt in Berlin. Mehrere Buchpublikationen. Arbeitsschwerpunkte: Sprechen über Kunst; (künstlerische) Kunstvermittlung; künstlerisch-publikumsintegrative Projekte; Von Kunst aus / Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Derzeit freiberufliche Kunstvermittlerin in Theorie und Praxis. Literatur Cixous, Hélène, 1977. Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Berlin: merve Cixous, Hélène, 2017. Gespräch mit dem Esel. Blind schreiben. Wien: zaglossus Cixous Hélène, 2018. Schriften zur Kunst. Berlin: Matthes & Seitz Flatscher, Matthias, 2016. Was heißt Verantwortung? Zum alteritätsethischen Ansatz von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. https://www.praktische-philosophie.org/flatscher-2016.html (Zugriff 10.03.2021) Freud, Sigmund, 1968. Notiz über den Wunderblock. In: ders.: Gesammelte Werke, 14 Bd. (Werke aus den Jahren 1925–1931 ). Frankfurt a. M.: S. Fischer Kikol, Larissa, 2019. Nett geknebelt. Zur Schalldichte der ‚L’art pour l’art politique’ . In: Kunstforum International Bd. 254, Juni/Juli 2019, S. 46–61 Levinas, Emmanuel, 1998. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Karl Alber Pazzini, Karl-Josef, 2015. Bildung vor Bildern. Kunst • Pädagogik • Psychoanalyse. Bielefeld: transcript Wimmer, Michael, 1996. Die Gabe der Bildung. Überlegungen zum Verhältnis von Singularität und Gerechtigkeit im Bildungsgedanken. In: Maschelein, Jan, Wimmer, Michael: Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, S. 127–162. Sankt Augustin: Academia Im Text zitiert: https://www.hoheluft-magazin.de/2015/11/verantwortung-fuer-fluechtlinge/ (Zugriff 10.03.2021) John de Andrea: Woman on Bed, 1974 © Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien Valie Export: Aktionshose, Genitalpanik, 1969. Selbstinszenierung ©VALIE EXPORT, Bildrecht Wien, 2021, Foto: Peter Hassmann Courtesy VALIE EXPORT Endnoten [1] Kunstvermittlung als Arbeiten/Sprechen im Zusammenhang mit/über/in Folge von Kunst, meist Laienkunstvermittlung (zum Beispiel Führungen, Gespräche, Aktionen, performative Vorgangsweisen etc.) [Zurück zur Textstelle ] [2] E-Mail an die Autorin 2018 [Zurück zur Textstelle ] [3] „Gegen die Entmündigung von Kunst und Pädagogik“. Universität der Künste Berlin 2018 [Zurück zur Textstelle ] [4] Heiderose Hildebrand ist eine der wichtigsten Figuren in der österreichischen Vermittlungsszene. [Zurück zur Textstelle ] [5] Auch Sigmund Freud sprach von den drei „unmöglichen Berufen“, denen nicht Erfolg, sondern der ungenügende Erfolg gewiss ist: dem Regieren, dem Analysieren und dem Lehren (vgl. Freud 1968: 94). [Zurück zur Textstelle ] Anker 4 Anker 2 Anker 5 Anker 3 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12

  • Issue 2 Kastner, Susemichel | appropriate

    Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 Identitätspolitiken: Im Gespräch mit Lea Susemichel und Jens Kastner Daphne Schüttkemper, Nano Bramkamp, Jonna Sophie Baumann Lea Susemichel, Foto: Jens Kastner Jens Kastner, Foto: privat Identitätspolitiken sind nicht nur in gegenwärtigen linken Diskursen ein wichtiges Streitthema, auch historisch reichen sie von der Arbeiter:innenbewegung über die verschiedenen Formen des Feminismus bis zu den Schwarzen Befreiungsbewegungen. Lea Susemichel und Jens Kastner schreiben darüber in ihrem Buch „Identitätspolitiken – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken” und erläutern das partizipatorische Potenzial und die Problematiken diverser sozialpolitischer Bewegungen. Diese Bewegungen, so unterschiedlich sie sein mögen, eint, dass sie sich gegen Diskriminierung auf Basis ihrer Identität wehren. Was ist eigentlich Identität? Identität kann sehr unterschiedlich definiert werden, zum Beispiel aus psychologischen, soziologischen oder philosophischen Blickwinkeln, letztendlich wird Identität jedoch fast immer individualpsychologisch gefasst. Lea Susemichel hebt hervor, dass traditionell vor allem der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung betont und selten die Identität einer kollektiven Gruppe betrachtet wurde. „Die großen Probleme, die die entsprechenden Theoretiker:innen umgetrieben haben, sind natürlich Kohärenz und Kontinuität, also wie kann ein Individuum eine gleichbleibende Identität haben, wo doch so offensichtlich ist, dass es mehr Verschiedenes als Gleiches gibt im Laufe eines Lebens. Wie lässt sich dennoch von individueller Identität sprechen?” Identität zeichnet sich besonders durch ihren fluiden Charakter aus, es handelt sich also um einen Prozess, an dem permanent gearbeitet wird. Das gilt auch für kollektive Identitäten. Linke Identitätspolitiken zeichnet aus, dass sie sich des konstruierten Charakters von Identität bewusst sind. Identität muss zunächst einmal hergestellt bzw. muss praktisch erzeugt werden. Sie versteht sich nicht von selbst und ist auch nicht in einem Wesen eines ,Volkes’ verankert. „Sie ist eben nichts Natürliches”, so Jens Kastner. Identität birgt auch verschiedene Ausschlussmechanismen. Mit jeder Identitätsbildung geht das sogenannte Othering einher: Es bedarf immer eines konstitutiven Außen, eines Anderen, von dem sich abgegrenzt werden muss, um sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Othering ist auch der Punkt, der Identität letztendlich so gefährlich macht, da sie immer abschließend ist und ein Anderes benötigt, um sich der eigenen Grenze zu versichern. Wie unterscheidet sich Identitätspolitik von anderen Politiken? Die große Identität, die Politik ansprechen will, ist das Volk. „Politik bezieht sich immer auf das Volk, das sie meint vertreten zu können. Das ist sozusagen das universelle Charakteristikum von Politik schlechthin und deshalb wird das nicht Identitätspolitik genannt“, antwortet Kastner. Selbstbestimmt hervorgebracht wurde der Begriff Identitätspolitik erstmals vom Combahee River Collective, einem Kollektiv schwarzer, lesbischer Feministinnen, die den Diskurs um Mehrfachunterdrückung identitätspolitisch prägten. Sie wiesen in ihrem Kampf eben nicht auf etwas Universelles hin, sondern auf etwas ganz Spezifisches, Partikulares, was das Universelle nicht beinhaltet, berücksichtigt oder adressiert. Der Ursprung linker Identitätspolitiken liegt also meist in der Reaktion auf Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen, um die eigenen Rechte einzuklagen. Und da sei auch der Knackpunkt, sagt Susemichel: „Es gibt eben das Privileg, sich als Universelles, Allgemeines setzen zu können, das diese Gruppen, die als identitätspolitische Gruppen gelabelt werden, nicht besitzen. Aber natürlich ist die Politik des viel zitierten hetero, alten, weißen Mannes auch Identitätspolitik.” Die Annahme, es gebe „auf der einen Seite den Kampf für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit und auf der anderen Seite eben diese identitätspolitischen Pille-Palle-Kämpfe”, wird laut Susemichel auch im gegenwärtigen Diskurs gerne reproduziert. Susemichels und Kastners Ansatz ist es auch, u. a. aufzuzeigen, dass genau dieser Unterschied nicht so groß ist; letztendlich geht es immer um einen ganz singulären Standpunkt, von dem aus für Rechte und Interessen eingetreten wird. Rechte vs. linke Identitätspolitik Wie unterscheiden sich dann linke von rechten Identitätspolitiken? Das naheliegendste Beispiel ist die ultrarechte Identitäre Bewegung, die Konzepte wie den Ethnopluralismus vertritt, laut dem Kulturen und Ethnien unter sich bleiben sollten und vor einem „großen Austausch“ gewarnt wird. Die Identitäre Bewegung naturalisiert und essenzialisiert Identität und ist sich im Gegensatz zu linken Identitätspolitiken nicht des Konstruktionscharakters von Identität bewusst oder leugnet ihn. Essenzialisierung liegt vor, wenn ein Wesensmerkmal einer Gruppe als elementar angesehen wird, um zu der Gruppe dazuzugehören. Die Abgrenzung zu dem Anderen erfolgt aggressiv und offensiv. Bei rechter Identitätspolitik geht es laut Kastner und Susemichel um die Sicherung von eigenen Privilegien und nicht um partizipatorische Ziele. Linke Identitätspolitiken dagegen sind sehr mit dem Gedanken der Partizipation verknüpft und zielen auf eine Ausweitung der Demokratie ab. „Wir verteidigen ja auch nicht jede Form von linker Identitätspolitik,” so Susemichel, „sondern versuchen zu analysieren, wann Identitätspolitik emanzipatorisch ist. Wir sind überzeugt, dass sie das sehr oft ist und dass Identitätspolitik extrem wichtig war in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir weisen aber trotzdem auf die Gefahren hin, zum Beispiel, dass sie ins Essenzialistische kippt oder zu partikularistisch wird, sodass am Ende tatsächlich kein kollektiver Kampf mehr möglich ist.” Ist das Ziel von Identitätspolitik, sich selbst zu überwinden? In der Theoriegeschichte gibt es häufig das Ziel, Identität aufzulösen bzw. ihre Nichtexistenz zu behaupten. Damit würden es sich die Theoretiker:innen aber zu einfach machen, so Kastner. Kollektive Identitäten entstehen meist durch gewaltsame Fremdzuschreibungen, auf die mit Rückbezug auf die zugeschriebene Identität reagiert wird. Daher muss die zugeschriebene Identität erst mal affirmiert werden, um sie langfristig abschaffen zu können. Dieses Motiv gibt es schon, seitdem es Identitätspolitiken von links gibt. „Diese Ambivalenz ist letztlich auch das, was emanzipatorische Identitätspolitik im Kern ausmacht”, erklärt Susemichel. „Es ist immer diese Ambivalenz von Affirmation und Ablehnung von Identität, weil sie immer auch mit Abwertung, Leid und Unrechtserfahrungen einhergeht, weil sie der Grund für Diskriminierung ist.” Ist also eine positive Bezugnahme auf Identität, wie zum Beispiel auf die konstruierte Kategorie Race, legitim, um sie zu überwinden? Ein gewisser strategischer Essenzialismus nach Gayatri Chakravorty Spivak sei „alternativlos”, so Kastner. Historisch sei die soziale Gleichheit immer größer geworden, wenn sich Menschen auf ihre spezifischen Diskriminierungs- und Ausbeutungsformen bezogen hätten, wie auch bei der Black-Lives-Matter-Bewegung. Strategischer Essenzialismus am Beispiel der Black-Lives-Matter-Bewegung ist die politisch motivierte und kalkulierte Bejahung eines gruppenspezifischen Wesensmerkmals wie der Kategorie Race. Dabei ist der Bewegung sehr stark bewusst, dass Identität und Race konstruiert sind. Warum hat der Begriff der Identitätspolitik so eine polarisierende und teils spaltende Wirkung, auch innerhalb linker Politik? In den verschiedenen politischen Diskursen wird oft die Meinung vertreten, Identitätspolitik verhindere den kollektiven Kampf für soziale Gerechtigkeit. Ihr wird die Schuld dafür gegeben, dass linke und sozialdemokratische Politik so geschwächt ist, da sie den kollektiven Kampf auf verschiedene „kleine” Kämpfe aufteile. Susemichel findet diesen politischen Tenor falsch und bezeichnet es letztendlich als ein Manöver, das davon ablenken will, dass es die Sozialdemokratie selbst ist, die dafür gesorgt hat, dass sie dem Untergang geweiht ist, einfach durch die neoliberale Politik, die sie in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Zudem sei es selten der Fall gewesen, dass jemand die eigene Politik Identitätspolitik genannt habe, das sei fast immer eine Zuschreibung von außen gewesen. Auch in Bezug auf sogenannte Political Correctness und „Sprachverbote” (Sahra Wagenknecht) wird ein Missverständnis geradezu geschürt, meint Kastner. „Als gäbe es Leute, die nur ein Gendersternchen wollen” und keine tieferen, beispielsweise feministischen, politischen Interessen hätten. Auch seien Identitätspolitiken „keine ,Luxusprobleme’, es sind im Gegenteil genau die Leute, die nicht den Luxus hatten, sich nicht um solche Sachen zu kümmern, die versucht haben, aus ihrer spezifischen Situation heraus politisch zu agieren.” Kulturelle Aneignung Genauso ist es mit Vorwürfen um den Diskurs der kulturellen Aneignung. Susemichel plädiert dafür, sich einzelne Fälle genau und individuell daraufhin anzuschauen, ab wann es eine Aneignung und ab wann nur eine solidarische Geste ist. Grundsätzlich solle „zwischen kultureller Aneignung und kultureller Ausbeutung unterschieden werden.” Ihrer Meinung nach macht es einen enormen Unterschied, ob ein großes Modelabel indigene Muster verwendet, um Kleidung für Hunderte Euros zu verkaufen, ohne eine Gewinnbeteiligung an die eigentlichen Eigentümer:innen auszuzahlen, oder ob jemand als subkulturelle Geste einen sogenannten Irokesenschnitt trägt. Ebenfalls problematisch sei die Annahme, es gebe so etwas wie eine kulturelle Reinheit. Kultur sei immer etwas Hybrides und beeinflusse sich gegenseitig. Doch wie Jens Kastner und Lea Susemichel schreiben: So emanzipatorisch sie in der Historie auch waren, „Identitätspolitiken sind erst der Anfang.” Lea Susemichel ist leitende Redakteurin des feministischen Magazins an.schläge und arbeitet als Journalistin, Lehrende und Vortragende in Wien. Jens Kastner ist freier Autor, Soziologe, Kunsthistoriker und Dozent an der Akademie der bildenden Künste Wien.

  • Issue 6 Editorial | appropriate!

    Editorial von Lena Götzinger, Benno Hauswaldt Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Editorial Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn ISSUE 6: Antifaschismus Bei der Vorbereitung zu dieser Ausgabe stießen wir auf eine Faschismusanalyse, die dessen Kern als ein Glaubenssystem beschreibt, das sich in folgenden Überzeugungen niederschlägt: Die ethnischen Mehrheitsgruppen sind ‚Opfer‘ von Einwanderung und Multikulturalismus; die Errungenschaften des Feminismus sollten rückgängig gemacht werden; […] Wissenschaft, Universitäten und Medien sind nicht vertrauenswürdig; die Nationen haben die Orientierung verloren und müssen ihre frühere ‚Größe‘ wiedererlangen; ein nicht näher bestimmtes katastrophales Ereignis wird die Dinge wieder ins Lot bringen. Jeder Faschist glaubt all das und mehr; jeder rechtspopulistische Wähler glaubt mittlerweile einen Teil davon; der autoritäre rechte Politiker appelliert in verschlüsselter Form an einige dieser Überzeugungen, um Vorteil daraus zu schlagen. (Mason 2022: 12–13) Inwieweit Politiker:innen wirklich antifaschistisch gesinnt sind, kann man laut dem Autor daran erkennen, ob sie bereit sind, die oben genannten demokratiefeindlichen Glaubensinhalte in Wort und Tat zu bekämpfen. Wenn aber die Politik beginnt, ihr Bekenntnis zu Vielfalt, Menschenrechten und Toleranz, gegen Antisemitismus und Rassismus, sowie das Recht auf ein Leben in Freiheit ohne Angst vor Diskriminierung oder Gewalt zu relativieren, dann öffnet sie die Tore für einen modernen Faschismus, der sich autoritärer, populistischer und antidemokratischer Methoden bedient. Sein Ziel ist es, die Demokratie zu zerstören. Antifaschismus ist deshalb für die demokratische Gesellschaft unverzichtbar. Issue 6 von appropriate! beschäftigt sich mit der Rolle, die Kunst zur Stärkung des Kampfes gegen Faschismus spielen kann. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich durch dialogische, aktivistische und partizipatorische Initiativen der Kunst und Vermittlung den antidemokratischen Entwicklungen in der aktuellen Politik etwas entgegensetzen lässt. Der Künstler Dmitry Vilensky setzt sich in seinem Gastbeitrag mit der komplexen Frage nach den richtigen Strategien im Kampf gegen den Faschismus auseinander. Ein Problem identifiziert er darin, dass Faschismus einer permanenten Wandlung unterzogen ist. So bezieht er sich etwa auf die paradoxe Situation in Russland, wo faschistische Ideen zu einem historischen Zeitpunkt – drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Bevölkerung populär werden, obwohl diese sich selbst niemals als faschistisch begreifen würde. Er schreibt: „The entire meaning of the war in Soviet education was as an anti-fascist struggle, where the Russians are on the side of the good and the fascists are the enemy. So there’s this odd business, which I call in the book ‘schizo-fascism’, where people who are themselves unambiguously fascists refer to others as fascists.“ In ihrem Gastbeitrag „Viral gehen und vergehen“ untersucht die Kunstwissenschaftlerin Elena Korowin die dynamische und oft flüchtige Natur von Inhalten in den sozialen Medien im Kontext des Ukraine-Krieges. Dabei geht sie auf die Vergänglichkeit von Memes und die Darstellung von Kriegen sowie die vereinfachte Darstellung von Helden- und Feindbildern auf Instagram und TikTok ein, die verdeutlichen, dass komplexere und reflektierte Gedanken in der viralen Welt oft keinen Platz finden. Ein wichtiges Grundmerkmal des Faschismus ist der Revisionismus. Durch ihn wird die Geschichte des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs verfälscht und Geschichtswissenschaft diskreditiert. Um dem Revisionismus in Deutschland entgegenzuwirken und die Erinnerungskultur zu demokratisieren, widmen sich zahlreiche zivilgesellschaftliche und künstlerische Projekte der Aufarbeitung der NS-Zeit. Linn Bergmann war Teil eines solchen Projektes, das 2021 ins Leben gerufen wurde, um die Geschichte des NS-Zwangsarbeitslagers im Rehburger Forst wissenschaftlich und künstlerisch aufzuarbeiten und in Form einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In ihrem Text „Fossilis – durch Graben gewonnen“ berichtet sie über ihre Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum und reflektiert Fragen nach der persönlichen Verantwortung in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Daphne Schüttkemper stellt in ihrem Praxisbericht das Kunst-projekt The Arts of Resistance vor, an dem Studierende der Kunst-vermittlung der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig mitwirkten. Anhand von Erkennungskriterien des Ur-Faschismus von Umberto Eco, Spuren der NS-Zeit im Braunschweiger Stadtbild und Aktivitäten von Neonazi-Gruppen wurde im Rahmen des Projekts mit Braunschweiger Schulen eine kollektive Skulptur gegen Faschismus und für Demokratie entwickelt. Um Faschismus und Rechtsextremismus bekämpfen zu können, braucht es auch eine geeinte und solidarische politische Linke. Diese ist aktuell jedoch gespaltener denn je, besonders in Bezug auf den Nahostkonflikt und die damit verbundenen Terroranschläge und Kriege. Im Kunst- und Kulturbetrieb manifestiert sich die polarisierte Debatte seit dem 7. Oktober 2023 in Form von offenen Briefen an Institutionen, Veranstaltungsabsagen, Ausladungen und Anfeindungen. Im Zentrum des Interviews von Lena Götzinger mit der Politologin, Publizistin und Antirassismus-Trainerin Saba-Nur Cheema stehen die historischen Hintergründe dieser Entwicklungen, der muslimisch-jüdische Dialog, persönliche Boykott-Erfahrungen und die Wichtigkeit multiperspektivischer Diskussionsräume. Über seine aktuellen Projekte, beispielsweise im NS-Dokumentationszentrum in München oder den Esch Clinics in Luxemburg, spricht der aus der Architektur kommende Markus Miessen im Interview mit Benno Hauswaldt. Darüber hinaus werden Theorien und Methoden der Partizipation, des Eingeladenwerdens und des Handelns ohne Mandat thematisiert, insbesondere die Frage, inwieweit an eine Verbindung von Agonismus und Teilhabe gedacht werden muss, um andere Strukturen, Räume und Öffentlichkeiten zu schaffen. Lena Götzinger und Benno Hauswaldt führten auch ein Gespräch mit der Künstlerin Henrike Naumann. Sie setzt sich künstlerisch mit historischen Inhalten und Ästhetiken des Nationalsozialismus und deren Weiterführung durch rechte Terrorgruppen, wie etwa den NSU, auseinander. Indem sie gefundene Objekte und dokumentarische Bezüge verändert, kombiniert und rekontextualisiert, sollen Geschichte und Gegenwart neu interpretiert und sichtbar gemacht werden. Über diesen Ansatz verleiht sie Themen ein Forum, das Rezipierende als Teil der gesamtgesellschaftlichen Situation mit in die Verantwortung nimmt, etwa für die Bekämpfung und Aufklärung rechten Terrors. Moriz Hertel rezensiert das Buch Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen von Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel. Dabei spannt er einen Bogen von polarisierter Streitkultur und Kompromissbereitschaft bis hin zur Aktion „Ausländer raus“ des Performancekünstlers Christoph Schlingensief im Jahr 2000 in Wien. Nastasia Schmidt rezensiert Kübra Gümüşays Buch Sprache und Sein , in dem die Autorin darstellt, wie strukturelle Diskriminierungsformen, darunter Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Ableismus, sprachlich in unserer Gesellschaft verankert und unterstützt werden. Die Beiträge in diesem Issue zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven die vermittelnden und verbindenden Potenziale von Kunst, Kultur und Aktivismus auf, die dazu beitragen sollen, dass die Gesellschaft in einem breiteren Zusammenhalt als bisher für eine vielstimmige und resiliente Demokratie einsteht. Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn Redaktion des Issue 6: Antifaschismus Literatur Mason, Paul, 2022. Faschismus. Und wie man ihn stoppt. Berlin: Suhrkamp Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. Martin Krenn , PhD, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 01

  • „… this has nothing to do with art …”

    Araba Evelyn Johnston-Arthur Iss ue 4│ Machtverhalten 1 Anker 1 „… this has nothing to do with art …” Notizen zu counter-amnesischen Praktiken und der Kunst der Kritik (Refugee Protest Camp Vienna-Bewegung) Araba Evelyn Johnston-Arthur Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 „I am interested in the, performativity' of memory. I am thinking about the quotidian of trauma alongside of the restoration and Magic of water cycles. partnering with my meditation on healing, dance and media as a physical tap into embodying memory.” Nia Love, gl(host): underCURRENT[1 ] „‚Glücklich ist wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.‘ Man könnte dies als die heimliche Hymne des Österreichers bezeichnen. Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren: nur Bewusstes kann verändert werden. Unbewusstes natürlich nicht.” Erwin Ringel, 1995. Die österreichische Seele: Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion, S 13 „Was man in einer Gesellschaft nicht wissen darf, weil es die Ausübung von Macht stört, muss unbewusst gemacht werden. […] Diese Produktion von Unbewusstsein muss gesellschaftlich organisiert werden, und der Ort, wo sie stattfindet, ist nicht so sehr die Familie, als jene Institutionen, die das öffentliche Leben regulieren.“ Mario Erdheim, 1982. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, S 38 „[…] die zwanghafte ewige Wiederholung der ersten Begegnung mit dem Fremden, ist ein Prozess, den ich als ,Rassismusamnesie‘ bezeichnet habe, die anhaltende Dialektik von rassistischer moralischer Panik und der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen (vgl. El-Tayeb 2015). In diesem aktiven Prozess des Vergessens werden Ereignisse und Bewegungen bedeutungslos gemacht, indem sie als vereinzelte Phänomene klassifiziert werden – ohne Kontext, ohne Ursache und Wirkung, kurz: ohne Bezug und damit ohne Ort im kollektiven Gedächtnis.“ Fatima El-Tayeb, 2016. Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der post-migrantischen Gesellschaft, S 15 „Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ Michel Foucault, 1992, Was ist Kritik?, S 15 „,You are only focusing on just leave […] We are … I told you we are going to leave […] It doesn’t mean… we are the refugees we are garbage […] We are ready we are going to leave […] for the human rights we are disappointed […] we had a lot of expectations … maybe you give … one … statement to the minister of interior what’s wrong with these people why are they here, what is the problem. You just focusing: empty this building, empty church, empty Kloster, empty Austria … for fucking refugees, they are not deserv[ing] to live here in this country.’” Einer der hier bewusst anonym gehaltenen Aktivisten des Refugee Protest Camp Vienna bei der Konfrontation mit dem Ultimatum der Rektorin der Akademie der bildenden Künste. Meine Videotranskription aus: Ljubomir Bratić: Archiv der Migration, Wien 2013 „The animation of thought by those who have their humanity questioned presents an ontological scandal.” Tendayi Sithole, 2020. The Black Register, S 1 Während vom Gebäude der Akademie der bildenden Künste Wien am Schillerplatz deutlich zu lesen noch immer das Transparent: „Stop Deportations!“ hing, stellte die damalige Rektorin Eva Blimlinger den Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna in der Aula der Akademie ein Ultimatum. Nach der polizeilichen Räumung des zeltlichen Refugee Protest Camp im Sigmund- Freud-Park im Dezember 2012, einem Hungerstreik in der gegenüberliegenden Votivkirche, der Verlegung des Protestes in das Servitenkloster, Abschiebungen und Festnahmen wegen des Verdachts der Schlepperei, begleitet von einer Kriminalisierungskampagne, hatten die Aktivist:innen der Bewegung im Oktober 2013 schließlich ihre Hoffnung in die praktische Solidarität der Akademie der bildenden Künste gesetzt. Am 29. Oktober nahmen Refugeeaktivist:innen den Raum der Aula ein. Passenderweise im Anschluss an die in der Akademie veranstalteten Diskussionsveranstaltung „Art, Activism, Academy“. In seinem zur Zeit dieser Akademieeinnahme entstandenen kurzen Text „Wie wird die Akademie der bildenden Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen?“[2 ] kommentiert der Archivar des Archivs der Migration Ljubomir Bratić (2013) diesen kritischen historischen Moment in der (vielfach noch zu schreibenden) marginalisierten widerständigen Bewegungsgeschichte Österreichs folgendermaßen: „Ein neuer Raum ist eingenommen und dieser scheint auch gehalten zu werden. Die Einnahme erfolgte durch diejenigen, die als Gruppe per definitionem in unseren Gesellschaften kein Recht auf Raum (egal welchen!) haben. Darum haben sie den Raum, der ihnen aus ihrer Position agierend, zugänglich ist, eigensinnig betreten. Ist dann die Tatsache zufällig, dass sie zuerst eine Kirche und derzeit eine Akademie, zwei sakrale Institutionen – eine der vergangenen Zeiten und [sic!] zweite der moderne – einnahmen? […] Und nun gerade die Akademie der bildenden Künste. Warum die Akademie? [….] Weil dieser Ort als einer der Freiheit gilt. […] KUNST IST FREI!“ „Doch wie“, fragt sich Bratić hier weiter, „steht es mit der Freiheit von Individuen und zwar ganz bestimmten Individuen und Gruppen von Menschen, in unserem Fall von denjenigen, die gezwungenermaßen außerhalb des Kunstfeldes stehen? Das, scheint mir war nie ein breit diskutiertes Thema an dieser Akademie. Vor allem nie eines, das auch zur Konkretisierung der Taten geführt hätte. Mehr noch, es meldet sich derzeit ein starker Zweifel, ob Kunst nicht gerade auf die Rechnung von denjenigen, die eben nicht frei und vor allem nicht gleich sind, ihre Freiheit und Größe in der Öffentlichkeit proklamieren und zelebrieren darf. Wie wird die Akademie der Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen? Mit den Überzähligen, die aus einer in einem rassistischem [sic!] System unmöglichen Position ihre Teilhabe aufbegehren, oder gegen Sie [sic!], als Teil eines breiten polizeylichen Systems, in dem die Akademie die Entfernung der Begehrenden eigenverantwortlich einschaltet. Das ist jetzt der Scheideweg!“ (Bratić 2013) Mit dem Ultimatum, das auf den sofortigen Auszug der Refugeeaktivist:innen pochte, entschied sich die Akademie für Letzteres, das heißt: den Rausschmiss derjenigen, die die hegemoniale Ordnung der Dinge stören und aus einer in einem neokolonialen Migrationsregime unmöglich gemachten Position heraus notwendigerweise aufbegehren. Der November 2013 kann also in vielerlei Hinsicht als folgenschwer erachtet werden, auch für den konkreten Fortbestand der kollektiven, selbst organisierten Protestbewegung des Refugee Protest Camp Vienna. Der Forderung der Rektorin folgend, räumten die Refugeeaktivist:innen die Aula der Akademie der bildenden Künste und zogen nach etwa einer Woche aus. Ungefähr ein Jahr zuvor, am 24. November 2012, hatten sich Refugeeaktivist:innen aus der wohl größten Erstaufnahmestelle für „Asylweber:innen“ in Österreich, dem Flüchtlingslager Traiskirchen, zu einem über 20 Kilometer langen Protestfußmarsch nach Wien aufgemacht. Während das Refugee Protest Camp Vienna hier seinen Anfang fand, stellte der Rausschmiss aus der Akademie („You are focusing on just leave“) ein Ende der kollektiven Raumeinnahme dar. Diese war eine für die selbstbestimmte Sprache der Bewegung zentrale Protestgrammatik. Die Kämpfe jener, deren Existenzen illegalisiert und kriminalisiert werden, jener, die (in Karl Marx’ Sinne)[3 ] als un(selbst)repräsentierbar gelten, jener, die als politische Subjekte undenkbar gemacht werden, für das (in Hannah Arendts Sinne) grundlegende Recht, überhaupt Rechte zu haben, rütteln an Fundamenten des neokolonialen Migrationsregimes. Angela Davis (2015) brachte die fundamentale Bedeutung dieser fortlaufenden Kämpfe im Mai 2015 bei ihrem Solidaritätsbesuch der Refugeeaktivist:innen, die die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg besetzt hatten, folgendermaßen zum Ausdruck: „The refugee movement is the movement of the 21st century. It's the movement that is challenging the effects of global capitalism. It's the movement that is calling for civil rights for all human beings.” Für Sylvia Wynter (2003: 261) stellen jene „refugee/economic migrants stranded outside the gates of the rich countries” neben „the criminalized majority Black and dark-skinned Latino inner-city males now made to man the rapidly expanding prison-industrial complex, together with their female peers – the kicked-about Welfare Moms – with both being part of the ever-expanding global, transracial category of the homeless/the jobless, the semi-jobless, the criminalized drug-offending prison population” heute die post- bzw. neokoloniale Übersetzung von Frantz Fanons Kategorie der kolonisierten „Verdammten dieser Erde“[4 ] des 21. Jahrhunderts dar. Der Übertitel meiner Notizen: “… this has nothing to do with art …” ist ein aus dem Zusammenhang der eingangs beschriebenen Ultimatumszene mit den Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna gerissener Satzfetzen der Rektorin. Ihm stelle ich mit Michel Foucault – Kritik als Kunst der machtkritischen Praxis der Entunterwerfung betrachtend – die Frage entgegen: „What if this has everything to do with art?” Kann die in der Ultimatumszene zitierte Kritik eines Aktivisten des Refugee Protest Camp Vienna („You just focusing: empty this building…“) exemplarisch für eine radikale Kunst der Kritik gelesen werden, die letztlich den Rahmen institutioneller Kritik sprengt, weil sie keinen Raum haben darf? Stellt nicht mit Tendayi Sithole (2020: 1) sprechend „die Animation der Gedanken derjenigen, deren Menschsein in Frage gestellt wird einen ontologischen Skandal dar“? Einen das „hegemoniale script“ so sehr flippenden Skandal, dass es ihn (den Skandal) in Erwin Erdheims und Erwin Ringels Sinne zu verdrängen und unbewusst zu machen gilt: damit der institutionelle Status quo unveränderbar bleibt, mit sich selbst glücklich ist und bleibt. Wie werden hegemoniale Machtverhältnisse durch den Rausschmiss von radikalen Interventionen, Kritiken und Widerständen aus dem (in El-Tayebs Sinne) Ort des kollektiven Gedächtnisses reproduziert? Aspekten von Lisa Yoneyamas Konzept der „counter-amnes(t)ic practices” folgend, stellen meine Überlegungen hier einen Versuch einer counter-amnesischen Praxis dar. Einer Praxis des kritischen Erinnerns, die, wie Yoneyama (2003: 61) es beschreibt, „become[s] urgently relevant to present efforts that seek social and cultural transformations.” Die im Kontext der Gewalt des rassifizierten Kapitalismus systematisch zu problematisierten Anderen Krisenobjekten (Stichwort unter vielen: „Flüchtlingskrise“) Gemachten brechen aus, organisieren sich selbst, sprechen als politische Subjekte zurück, üben Kritik, protestieren, fordern nicht Hilfe, sondern jenseits von plakativen Deklarationen praktische Solidarität ein. Mit dem (in Bratić’ Sinne) eigensinnigen Akt der Einnahme des öffentlichen Raumes und der radikalen Verkörperung des Streiks durch Hungern fand die Refugee Protest Camp Vienna-Bewegung eine Protest- und Widerstandssprache, die eine Auseinandersetzung mit marginalisierter, systemischer Kritik erzwang. Diese Widerstandssprache ist die einer größeren Sans-Papiers-Bewegung, die sich lautstark innerhalb der Festung Europas Räume radikaler Kritik erkämpft hat and weiterhin erkämpft. In Wien waren und sind diese Räume etwa die Straßen, die vom Flüchtlingslager Traiskirchen zum Sigmund-Freud-Park führen (während des kollektiven Protestmarsches), der Sigmund-Freud-Park selbst (mit der Errichtung eines Protestzeltlagers), die Votivkirche, das Servitenkloster und die Aula der Akademie der bildenden Künste Wien (mit deren Einnahme).Trotz polizeilicher Räumung und Rauschmiss haben sich die Kritiken in die multiplen (verdrängten) historischen Gegenwarten dieser Orte eingeschrieben und diese Räume verändert: Hier macht der Sigmund-Freud Park der von Erwin Ringel (2005: 13) als Verdrängungsgesellschaft beschriebenen österreichischen Gesellschaft nicht zuletzt mit der dort 1985 von der Stadt Wien errichtete Parkbenennungstafel alle Ehre. Als „Erinnerungszeichen“ fungierend verdrängt die Tafel die Tatsache, dass Sigmund Freud und seine Familie während des Naziterrorregimes ins Exil gedrängt wurden, um der Naziverfolgung zu entgehen.[5 ] Zum Ende meiner Notizen springend erinnert Bratić‘ Sinn für Eigensinnigkeit mich auch an verdrängte Dimensionen des ontologischen Skandals der Eigensinnigkeit (im Sinne von Sense of Self angesichts der objektisierenden Gewalt des Othering) von Josephine Soliman. Nach dem Tod des Vaters von Josephine Soliman am 21. November 1796 wurde hän[6 ] hänen[7 ] Menschlichkeit beraubt, zu einem exotischen Objekt reduziert und hänen[8 ] präparierten Leichenbruchstücke (später) gemeinsam mit denen von drei anderen schwarzen Menschen – einem kleinen Mädchen, dessen Namen als unbekannt gilt, Pietro Michaele Angiola und Joseph Hammer – im k. k. Hof- und Naturalienkabinett öffentlich zur Schau gestellt. Josephine Soliman protestierte dagegen, kämpfte für die Rückgabe der Leichenbruchstücke hänen[9 ] Vaters und damit für das grundlegende Recht, hän[10 ] begraben zu können. In diesem Sinne eigen-sinnig, schließe ich mit Jin Haritaworns (2008: 9) Gedanken: „,Eigen-Sinn’. Literally translated as ,sense of self’, its composite means ,stubbornness’ or ,unruliness’. This evokes what is at stake in inventing ourselves from the ashes of multiple, and repeated, onslaughts of pathologisation.” Araba Evelyn Johnston-Arthur ist Mitbegründerin von Pamoja. Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora und der Recherchegruppe zu Schwarzer österreichischer Geschichte. Ihre transdisziplinäre Arbeit beschäftigt sich mit intersektional widerständigen diasporischen Politiken und the “decolonizing art of mattering (embodied) memories“. Sie unterrichtet derzeit an der Howard University in Washington DC. Literatur Baumgartinger, Persson Perry, 2007. queeropedia. Wien: Referat für Homobitrans-Angelegenheiten, Österreichische HochschülerInnenschaft an der Universität Wien Bratić, Ljubomir, 2013. Wird die Akademie der bildenden Künste ihre (und unsere) Freiheit künftig verteidigen? Aula der Akademie der bildenden Künste Wien zur Zeit der Einnahme der durch Aktivist:innen des Refugee Protest Camp Vienna: Aktivistische Wandpresse Davis, Angela, 2015. The Refugee Movement: News from Inside https://oplatz.net/oplatzbox-the-refugee-movement-is-the-movement-of-the-21st-century/ (Zugriff: 22.01.2023) El-Tayeb, Fatima, 2016. Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der post-migrantischen Gesellschaft. Münster: Unrast Erdheim, Mario, 1982. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Fanon, Frantz, 1974. Die Verdammten dieser Erde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Foucault, Michel, 1992. Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag Haritaworn, Jin, 2008. Shifting Positionalities: Empirical Reflections on a Queer/Trans of Colour Methodology. Goldsmiths College Sociological Research Online 13(1)1. http://www.socresonline.org.uk/13/1/13.html (Zugriff: 20.12.2022) Love, Nia. gl(host): underCURRENTS. https://www.nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 20.12.2022 Marx, Karl, 1907. The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte. Chicago: Charles H. Kerr& Company. Ringel, Erwin, 2005. Die österreichische Seele. Wien: Buchverlage Kremayr&Scheriau/Orac Sithole, Tendayi, 2020. The Black Register. Cambridge: Polity Press Wynter, Sylvia. Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation—An Argument. In: The New Centennial Review, Volume 3, Number 3, Fall 2003. S. 257–337 Yoneyama, Lisa, 2003. Traveling Memories, Contagious Justice. JAAS 6, no. 1. S. 57–93 Endnoten [1] https://www.nia-love.com/g1-host-undercurrents (Zugriff: 20.12.2022 [2] Bratić‘ Text wurde neben anderen Texten während der Einnahme der Aula der Akademie der bildenden Künste Wien durch den Refugee Protest Camp Vienna an die Wände der Akademie plakatiert. [3] Siehe Marx. (1907:71): “The can not represent one another, the must themselves be represented.” [4] Bezugnehmend auf Frantz Fanon’s einflussreiches im französischen Original 1961 erschienenes Buch: Die Verdammten dieser Erde. [5] vgl. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Parkbenennungstafel_Sigmund_Freud (Zugriff: 20.01.2023) [6] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das deutsche männlich zugeordnete „er“. Es stellt einen Teil des Versuchs dar, (für mich neue) Praktiken der Auseinandersetzung mit dem Verlernen eigener verinnerlichter, heteronormativer Logiken zu entwickeln. Das heißt, hier sprachlich die Geschlechtsidentitäten von Josephine und Angelo Soliman nicht zu fixieren und offen zu lassen. Um mit Persson Perry Baumgartinger (2007: 58) (unter vielen anderen Mitbegründer von Queeropedia und von diskursiv - Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge) zu sprechen, geht es darum: „Sprache aus der Zweigeschlechtlichkeit zu befreien. Es gibt sehr viele phantasievolle, oft sehr unterschiedliche Ideen, Realisierungen, Widerstände gegen eine Sprache, die nur Männer und Frauen kennt.“ Auf dahingehend schon erkämpfte und kreierte vielseitige Sprachpraktiken Bezug nehmend, habe ich mich aufgrund meiner Vertrautheit mit der finnischen Sprache für die Form hän entschieden. Im Finnischen ist „[…] hän allgemein das Pronomen für Personen […] (im Finnischen gibt es keine grammatischen Geschlechter).“ vgl. https://geschlechtsneutral.net/pronomen/ (Zugriff: 20.01.2023) [7] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „seiner“. [8] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „seine“. [9] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) weiblich zugeordnete binäre „ihres“. [10] Dieses (finnische) genderneutrale Personalpronomen ersetzt hier das (deutsche) männlich zugeordnete „ihn“. Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10

  • Kunstawards im Machtgefüge – Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft | Issue 4 | appropriate!

    Johanna Franke, Katrin Hassler Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Kunstawards im Machtgefüge – Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft Johanna Franke, Katrin Hassler Geographische Herkunft der Preisträger:innen nach Region und Geschlecht (Quelle: Franke, Johanna, 2022, Abbildung 5) Herkunftsländer der Preisträger:innen seit 2006 (Quelle: Franke, Johanna, 2022, Abbildung 6) „Girls run the world. That’s arguably especially true in the art world“. [1 ] Dieses Zitat des Kunstkritikers Brian Boucher ist eine gewagte These. Denn die Aussage steht im Widerspruch zu zahlreichen Aktivismen, die auf die persistenten Geschlechterasymmetrien im Kunstfeld aufmerksam machen – „Art and Feminism“, „Feminist Art Coalition“ oder auch „Mehr Mütter für die Kunst“ [2 ], um nur einige zu nennen. Boucher beruft sich hier auf die große Anzahl mächtiger und einflussreicher Kunstberaterinnen, Spezialistinnen in Auktionshäusern und Galeristinnen, die im internationalen Feld agieren [3 ]; wenngleich die Betitelung professioneller Kunstakteurinnen mit „Mädchen“ von einem eher geringen gendertheoretischen Reflexionsvermögen zeugt. Diskussionen um geschlechtsabhängige Machtverhältnisse im Kunstfeld erlangten in den vergangenen Jahren regelmäßig Aufmerksamkeit, in den Wissenschaften wie in den populären Medien gleichermaßen. Im Art Basel Report ist die Analyse von Geschlechterdifferenzen auf dem Kunstmarkt seit mehreren Jahren fester Bestandteil. [4 ] Bereits in den 1970er-Jahren diskutierte Linda Nochlin Machtstrukturen im Kunstfeld anhand von Genderkonfigurationen und der Exklusion von Frauen aus der Kunstgeschichte. Autonome Tätigkeiten werden, so die Kunsthistorikerin, von Individuen beeinflusst – die Qualität des Kunstwerks hängt von sozialen Strukturen ab. Nochlin verweist dabei auf den Ausschluss von Künstlerinnen von Kunsthochschulen und verdeutlicht, inwiefern die Tätigkeit kunstschaffender Frauen per se als dilettantisch abgehandelt wurde. [5 ] Unstrittig ist: Auch nach 50 Jahren Aktivismus und kunsthistorischem Genderdiskurs bestehen Machtstrukturen fort, die einen genderspezifischen Ausschluss von Künstlerinnen begünstigen. Sie finden sich in diversen Ausprägungen, abhängig von Akteurskonstellationen, Reputation oder auch der historischen Genese des jeweiligen Bereiches des Kunstfelds. [6 ] Inwiefern genderspezifische Machtkonstellationen auch in einer intersektionalen Verschränkung die Verleihung von Kunstawards prägen, verdeutlicht die folgende Darlegung des National Museum of Women in the Arts: „Only 29% of the winners of the Turner Prize, one of the best-known visual art awards, have been women—though several women have won over the past decade. In 2017, Lubaina Himid became the first woman of color to win.” [7 ] Bislang in der Forschung wenig beachtet zeigen sich Kunstpreise als aufschlussreicher Untersuchungsgegenstand bei der Analyse von Geschlechterasymmetrien im Feld der Kunst. Denn nicht zuletzt können solche von Museen verliehenen Preise als wirkmächtige Konsekrationsinstrumente in der Formung von Künstler:innenkarrieren begriffen werden. So lassen sich im Folgenden mittels einer Gegenüberstellung von drei renommierten Kunstpreisen deutscher Museen [8 ] – Wolfgang-Hahn-Preis (1994–2022), Preis der Nationalgalerie (2000–2021) und Kurt-Schwitters-Preis (1996–2022) – strukturelle Exklusionen im Feld veranschaulichen. Die Verleihung der Preise von 1994 bis 2022 weist interessanterweise eine ähnliche Relation auf, wie sie auch beim Turner Prize beobachtet wurde: Von 45 prämierten Künstler:innen waren 14 weiblich, woraus sich ein Künstlerinnenanteil von 33% ergibt. [9 ] Als machtvolles, strukturierendes Merkmal bei der Verleihung der Preise erwies sich neben dem männlichen Geschlecht des Weiteren eine Herkunft aus Staaten des globalen Nordwestens, wie aus Tabelle 1 hervorgeht. Weniger als ein Fünftel aller Preisträger:innen stammt aus einer nicht nordwestlichen Region der Welt. [10 ] Durchschnittlich weisen 68% der Preisträger:innen beide Merkmale auf – sie sind männlich und stammen aus den genannten Regionen. Auch eine Differenzierung nach Geschlecht bei der Gegenüberstellung der Künstler:innen mit nicht nordwestlicher Herkunft verdeutlicht eine Genderasymmetrie der ausgezeichneten Künstler:innen: Während im Durchschnitt 34% der Künstlerinnen entweder aus dem Südwesten (19%), Nordosten (10%) oder Südosten (5%) stammen, weichen die Werte bei ihren männlichen Kollegen deutlich ab. Letztere weisen zu 9% eine nicht nordwestliche Herkunft auf, 6% stammen aus dem Südwesten sowie 3% aus dem Südosten. Im Vergleich dazu stammen je nach Fallbeispiel 80% bis 100% der Künstler aus einer nordwestlichen Region, während es bei Künstlerinnen zwischen 43% und 80% sind. Wie lässt sich dieses Phänomen – immerhin eine Differenz von knapp 40 Prozentpunkten zwischen Künstlerinnen und Künstlern – erklären? Als aufschlussreich erweist sich diesbezüglich eine Untersuchung der Reputation der einzelnen Preise. Vergleicht man diverse Indikatoren wie die Position der jeweiligen Museen im Kunstfeld, das mit der Auszeichnung verbundene Preisgeld oder auch zusätzliche Konditionen wie eine mit dem Award verbundene Einzelausstellung oder eine Publikation, ergibt sich ein durchaus interessantes Bild: Das Museum mit dem höchsten Wert an nicht nordwestlichen Künstlerinnen (Preis der Nationalgalerie) ist zugleich mit dem geringsten Kapital sowie der geringsten Reputation ausgestattet. Daraus lässt sich schließen, dass Künstlerinnen nicht nordwestlicher Herkunft – vor allem aber bei einem Zusammenkommen beider Strukturmerkmale – laut der Daten eher dann mit einem Award ausgezeichnet werden, wenn dieser mit einer geringeren Reputation verbunden ist. Demzufolge erzielen Frauen insbesondere dann Präsenz im Kunstfeld mittels einer Auszeichnung, wenn der Reputationsgewinn vergleichsweise gering ist. Diese Beobachtungen verdeutlichen, dass Künstlerinnen dann eine höhere Chance auf globalen Erfolg haben, wenn sie nicht aus an kunstfeldbezogenen Ressourcen reichen Ländern stammen. Hier erweist sich ein Blick in den Global Gender Gap Report als hilfreich, der den weltweiten Gender Gap der Geschlechter analysiert. [11 ] Tabelle 2 zeigt eine an den Report angelehnte Berechnung des Mittelwerts des Rangs bzw. des dazugehörigen Scores der Herkunftsländer der Künstler:innen in den jeweiligen Verleihungszeiträumen. Für die Künstlerinnen ergibt sich ein durchschnittlicher Rang von 52 und ein Score von 0,714, für die Künstler ein durchschnittlicher Rang von 27 sowie ein Score von 0,786. [12 ] Der im Gegensatz zu den Künstlern niedrige Rang der Herkunftsländer der Künstlerinnen wird besonders durch die als prekär eingestufte Lage in Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, Mexiko, Pakistan und der Republik Korea beeinflusst, während aufseiten der männlichen Künstler nur in China ein großer Gender Gap vorzufinden ist. Dagegen beeinflussen die oberen Ränge von Dänemark, Deutschland, Kanada und der Schweiz den relativ guten bis durchschnittlichen Rang. Aus der Ranganalyse des Global Gender Gap Report lässt sich schließen, dass Erfolg im Kunstfeld für Frauen eher dann möglich ist, wenn die Profession als Künstler:in in ihrem Heimatland mit verhältnismäßig wenig gesellschaftlicher Reputation verbunden ist sowie mit vergleichsweise weniger symbolischem Kapital behaftet. [13 ] Betrachtet man darüber hinaus die Aufenthaltsorte von Künstler:innen, fällt auf, dass diejenigen, die nicht aus dem globalen Nordwesten stammen, sich meist dennoch in westlichen Kunstzentren aufhalten, um in jenen Ländern Anerkennung und Reputation zu erhalten. Ein Brain-Drain-Muster zwischen der Abwanderung aus der Peripherie ins Zentrum eröffnet demnach ein weiteres Spannungsverhältnis im Kunstfeld. Künstler:innen sollten sich in nordwestlichen Regionen und Kunstmetropolen aufhalten, um am Kunstgeschehen teilnehmen zu können. [14 ] Zusammenfassend kann durch die Auswertung der empirischen Daten zwar bewiesen werden, dass Künstlerinnen im Laufe der Zeit häufiger ein Award gewidmet wurde als zu Beginn des Verleihungszeitraums. Diese zunächst positive Entwicklung muss gleichwohl aus einer intersektionalen Perspektive neu gefasst werden: Die Herkunft aus einem westlichen Kunstfeld ist nach wie vor zentral für die Erlangung von Reputation. Diese Vormachtstellung des Westens bildet zusammen mit dem nach wie vor wirksamen Konzept des männlichen Künstlergenies die zentrale Machtkonstellation des Feldes. Diese Mechanismen, die nur zu gern einer Verschleierung unterliegen, sollten sensibel und mit einem geschärften Blick analysiert und in den Fokus gerückt werden – so positiv die verstärkte Inklusion von Künstlerinnen in die Reputationsmechanismen des Feldes bei der Verleihung von Kunstawards auch ist. Literatur Boucher, Brian, 2015. 25 Women Curators Shaking Things Up. In: ArtnetNews, March 17, 2015. Buchholz, Larissa/Wuggenig, Ulf, 2005. Cultural globalization between myth and reality: The case of the contemporary visual arts. In: ART-e-Fact: Strategies of Resistance, an online magazine for contemporary art & culture: Omnimedia D.O.O. Zagreb. Nach: Galtung, Johan, 2000. Globale Migration. In: Butterwege, Christoph/Hentges, Gudrun (Hg.), 2000. Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Dressel, Kathrin/Wanger, Susanne, 2004. Erwerbsarbeit: Zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.), 2004. Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: Springer-Verlag. S. 489–498. Franke, Johanna, 2022. Gender(a)symmetrien in der Verleihung von Kunstpreisen - Die Relevanz von Gender bei Auszeichnungen an Künstlerinnen. Masterarbeit, Leuphana Universität Lüneburg. Galtung, Johan, 2000. Globale Migration. In: Butterwege, Christoph/Hentges, Gudrun (Hg.), 2000. Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Graw, Isabelle, 2003. Die bessere Hälfte, Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts. Köln: DuMont Verlag. Hassler, Katrin, 2017. Kunst und Gender. Zur Bedeutung von Geschlecht für die Einnahme von Spitzenpositionen im Kunstfeld. Bielefeld: transcript Verlag. Hausmann, Ricardo/Tyson, Laura D./Zahidi, Saadi, 2006. Global Gender Gap Report 2006. World Economic Forum. Genf. https://www3.wefo rum.org/docs/ (visited, April 19,2022). McAndrew, Clare (2022): The Art Market 2022. https://www.artbasel.com/about/initiatives/the-art-market (visited, December 21,2022). National Museum of Women in the Arts, 2022. Get the facts. https://nmwa.org/support/advocacy/get-facts/ (visited, December 11,2022). Nochlin, Linda, [1971] 2021. Why have there been no great women artists? 50th anniversary edition. London: Thames & Hudson. Scheidegger, Nicoline/Osterloh, Margit, 2004. One network fits all? Effekte von Netzwerkcharakteristika auf Karrieren. In: Pasero, Ursula/Priddat, Birger P. (Hg.), 2004. Organisationen und Netzwerke: Der Fall Gender. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 199–226. Wetterer, Angelika, 1999. Integration und Marginalisierung. Das Verhältnis von Profession und Geschlecht am Beispiel von Ärztinnen und Juristinnen. Vortragsmanuskript/27.04.1998. FernUniversität – Gesamthochschule in Hagen. [1] Boucher 2015. [2] Siehe dazu https://artandfeminism.org/ ; https://feministartcoalition.org/ ; http://mehrmütterfürdiekunst.net/ [21.12.2022]. [3] Vgl. Boucher 2015. [4] siehe dazu zum Beispiel McAndrew 2022; siehe dazu auch Hassler 2017: 226 ff. [5] vgl. Nochlin [1971] 2021. [6] siehe dazu Hassler 2017. Die Reduktion der Geschlechtervariable auf eine weibliche und eine männliche Genusgruppe beschreibt eine paradoxe Problematik, indem ein Denken in dichotomen Geschlechterkategorien erhalten wird, das im Grunde bekämpft werden soll (siehe dazu auch Graw 2003: 10). Dieses von poststrukturalistischen wie dekonstruktivistischen Ansätzen der Geschlechterforschung zu Recht kritisch hinterfragte Vorgehen bedarf einer Erklärung. Trotz des Wissens um die soziale Konstruktion von Geschlecht zeigt sich eine Geschlechterdichotomie im Kunstfeld nach wie vor als persistent. Ausgehend von diesem Faktum liegt der Fokus der Analyse auf der Sichtbarmachung dieser geschlechtsbedingten sozialen Ungleichheiten und dichotomen Strukturen, um sie zu hinterfragen und ihnen letztlich entgegenwirken zu können. In diesem Sinne dient die Untersuchung auch dazu, den Stimmen entgegenzuwirken, die sich auf den heute ausgeglichenen Zugang zum Bildungssystem und eine gleichwertige Inklusion in professionellen Feldern berufen. Neben den zweifelsohne erfolgten Veränderungen dürfen die nach wie vor tief in unseren gesellschaftlichen Strukturen und Denkschemata verankerten dichotomen geschlechtlichen Herrschaftsverhältnisse nicht außer Acht gelassen werden. Sie können dann aufgebrochen werden, wenn sie reflektiert, entschleiert und sichtbar gemacht werden – die Studie leistet hierzu einen Beitrag. Offen bleibt eine Sichtbarmachung queerer Positionen, die in Ermangelung nutzbarer Daten in diesem Rahmen nicht dargestellt werden konnten. Ein Dilemma, das in der Forschung dringend stärkere Beachtung finden muss (siehe hierzu auch Hassler 2017: 153 ff.). [7] National Museum of Women in the Arts 2022. [8] Die Bezugnahme auf diese Preise basiert auf einem Ranking von artfacts.net , das nach dem Prestige der dort ausgestellten Künstler:innen erstellt wurde. Da in der Analyse ausschließlich zeitgenössische Künstler:innen im Fokus standen und sich die Preise nicht auf ein bestimmtes Genre beziehen sollten, wurden die drei genannten Preise ausgewählt. Siehe dazu Grafik „Die erfolgreichsten Kunstmuseen Deutschlands, ermittelt durch die Punktezahl der Künstler:innen der Sammlung“ (Daten zur Verfügung gestellt von Artfacts.net, in persönlicher Korrespondenz mit Marek Classen, 28.09.2021). [9] Die Analyse zu Genderasymmetrien von Kunstawards wurde im Rahmen einer Masterarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg im Studiengang Kulturwissenschaften von Johanna Franke vorgelegt. Siehe dazu Franke 2022. [10] Die Einteilung Northwest, Southwest, Northeast und Southeast erfolgt nach Johan Galtung. Um die Position des Westens zu analysieren, erweist sich eine Einteilung nach Regionen als sinnvoll. Galtungs Einteilung der Welt in „the four corners of the world“ bietet hierfür eine Strukturierungsmöglichkeit. Somit kann nicht nur zwischen europäischen Kunstmetropolen sowie den USA und der restlichen Welt unterschieden werden, vielmehr zwischen vier Regionen: „The ‚Northwest‘ encompasses Anglo-Saxon North America and Western Europe (countries of the EU in the borders before 2004); the ‚Northeast‘ includes the former Soviet Union, Eastern Europe, Turkey, the former Soviet republics with a Muslim majority, Pakistan and Iran. The ‚Southwest‘ comprises Latin America, Mexico, the Caribbean, West Asia, the Arab world, Africa, South Asia and India; the ‚Southeast‘ East Asia, Southeast Asia, the Pacific Islands, China and Japan.“ (siehe dazu auch Buchholz/Wuggenig 2005. Nach: Galtung 2000. [11] Der Global Gender Gap Report wird jährlich vom World Economic Forum (WEF) in Kooperation mit der Harvard Universität und der University of Berkeley veröffentlicht. Erstellt werden Länderrankings auf der Grundlage nationaler Geschlechterungleichheiten nach ökonomischen, politischen, bildungs- und gesundheitsbasierten Kriterien. Vgl. Hausmann/Tyson/Zahidi 2006. [12] Der Global Gender Gap Report ermittelt eine Punktzahl (Score) zwischen 0 und 1 zur Verdeutlichung der Geschlechtsungleichheiten. Je höher der Wert, desto geringer ist der ermittelte Gender Gap. Hinsichtlich dieses Scores werden die Länder im Ranking platziert (Rang). [13] siehe dazu auch Hassler 2017: 196. [14] Ähnliche Ergebnisse finden sich auch in der Analyse des internationalen Feldes zur Einnahme von Spitzenpositionen. Hier konnte insbesondere für Europa und Afrika eine gegenläufige Tendenz der Geschlechterasymmetrie in der Besetzung von Positionen im Kunstfeld und der vom WEF definierten globalen Geschlechterungleichheit gezeigt werden. Afrika, ein Kontinent mit relativ starken Differenzen nach Geschlecht, wies in der Analyse einen vergleichsweise hohen Künstlerinnenanteil im Spitzenfeld der Kunst auf. In Europa, einem Kontinent mit relativ geringer Ungleichheit nach Geschlecht, bestand hingegen eine verhältnismäßig schwache Inklusion von Künstlerinnen. Im Anschluss an Konzepte der vertikalen Segregation ließ sich im Hinblick auf diese entgegengesetzte Ausrichtung der globalen und der kunstfeldbezogenen Geschlechterasymmetrie schlussfolgern, dass Künstlerinnen insbesondere dann Präsenz im Kunstfeld erhalten, wenn vergleichsweise geringe Chancen vorliegen, über diesen Beruf Reputation und Macht zu erlangen (siehe dazu Hassler 2017: 195 ff). Katrin Hassler (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt in der Kunstsoziologie und den Gender Studies, ist Mitarbeiterin im Projekt Geschlechteraspekte im Blick sowie Referentin für Karriereentwicklung von Wissenschaftlerinnen an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie lehrt an der Leuphana sowie an der NABA (Nuova Accademia die Belle Arti) in Mailand. Johanna Franke ist Kulturwissenschaftlerin und studierte in Hildesheim, Lüneburg und in Finnland mit den Schwerpunkten Kunst- und Medienwissenschaften. In ihrer Abschlussarbeit analysierte sie Genderasymmetrien im zeitgenössischen Kunstbetrieb und Machtgefüge von Kunstawards. Als Projektmanagerin in einer Kreativagentur beschäftigt sie sich mit digitalen Technologien wie Augmented Reality und Virtual Reality sowie immersivem Storytelling für Unternehmen und Kulturinstitutionen. 1 Anker 1 Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14

  • Illumination des Landtages

    English version KUNSTPROJEKT IM RAHMEN DES 75. JUBILÄUMS AM NIEDERSÄCHSISCHEN LANDTAG Projektion von Videostatements https://enlightening-the-parliament.de

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